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Evolution
Er hatte die Gabe. Er hatte es schon öfter gespürt, doch so stark wie jetzt war es noch nie gewesen.
Suchend ließ er seinen Blick über die Ruinen der strahlenden Stadt gleiten und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. Nicht weit von ihm entfernt lagen Mauerreste.
Zögernd streckte er seine verkrüppelte Hand aus, schauderte selbst über deren abnorme graue Farbe und richtete seine drei Finger auf einen der Mauerbrocken; knickte die Gelenke, als würde er die Mauer umfassen.
Er spürte wie ihn eine Kraft durchfuhr; eine Kraft die nicht von seinem schmächtigen Körper ausging, sondern von seinem Kopf.
Sie breitete sich aus seinem unnatürlich aufgeschwemmten Gehirn über die Arme bis in die Fingerspitzen aus. Fast glaubte er zu sehen, wie die Kraft von dort auf die tote Mauer übersprang und sie erfasste, fest umschloss.
Nur ganz leicht musste er die Hand heben und die Mauer folgte ihm wie von Zauberhand; erhob sich langsam und knirschend aus dem radioaktiven Staub.
Schweiß perlte auf seiner Stirn, sein Arm wurde schwer und die Energie drohte zu verblassen.
Mit einem unterdrückten Aufschrei schloss er seine drei Finger zur Faust; die Mauer zerbarst in tausende Stücke, nur wehende Staubfahnen blieben zurück.
Erschöpft sank er in die Knie. Er konnte sich nicht erinnern, je in seinem Leben so müde gewesen zu sein, und dabei noch so zufrieden.
Er hatte die Gabe tatsächlich.
Und was willst du nun damit anfangen?, fragte eine Stimme.
Erschrocken fuhr er herum. Er hatte die Stimme nicht gehört, aber doch vernommen… Und er wusste genau, dass der Sprecher hinter dem nächsten Häuserblock stand.
Tatsächlich schlurfte eine Gestalt in zerrissener Kleidung hinter den Ruinen hervor und auf ihn zu.
Es war ebenfalls ein Strahlenkranker, ein Verkümmerter. Natürlich: Niemand der alle seine Sinne beieinander hatte, würde sich so tief in die verstrahlten Zonen hineinwagen.
„Wer bist du?“, rief Feyran.
Warum sprichst du wie ein Normaler mit mir? Wir haben bessere Wege gefunden miteinander zu kommunizieren. Such in meinem Geist nach meinem Namen.
„Wie soll ich das machen?“
Du hast gerade demonstriert, dass du eine starke Gabe hast. Nicht jeder schafft es beim ersten Mal eine ganze Mauer zu vernichten. Vertrau auf deinen Körper.
Feyran starrte den verkümmerten Mann an, der nun bereits bis auf wenige Meter an ihn herangekommen war. Dessen große, durch und durch schwarze Augen schienen ihn zu durchdringen.
Kannst du mich hören? , sagte – nein: dachte! – Feyran.
Kannst du mich hören, Kahrun?
Der schmale Mund des Alten formte sich zu einem Lächeln
Ja, besser als würdest du mit deinem Mund reden.
Eine kurze Pause entstand.
Möchtest du dich uns anschließen?
Feyran musste nicht nachfragen. Er hatte von denen gehört, die ebenfalls die Gabe hatten und die Normalen bekämpften: Außerhalb der Toten Zonen, in den lebenden Städten.
Wir sind schwach. Die Normalen haben Waffen! Sie haben die Garde! Was sollen wir gegen diese Unternehmen?
Der Alte lächelte schief und deutete wie Beiläufig auf eine weiter entfernte Ruine. Konzentriert schloss er die Augen und streckte die Finger in einer Gerade von sich. Kurz darauf schienen die Überreste des Gebäudes förmlich zu explodieren.
Wir sind nicht schwach, Feyran. Keine Kraft der Normalen kann uns aufhalten. Wir sind der nächste Schritt auf der Leiter der Evolution.
Er lachte auf – zum ersten Mal, dass er einen Ton von sich gab.
Sie haben uns in diese Wüsten geschickt und nun kommen wir gestärkt daraus zurück. Alle, die wir die Gabe besitzen, sammeln sich. Für einen großen Schlag gegen unsere Unterdrücker!
Wir haben es satt nur billige Arbeitskräfte zu sein, wie Aussätzige behandelt zu werden!
Mit den Worten Kahruns erwachte Feyrans Wut. Er kannte die Gefühle, die der Alte ansprach, auch wenn er erst heute seine Gabe wirklich entdeckt hatte.
Seine Mutter hatte sie ebenfalls besessen und war von allen gemieden worden; diese Isolation hatte sie schließlich, trotz ihrer Religiosität, in den Selbstmord getrieben.
Ja, ich werde euch helfen, Kahrun. Wir werden die Normalen bekämpfen!
Und wir werden siegen!, fügte der Alte grinsend hinzu.
Feyran nickte und tief in seinem Innersten wusste er, dass es genauso kommen würde. Kahrun hatte recht: Sie waren der nächste Schritt auf der Leiter der Evolution.
Die Normalen waren zum Aussterben verurteilt. Und wenn es die Natur nicht schnell genug schaffte, dann würden sie eben ein wenig nachhelfen müssen.