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Fünf vor Zwölf kann endlos dauern

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04.04.2008
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Fünf vor Zwölf kann endlos dauern

Fünf vor Zwölf kann endlos dauern

Es ist gleich achtzehn Uhr. Ich bin um zwölf Uhr aufgestanden und werde um einundzwanzig Uhr ins Bett gehen, kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der Tag zu zwei Drittel geschafft ist. In der Rückschau ist zu bemerken, dass er einer der erträglicheren war.
Für die verbleibenden drei Stunden erwarte ich keine Katastrophen mehr.
Ein Tag, der uninteressiert an mir vorbeizieht und mich nicht weiter behelligt, ist ganz nach meinem Geschmack.
Ich heiße Norbert Werdes, bin einundvierzig Jahre alt, verheiratet und habe einen vierzehnjährigen Sohn. Leon geht zum Gymnasium und ist ein ordentlicher Junge, der uns nur Freude bereitet. Er lernt fleißig und hat keine Flausen im Kopf.
Ich habe eine gute Ehefrau mit einem Halbtagsjob bei Ikea, der zwar nicht viel Geld einbringt, ihr aber Einkäufe zu günstigen Konditionen ermöglicht. Unsere 3,5- Zimmer- Wohnung mit Balkon ist immer hübsch dekoriert. Das macht Rita.
Ich selbst bin von Beruf Busfahrer, mit einer Vorliebe für phantastische Literatur, wenn es meine Zeit erlaubt.
Der Einser, mein Bus, hat eine der schöneren Strecken in unserer Stadt. Ich liebte es, durch die schnurgerade Kastanienallee in Richtung Bahnhof zu fahren. Noch heute kenne ich die Haltestellen auf der Strecke auswendig und erinnere mich genau an meine täglichen Fahrgäste. Ich war für meine Pünktlichkeit bekannt, bei mir verpaßte niemand seinen Regionalexpress.
Wir hatten wirklich ein gutes Leben.

