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Etwa fünfzehn Züge
Der Bus kommt in sieben Minuten, deshalb zünde ich mir eine weitere Zigarette an und warte. Mein Takt muss sich einem höheren Versmaß unterordnen. Ich atme den Rauch ein und versuche, den Vorbeilaufenden nicht den Qualm entgegenzublasen. Je jünger der Passant, umso größer meine Vorsicht.
Die Bushaltestelle ist lediglich durch ein Schild und eine digitale Anzeige der Abfahrtszeiten gekennzeichnet. Kein Unterschlupf, der vor Wind und Wetter schützt. Doch ob der milden Temperatur fallen die Unzulänglichkeiten der Haltestelle heute nicht ins Gewicht, und ich genieße die womöglich letzten Sonnenstrahlen dieses Jahres. Ich betrachte rauchend meine Stiefel. Sie gefallen mir immer noch. Das Veloursleder ist an manchen Stellen leicht angelaufen, aber größere Flecken konnte ich bisher vermeiden. Eine Sekunde der Unachtsamkeit in der Küche genügt oftmals, um ein Paar Schuhe grotesk zu entstellen. Der Schaden ist selten zu beheben.
Ich blicke hoch von meinen Schuhen, auf die andere Straßenseite. Ein Paar streitet sich. Die große blonde Frau hat die linke Hand in die schmale Hüfte gestemmt und ihr rechter Arm gibt den Rhythmus ihrer Anschuldigungen vor. Der Empfänger ihrer Vorwürfe ist ein leicht untersetzter Mann, wie seine Partnerin in den Dreißigern. Er schaut entnervt in alle Himmelsrichtungen, um dem Blick der Frau zu entgehen. Stammelnd versucht er, die öffentliche Demütigung herunterzuspielen. Das unbehagliche Gefühl, das der Anblick des Streits in mir hervorruft, hält zum Glück nicht lange an.
„Weißt du was, vergiss es.“ Die Frau macht kehrt, verschwindet um die nächste Straßenecke und der Mann eilt ihr nach.
Ich hatte das Paar schon vor ihrer Auseinandersetzung bemerkt, als die beiden noch im gegenüberliegenden Café saßen und der Kellner sie abkassierte. Sie hatten nicht den Anschein gemacht, als ob ein unmittelbares Zerwürfnis bevorstünde. Ich frage mich, was der Mann in dieser kurzen Zeit getan hat, um seine Freundin derart zu verletzen.
Ich blicke auf die Anzeige, noch vier Minuten. Meine Zigarette ist zur Hälfte abgebrannt und ich wünschte, ich hätte sie jetzt erst angezündet. Von links kommt eine Frau mit ihrem kleinen Sohn angelaufen und ich trete einen Schritt zurück, um sie vorbeizulassen. Doch noch bevor die beiden auf meiner Höhe angelangt sind, stolpert der Kleine vornüber und schlägt auf dem Asphalt auf. Uns umstehende Passanten durchläuft ein kollektives Zucken, um den Sturz des Kindes zu verhindern, doch nun schauen alle lediglich auf den kleinen Menschen, der am Boden liegt.
Der Junge kann die Situation für den Bruchteil einer Sekunde noch nicht einordnen und blickt verwirrt nach vorne. Dann überkommen ihn Scham und Schmerz und der rotanlaufende Kopf lässt einen jämmerlichen Schrei los. Die Mutter hebt ihren Sohn umgehend auf die Beine und begutachtet das aufgeschlagene Knie.
„Alles gut, alles gut.“ sagt die Mutter und greift nach einer ungeöffneten Wasserflasche in ihrem Rucksack, mit der sie kurz darauf die Wunde ausspült. Der Junge schreit noch lauter. Eine ältere Dame kramt eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche, die die Mutter sogleich entgegennimmt.
„Dankeschön.“
Die Frau hebt ihren weinenden Sohn auf den Arm, und läuft, ihm das Taschentuch auf das blutende Knie drückend, an mir vorbei. Ich sehe den beiden nach und erinnere mich an den brennenden Schmerz, den so eine Wunde selbst noch nach Tagen hinterlässt.
Ich ziehe ein letztes mal an meiner Zigarette, drücke sie auf dem Boden aus und gehe zwei Schritte, um sie in den Mülleimer zu schmeißen. Die Anzeige liest drei Minuten.
Es drängt sich eine Erinnerung auf, die lange begraben lag. Ich denke an den einzig erwähnenswerten Lego-Turm, den ich je gebaut habe. Ich kann nicht älter als sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein. Stein um Stein schichtete ich das Bauwerk auf, bis ich mich schließlich strecken musste, um meine Spielfigur auf die Spitze zu setzen. Ich hatte einen kompletten Vormittag damit verbracht, einen Turm zu bauen, der so gotteslästerlich hoch war, dass ich die Katastrophe wohl provozierte. Noch am selben Tag stieß unser Dalmatiner Merlin das Ergebnis meiner stundenlangen Arbeit mit einer einzigen hektischen Bewegung um, sodass der Turm in seine Einzelteile zerfiel. Ich war zu wütend, um wieder von vorne anzufangen.
Der Bus kommt um die Kurve gefahren und ich versuche abzuschätzen, ob ich einen Sitzplatz bekommen werde. Ich sehe noch ein paar freie Plätze, doch mit mir warten einige ältere Menschen auf den Bus. Ich freunde mich mit dem Gedanken an, die nächsten zwanzig Minuten Fahrt stehend hinter mich zu bringen. Der Bus hält mit einem Zischen einige Meter von dort entfernt, wo ich stehe und ich beeile mich nicht, als erster bei der Tür zu sein. Während die Dame vor mir unter Anstrengung in den Bus steigt, blicke ich erneut auf meine Schuhe und erinnere mich daran, dass ich heute beim Kochen besonders vorsichtig sein muss.