Doch das gehört der Vergangenheit an. Seit vierzehn Monaten gelte ich als psychisch krank, seit drei Monaten bin ich frühberentet. Ich selber halte mich nicht für krank, doch mein Psychiater, Dr. B., erklärte mir damals freundlich, dass dies eher als Symptom zu werten sei. Da er mir sympathisch war und ich höflich sein wollte, stimmte ich erst einmal zu, blieb aber skeptisch.
Meine Diagnose lautet: schwere, wahnhafte Depression bei zwanghafter Persönlichkeitsstruktur. Wie gesagt, so steht es auf dem Papier.
Vor gut achtzehn Monaten begann die wichtige Veränderung.
Es war ein Herbsttag mit tiefstehender Sonne und ich lenkte meinen Bus durch die Allee. Ich mochte es nicht, wenn das Sonnenlicht durch die Blätter flirrte und hatte die Blende heruntergeklppt. Ein Busfahrer darf sich nicht ablenken lassen.
Meine Fahrgäste hingen ihen Gedanken nach, sie fühlten sich bei mir sicher.
In der letzten Rechtskurve schwamm plötzlich ein schwarzes, flatterndes Band durch die Luft. Es zog von links nach rechts an meiner Panoramascheibe vorbei, tänzelte auf und nieder und absorbierte das Licht.
Ich stoppte verwundert, und die Hydraulikbremse senkte den Bus zischend ab.
Das schwarze Band war inzwischen zum rechten Rand der Frontscheibe gewandert und löste sich vor meinen Augen in Nichts auf. Einen Moment starrte ich ungläubig auf die Stelle, doch ich sah nur die bunten Blätter und einen Streifen Gras am Straßenrand.
Am nächsten Tag ging ich zum Augenarzt und erzählte ihm von meinem Erlebnis. Er sagte, es könne sich schlimmstenfalls um eine beginnende Netzhautablösung handeln. Nach gründlicher Untersuchung stellte sich heraus, dass meine Augen völlig in Ordnung waren. Der Augenarzt riet mir, mich vitaminreich zu ernähren und ausreichend zu schlafen, und ich ging erleichtert nach Hause. Auch meine Frau war sichtlich froh. Gute Augen sind für einen Busfahrer unerlässlich.
Als ich nach zwei freien Tagen wieder in die Kurve einbog, sah ich das schwarze Band schon an der linken Seite senkrecht in der Luft stehen. Mir war, als habe es dort auf mich gewartet, denn jetzt kräuselte es sich kurz, um dann waagrecht an meiner Scheibe vorbeizutanzen. Und wieder legte es einen Schleier über die Blätter und schluckte das Licht.
Diesmal bremste ich so heftig, dass meine Fahrgäste unwillig aufmuckten. Ich drehte mich um und fragte den Mann, der direkt hinter mir saß, ob er das Band sehen könne, doch er starrte nur durch die Scheibe und tippte sich kopfschüttelnd an die Stirn. Ich solle mal schnellstens zum Augenarzt gehen, riet er mir, es sei ja gefährlich, mit mir zu fahren. Ich stimmte ihm zu und sah, wie sich das schwarze Band am rechten Rand auflöste, wobei es mir mit einem Schlenker zuzuwinken schien.
Ich redete nicht mehr darüber, auch mit Rita nicht. In der folgenden Nacht begannen die Schlafstörungen. Ich war stets froh gewesen, dass ich trotz des Wechseldienstes gut schlafen konnte, doch nun stand ich nachts mehrmals auf, schlich mich auf den Balkon und suchte nach einer Erklärung. Dabei zupfte ich die welken Blätter aus den Geranien, goss ein wenig Wasser nach und stellte die Kanne parallel zur Seitenwand, damit ich nicht über sie stolperte. Da ich natürlich zu keinem Ergebnis kam und mein übermüdeter Geist die Erregung steigerte, stellte ich in einer der folgenden Nächte fest, dass ich die Umrisse der Sterne in bestechender Schärfe sehen konnte. Überdeutlich die Ränder und Begrenzungen, die strahlende Venus stand wie ausgeschnitten am Himmel. Mir war klar, dass dies auf den Schlafmangel zurückzuführen war, doch plötzlich wußte ich, dass schon der Schlafmangel ein wichtiges Zeichen war, genau wie das Band. Wenn ich meine übermüdeten Augen schloss, sah ich mich aus der Perspektive eines Astronauten: ein winziger Punkt auf der konvexen Krümmung der Erde.
Der Mann im Pyjama, der auf seinem Balkon den Schlaf ersehnte. Ein Wächter, bereit, mehr zu sehen und zu hören als der geschäftige Tag zulassen würde. Ein stiller, zufriedener Mensch, der die Natur liebte und dankbar für sein Leben war. Ein zuverlässiger, ordnungsliebender Mann, der seine Fahrtroute im Schlaf kannte und die Fahrgäste verantwortungsvoll zu ihrem Ziel brachte. Der zur Entspannung ab und zu in phantastische Welten reiste. Wenn irgendjemand im Universum eine Aufgabe für mich bereithielt, so hatte er mich vielleicht gerade wegen dieser Eigenschaften ausgesucht. Und das war die einzig vernünftige Erklärung. Gut, dass ich nicht darüber geredet hatte! Ich war bereit und auf der Hut.
Der Schlafmangel versetzte mich in einen euphorischen Zustand. Ich würde ein Zeichen erhalten, ich dürfte es nicht verpassen. Rita bekam meine nächtlichen Wanderungen mit und war sogar einmal aufgestanden, als ich um drei Uhr die Küchenschränke polierte und den Herd schrubbte. Sie bestand darauf, dass ich mir frei nehmen und zum Arzt gehen sollte. Da ich ihr Mißtrauen nicht wecken wollte, tat ich ihr den Gefallen.
Dem Arzt erzählte ich nur von den Schlafstörungen, und er sagte, es sei ja wohl fünf vor Zwölf, denn ein unausgeschlafener Busfahrer stelle eine Gefahr für den Verkehr dar. Ich stimmte ihm zu, nahm das Rezept für die Einschlafhilfe und warf es unterwegs weg. Schließlich wollte ich für wichtige Signale bereit sein.
Am folgenden Abend lag ich auf der Couch, die Tagesschau hatte gerade begonnen. Halb dösend sah ich Leichen und Verwundete, rennende Männer, die Maschinengewehrsalven durch die staubige Luft ratterten, und zerbombte Häuser, die den verängstigten Zivilisten nur unzureichenden Schutz boten, als Rita eine gestreifte Keramiktasse mitten in mein Blickfeld stellte. Eine Ikea-Errungenschaft, teilte sie mir mit, sie habe noch vier weitere, mit passenden unifarbenen Untertellern, süß, oder? Mir war sie viel zu bunt, doch mit unifarbenem Unterteller mochte es wohl gehen.
Noch während sie redete, wölbte sich die Tasse vor meinen Augen und die Streifen wurden breiter. Gleichzeitig konnte ich vom Fernseher nur noch den oberen rechten Bildausschnitt sehen, und die Soldaten, die auf einer unsichtbaren Linie fast senkrecht hoch in die Ecke eilten und sich dann hastig in die Tasse fallen ließen.
Rita hatte ihr Strickzeug genommen und die Füße hoch gelegt. Ihre Stimme wurde leiser, sie schrumpfte auf die Größe eines Playmobilpüppchens und näherte sich mit großer Geschwindigkeit der Fußleiste.
Vor meinen Augen wackelte die Tasse, denn sie war bis zum Rand mit zappelnden Soldaten gefüllt und aus dem Fernseher sprangen immer mehr. Ich setzte mich mit einem Ruck auf und griff mit beiden Händen nach der Tasse. Ein schmerzhaftes Ziehen ging durch meinen Kopf und die Soldaten schnitten mir Grimassen, klatschten in die Hände, formten ihre Münder zu riesigen Ohs oder bleckten die Zähne. Da war es, das Zeichen!
Rita schimpfte ärgerlich, dass ich doch aufpassen solle, sonst würde ich mir den Tee über das Hemd kippen. Sie saß wieder strickend neben mir, im Fernseher hielt die Bundeskanzlerin gerade eine Rede über mögliche Steuersenkungen im nächsten Jahr, und in der Tasse schwappte der Pfefferminztee. Panik ergriff mich, weil ich nichts verstand und vor Anspannung begann ich zu weinen.
Rita ließ erschreckt ihr Strickzeug fallen und setzte sich zu mir. Sie umarmte mich, doch ich schlug die Hände vors Gesicht und konnte nicht aufhören zu schluchzen. Leon war gerade hereingekommen und fragte amüsiert, ob ich wieder einmal die Schuhe im Flur in Reih und Glied aufgestellt hätte, brach aber sofort ab, als er mich sah. Ich hasste es, vor meiner Familie zusammenzubrechen, doch eine unbestimmte Angst schnürte mir die Luft ab.
Ich verstand die Zeichen nicht!
Später, im Bett, erzählte ich Rita behutsam von meiner Vermutung, denn mir war die Idee gekommen, dass sie vielleicht eingeweiht war. Gehörte Rita dazu? Sie schwieg lange und ich merkte, dass sie die Luft anhielt.
In dieser Nacht stand ich nur ein Mal auf und erkannte, dass die unterschiedlichen Schattierungen des sternenlosen Firmamentes ein Wort bildeten: Liebe. Ich sah deutlich die Begrenzungen zwischen Schwarz und Grau und buchstabierte das Wort mehrmals, um jeden Irrtum auszuschließen. Es stimmte, und eine erlösende Ruhe überkam mich.
Am nächsten Vormittag wurde mir klar, dass Rita nicht eingeweiht war. Sie hatte in aller Frühe lange telefoniert, sich frei genommen und einen Termin bei Dr. B. für mich vereinbart. Sie machte sich Sorgen, deshalb ging ich mit ihr hin. Arme Rita! Sie wartete übermüdet im Vorzimmer auf mich. Dr. B. kam mir entgegen, sein Händedruck war fest und trocken, er hatte gütige Augen. Ich mochte ihn sofort und erzählte die Ereignisse der letzten Tage in chronologischer Reihenfolge. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich mit dem Erzählen fertig war, griff er nach dem Rezeptblock und sagte, während er schrieb, dass es ja wirklich fünf vor Zwölf sei für mich, da müsse dringend was getan werden. Er schrieb mich auf unbestimmte Zeit krank und erklärte mir seine Diagnose. Ein Antidepressivum und ein niederpotentes Neuroleptikum sollten helfen, die Wahnvorstellungen, wie er es nannte, verschwinden zu lassen. Er bot mir Therapiesitzungen an und wollte mit mir über meine Kindheit und die Herkunftsfamilie reden. Bis zur ersten Sitzung sollte ich einen ausführlichen Lebenslauf schreiben. Rita gab er für alle Fälle eine Einweisung für die Psychiatrie mit, falls es gar nicht anders ginge, und erklärte ihr genau, wie ich die Tabletten zu nehmen hätte. Bevor wir die Praxis verließen, ordnete ich noch rasch die Zeitungen im Vorzimmer. das würde den Doktor sicher freuen.
Als wir die Treppen hinunterstiegen, schwebten die Twintowers in Miniaturform vor mir her, doch beim Verlassen des Hauses lösten sie sich in winzige Kristalle auf, die auf der Erde zerplatzten. Rita meinte, ich solle jetzt aufhören, dieses Science-Fiction-Zeugs zu lesen, davon würde alles noch viel schlimmer.

Nun, ich nehme die Tabletten regelmäßig, und mit dem Schlafen habe ich kein Problem mehr. Zu Dr. B. gehe ich nur noch sporadisch. Mit meinem Lebenslauf war wohl alles in Ordnung, er hat jedenfalls nichts Bemerkenswertes gefunden. Insgesamt geht es mir recht gut. In den letzten Wochen begleitet mich eine kleine Weltkugel durch den Tag. Sie tanzt zitternd auf einer unsichtbaren Wasserfontäne und ich sehe mit Besorgnis, dass die hellen Flächen, die die Kontinente zeigen, von Tag zu Tag schrumpfen und ausgefranste Ränder bekommen. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich Verschiebungen, die wahrscheinlich durch untergegangene Städte und Länder entstehen. Heute Mittag war Holland nicht mehr da und Südfrankreich eine riesige Wüste.
Ich will aber Rita und Leon nicht beunruhigen, deshalb entlaste ich meine Frau und halte den Haushalt tipp-topp. Ansonsten schweige ich. Es ist besser, wenn sie an meine Krankheit glauben, Rita blüht geradezu auf, seit sie sich so hingebungsvoll um mich kümmern kann. Es scheint ihr ohnehin solides Selbstbewusstsein zu verfestigen.
Gestern saßen wir vor dem Fernseher und ein dicker Minister sagte, es sei fünf vor Zwölf für unsere Erde. Leon war genervt und meinte spöttisch, wie lange fünf vor Zwölf denn dauern könne, schließlich sage das jeden Tag irgendwer und dann passiere ja doch nichts.
Ich antwortete lächelnd, dass fünf vor Zwölf endlos dauern kann und legte den Arm um meinen Sohn.
Ich werde bereit ein.

 

Hey Jutta

Als ich die Geschichte zu Ende gelesen habe, hab ich mich an dieses Zitat hier erinnert:
„Die Geisteskrankheit ist die gesunde Reaktion auf eine kranke Welt.“ R. D. Laing

Jedenfalls habe ich die Geschichte für mich so interpretiert, ein total normaler Mann wird auf einmal krank und den Grund erfährt der Leser dann Stück für Stück, wobei du auch nicht genau erklärst, was nun der Grund ist. Mit der Arbeit scheint er ja zufrieden sein, da hat er keinen Stress, die Familie (Frau u. Sohn) scheinen ihm auch keine Probleme zu machen, dann bleiben die Medien nur noch. Die eine Szene mit der Tagesschau könnte die Antwort geben, aber daran glaube ich auch nicht so richtig, und dann ist da noch seine "phantastische Literatur", die für die Ehefrau der Grund seiner psychischen Probleme ist. Aber daran kann ich auch nicht so richtig glauben, ich frage mich immer noch, was es wirklich ist. Vielleicht sind es all diese Sache, die zusammen kommen und ihn wirklich überforden. Er steht ja auch in der Nacht auf und räumt erstmal auf, putzt und schrubbt. Mir hat es gefallen ihm dabei zu zu sehen, wie verrückt er langsam wird, wobei für mich das ganze noch zu ruhig und harmlos geschildert war, denn so richtig verrückt wird er nicht. Er halluziniert, aber das bleibt ja noch in einem relativ "gesunden" Rahmen, finde ich. Solange er seinen Mitmenschen nichts antut. Ich sag das jetzt einfach so. Aber natürlich ist das schrecklich, was mit dem Mann passiert und traurig und man wird nachdenklich, wieso so ein normaler Mann plötzlich aus seiner Welt gerissen wird und in seiner Psyche gestört wird.

Zu der Umsetzung: Also der Verlauf bzw. der letzte Teil hat mir nicht so gefallen, da fällt ein eindeutiger Höhepunkt. Es ist auch ein sehr passives Erzählen, aber okay, das ist nicht wirklich das Problem und das passt auch zu dem Thema, trotzdem ist für mich der Spannungsbogen nur minimal vorhanden, das ist Schade, gerade bei so einem Thema. Ich will jetzt nicht so etwas wie "The Shining" sehen, aber etwas verrückter kann es ruhig sein.
Vielleicht ist aber auch genau das deine Kritik, dass jemand, der vielleicht mehr sieht, oder glaubt, mehr zu sehen, gleich für verrückt erklärt wird.

Ich heiße Norbert Werdes, bin einundvierzig Jahre alt, verheiratet und habe einen vierzehnjährigen Sohn. Leon geht zum Gymnasium [...]
Meine Frau Rita ist neununddreißig, tüchtig und bodenständig, mit einem Halbtagsjob bei Ikea, der zwar nicht viel Geld einbringt, [...] Unsere 3,5- Zimmer- Wohnung mit Balkon ist immer hübsch dekoriert.
Das ist in Geschichten für mich so grausam. Ich hasse das in Filmen und in Geschichten, so etwas sollte verboten werden, dieses sich vorstellen. Das ist eine billige Art der Charaktereinführung und hilft mir in keinster Weise. Da wird einfach nur ein Steckbrief angefertigt, zuviele Informationen gegeben, die ich mir eh nicht merken kann und will. Das ist für mich echt ein No-Go in Geschichten. ;)

Ich stimmte ihm zu, nahm das Rezept für die Einschlafhilfe und warf es unterwegs weg. Schließlich wollte ich für wichtige Signale bereit sein.
Ab da wars eigentlich klar, der Kerl ist bisschen plemplem. Wobei der zweite Satz nicht wirklich zu der Figur passt. Also "auf Signale warten", das erzählen immer diese Verrückten, die meinen, sie wären von Aliens geschwängert worden. ;)
Nun, ich nehme die Tabletten regelmäßig, und mit dem Schlafen habe ich kein Problem mehr.
Ab da habe ich nur noch enttäuscht weiter gelesen, weil ich wusste, dass da kein Höhepunkt mehr kommen wird, denn genau vor dieser Szene gehört mindestens eine Erhöhung der Spannung, irgendein Konflikt.
Wobei das könnte natürlich auch zu der Idee der "tickenden Bombe"/"fünf vor zwölf" passen, dass der Prot. irgendwann einfach mal austickt.

Du siehst, die Geschichte lässt viel Interpretationsmöglichkeiten offen und man grübelt wirklich über das Leben von diesem Mann. Deshalb hat mir die Geschichte auch ganz gut gefallen, zumal sie flüssig geschrieben ist und ich nicht ins Stocken kam.

JoBlack

 

Hallo Jutta!

Fünf vor Zwölf kann endlos dauern
Der Titel geht so nicht. Ist an sich wirklich ein guter Titel, so aber nicht richtig. Entweder: Fünf vor zwölf kann ewig dauern oder: Fünf vor zwölf kann endlos sein. Zwölf in jedem Fall klein, und endlos dauern klingt für mich sehr schräg, aber vielleicht ist das Auffassungssache.

Der Einstieg bis

Für die verbleibenden drei Stunden erwarte ich keine Katastrophen mehr.
ist wirklich gut. Der Satz ist total stark. Und da baut sich auch so eine Erwartungshaltung auf, die sich dann leider nicht so richtig erfüllt. Wo bleiben denn die Katastrophen? Daran krankt es in der Geschichte ein bisschen. Das, was du schilderst, kann an und für sich ruhig so bleiben, wobei eine Steigerung aber schon wünschenswert wäre. Was mir fehlt, ist die Innenansicht des Erzählers. Das wird immer nur kurz angerissen. Du präsentierst viel von dem, was er sieht, seine Wahnvorstellungen usw., aber ich mein (ich kann da nur von mir ausgehen), wird man da nicht hysterisch irgendwann mal? Was mir fehlt ist so ein "Ausraster", wenn du verstehst was ich meine. Da bläht sich unheimlich viel Druck auf und er kann nicht entweichen, den Eindruck hatte ich jedenfalls, weil du mit der Innenansicht sehr sparsam umgehst. Das ist auf jeden Fall noch ausbaufähig.

Und die ganze Vorstellungspassage ist wirklich nicht so schön, da muss ich Jo recht geben. Ich mag das auch nicht besonders in Geschichten, so ein simples "Ich heiße soundso und wohne in Schlagmichtot", aber es ist mir schon klar, was du damit bewirken willst. Dieses nüchterne Auflisten von Fakten und das darauf folgende Absurde, das könnte schon einen guten Kontrast darstellen, aber das nutzt du leider nicht richtig. Das Ganze könnte noch ein bisschen extremer sein, wie gesagt. Da du im folgenden Teil eher zurückhaltend erzählst, ist dieser Kontrast nur sehr schwach und deshalb wirkungslos.

Meine Diagnose lautet: Schwere, wahnhafte Depression
Nach dem Doppelpunkt gehts klein weiter, das ist kein vollständiger Satz.
In der letzten Rechtskurve schwamm plötzlich ein schwarzes, flatterndes Band durch die Luft. Es zog von links nach rechts an meiner Panoramascheibe vorbei, tänzelte auf und nieder und absorbierte das Licht.
Ich stoppte verwundert, und die Hydraulikbremse senkte den Bus zischend ab.
Die ganze Busfahrtssache ist für mich so eine Szene, da könntest du so viel mehr draus machen. Die Reaktion des Erzählers finde ich ein bisschen schwach, es kann ruhig ein bisschen mehr sein. Wieso versucht er nicht, das Band wegzublinzeln? Es gelingt ihm dann nicht, er macht ne Vollbremsung, kneift die Augen zusammen, reißt das Lenkrad rum, irgendeine Reaktionskette in der Art, das hätte ich plausibler gefunden. Aber er bremst halt einfach nur. Das finde ich ein bisschen wenig. Es muss ja nicht gleich hollywoodlike sein, mit quietschenden Reifen und Frontalkarambolage, das meine ich gar nicht. ;)
um dann waagrecht an meiner Scheibe vorbeizutanzen.
waagerecht
eines Astronauten: Ein winziger Punkt
Das gleiche wie oben, klein weiter. Die Szene gefällt mir übrigens sehr gut.
stelle ein Gefahr für den Verkehr dar.
eine Gefahr
und die Füße hoch gelegt.
hochgelegt
Es gibt eine Theorie, die besagt, wenn jemals irgendwer genau rausfindet, wozu das Universum da ist und warum es da ist, dann verschwindet es auf der Stelle und wird durch etwas noch Bizarreres und Unbegreiflicheres ersetzt.
Es gibt eine andere Theorie, nach der das schon passiert ist.
( D. Adams, Das Restaurant am Ende des Universums)
Das würde ich entweder an den Anfang setzen oder ganz weglassen. Nach dem Schluss wirkt das wie eine nachgestellte Erklärung und killt ein bisschen das Ende. Ist ungünstig.

Dein Stil gefällt mir wirklich gut, die ganze Art zu erzählen. Du versuchst auch nicht so, das ganze so ultradramatisch und traurig darzustellen, die Herangehensweise an das Thema gefällt mir ziemlich gut, dieses Lockere und leicht Ironische. Aber wie schon gesagt, insgesamt gesehen fehlt mir noch ein bisschen was, und es würde sich echt lohnen, das noch auszubauen.

Liebe Grüße,
strudel

 

Hallo Jo und Strudel,
danke fürs Lesen und die Kommentare. Das Zitat von Laing ist mir auch bekannt, für die Geschichte paßt es natürlich. Worauf es mir ankommt, ist eben nicht das große "verrückte" Trara, sondern die sich einschleichende Paranoia, der wir schon alle ein bißchen ausgeliefert sind. Wenn etwas in meinen wohlgeordneten Alltag einbricht, das ich nicht mehr ignorieren kann, versuche ich, es zu integrieren, möglicherweise mit Hilfe wahnhafter Verarbeitung. Deshalb habe ich den Einstieg gewählt, Beschreibung der Idylle.
(Alles war bis jetzt in Ordnung) Norbert geht ja auch erst einmal um Augenarzt, doch als das Symptom (Band) wiederkommt, kapselt er sich ab und macht das psychotische Erleben zu seiner Wirklichkeit. das alles geschieht recht leise.
Nach meinen Erfahrungen (beruflich), verlaufen Grenzen zwischen "gesund" und "krank" fließend und können über Jahre wechselseitig kompensiert werden. Jetzt überlege ich natürlich, ob ich zu sehr mit dem Berufsauge geguckt habe, als die Geschichte entstand... Ich freue mich, dass es nicht effekthascherisch rüberkommt, damit ist schon ein Teil meiner Intention umgesetzt. Den Titel sehe ich als lakonisches, umgangssprachliches Zitat
eines Jungen, der die Tragweite der Ereignisse noch gut von sich fernhalten kann, also bewußt so gewählt. Mit dem Adams-Zitat bin ich auch noch nicht ganz zufrieden, überlege mir, es rauszunehmen und den Schluß zu ändern.
Sommerliche Grüße,
Jutta

 

Salü Jutta,

mich hat Deine Geschichte enorm gefangen. Besonders hat mich hat die zeitweilige Distanz interessiert, weil ich sie von betroffenen Menschen so gut kenne und ich war gespannt, ob Du sie durchhälst. Das hast Du prima geschafft. Im Gegenzug die Ängste am Anfang, die ich gut nachfühlen konnte. Da wurde mir beim Lesen richtig eng im Hals.
Zu Beginn solch einer Erkrankung werden noch Fragen gestellt, Ärzte aufgesucht, dann kommt das Schweigen, die Suche nach Erklärung, die Hilflosigkeit, die Suche nach System und Ordnung, die Schuhe im Flur bieten sich ja gerade zu an!

Dabei zupfte ich die welken Blätter aus den Geranien, goss ein wenig Wasser nach und stellte die Kanne parallel zur Seitenwand, damit ich nicht über sie stolperte

und Norbert weiss: Die Uhr tickt. Und er weiss auch, nach zwölf Uhr kann alles möglich sein. (Titel ist toll!)

Ich bin sehr angetan vom Aufbau und vom Ablauf Deiner Geschichte. Sie ist so realistisch und gerade dort, wo Du auf Spannung verzichtest, auch feinfühlig geschrieben.
An sich bin ich keine Liebhaberin von Ausrufezeichen. Hier kann ich nicht darauf verzichten. Mein Kompliment!

Lieben Gruss
Gisanne

 

Liebe Gisanne,
vielen Dank für Dein Lob, ich freue mich sehr! Außerdem bedauere ich außerordentlich den Abgang der Eidgenossen bei der EM!!
LG,
Jutta

 
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Hallo Jutta,

nicht das erste Mal, dass ich diese Geschichte lese und nach wie vor gefällt sie mir. Das Gleiten der Psyche in die Krankheit ist dir gut gelungen, nicht zuletzt weil der Erzählton eine Spur Humor enthält. Was ich ein wenig fraglich finde, ist der Anfang:

Es ist gleich achtzehn Uhr. Ich bin um zwölf Uhr aufgestanden und werde um einundzwanzig Uhr ins Bett gehen, kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der Tag zu zwei Drittel geschafft ist. In der Rückschau ist zu bemerken, dass er einer der erträglicheren war.
Für die verbleibenden drei Stunden erwarte ich keine Katastrophen mehr.
Ein Tag, der uninteressiert an mir vorbeizieht und mich nicht weiter behelligt, ist ganz nach meinem Geschmack.
Im Nachhinein gesehen ist diese Passage funktionslos!

Die ihr folgende Vorstellung (Erzähler stellt sich und seine Familie vor) ist Geschmacksache. Im Idealfall erfahre ich sowas nebenbei und nach und nach beim Lesen und bekomme es nicht in kompakter Form gleich am Anfang serviert.

Fazitmäßig jedoch sensibel und authentisch erzählt! Unterhaltend sowieso.

Gruß
Kasimir

PS: Adams Zitat - warum das eigene Werk mit den Worten anderer abschließen? Ist es von alleine nicht bedeutsam genug? ;)

 
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Hallo Kasimir,
danke fürs Lesen und den Kommentar. Das Adams-Zitat gefällt mir auch nicht mehr, nhme es jetzt raus, aber den Anfang mag ich immer noch, sehe ihn als kleinen Hinweis auf das Festhalten am Alltag, am Normalen, deshalb auch die Vorstellung der Familie.
LG,
Jutta
Hallo A.-E.,
es ist sicher jedermann freigestellt, eine Geschichte nach seinen Eindrücken zu interpretieren, doch Deine ganz persönlichen Rückschlüsse scheinen mir etwas zu akzentuiert. In meiner Vorstellung gleitet der Busfahrer durch bewußt nicht näher benannte Umstände in den Grenzbereich der Psychose. Ich wollte zeigen, dass er so lange wie möglich diesen Zustand für sich kompensiert, indem er sich für auserwählt hält und den Spieß einfach umdreht, indem er seine Familie zu armen Ahnungslosen macht.
LG,
Jutta

 

Hallo A.-E.,
bloß keine Mißverständnisse!!! Der Busfahrer ist nicht auserwählt, er hält sich nur dafür. Das ist ein Symptom und keine Erleuchtung. Mir liegen esotherische oder religiöse Deutungen fern.
LG,
Jutta

 

Der Einser, mein Bus, hat eine der schöneren Strecken in unserer Stadt. Ich liebte es, durch die Kastanienallee in Richtung Bahnhof zu fahren, ganz besonders im Herbst. Nachmittags, wenn die tiefstehende Sonne durch die gewaltigen Blätter funkelte, fühlte ich mich an Szenarien in amerikanischen Liebeskomödien erinnert: der goldene Herbst, das bunte Laub, im Hintergrund ein weißes Holzhaus mit großzügiger Veranda. Wunderbar.
Hier, da noch mal dran. Beneide dich nicht um die Aufgabe, aber das hier müsste, so wie ich es verstehe, wie auswendig gelernt klingen, nach den Zahlen bis hierhin, so einen gehirnwäsche-auswendig-gelernt-Ton. Reizvolle Aufgabe.
Auf jeden Fall die Adjektive raus (Szenarien in amerikanischen Liebeskomödien ist schlimm)

Ich selber halte mich nicht für krank, doch mein Psychiater, Dr. B., erklärte mir damals freundlich, dass dies eher als Symptom zu werten sei
Echt gut.

Gute Augen sind in meinem Job unerlässlich.
Beruf. Hast es nicht am Stück geschrieben, oder? Also die ersten 10 Zeilen oder so, hat der Text eine Wahnsinns-Stimme, wo ich wirklich das Gefühl hatte, ich höre ihn reden. Aber hier bist du aus der Figur raus.

dass meine Fahrgäste unwillig aufmuckten
Das ist echt schade, Figurenstimme beim Ich-Erzähler ist auch was ganz Diffiziles, vielleicht ist es auch mein Fehler, aber ich hätte halt echt schweren können, ich hätte seine Stimme im Ohr nach den ersten Zeilen und die hätte weder unerlässlich noch aufmuckten noch amerikanische Liebeskomödien gesagt. Das sind alles keine schlechten Wörter oder so, aber najo.

Hmmm, die literarische Dynamik der Geschichte geht in dem Wunsch der Autorin nach Realität unter, fürchte ich. Der Kern der Geschichte, die Inhaltsangabe, da kriegt man doch schon ne Gänsehaut von, so toll ist der eigentlich: Penibler Ordnungsfanatiker leidet unter fantastischen Wahnvorstellungen.
Seine neunzig Grad-Winkel werden krumm. Was du dann noch dazufügt mit Fantasy-Literatur und SCi-Fi … das verwässert die Figur, glaube ich. Also dieses „90Grad-Winkel werden krumm“, mein Bus, der Einser, hat eine der schönsten Strecken der Stadt. Die in Reih und Glied stehenden Schuhe – das mit der Erzählstimme aus den ersten paar Zeilen – Wahnsinnsgeschichte. Solltest du echt noch mal drangehen, würd ich mir sehr wünschen. Hier liegt richtig viel Potential brach.

Ja, wie die Geschichte jetzt ist: Jo, man kann sich davon ergreifen lassen, man kann sie sich schön denken, geht alles. Ist auch jetzt ne gute Nummer, aber könnte mal echt mehr sein. Tolles Thema! Tolle Figur! Tolle Erzählstimme in der ersten Handvoll Zeilen!
Mach was draus
Quinn

 

Hallo Quinn,
1000 Dank! Werde es beherzigen, weil (fast) alles, was du schreibst, bei mir einen Widerhall findet.
LG,
Jutta

 

Hier die geänderte Version der Geschichte. Hoffentlich ist sie jetzt stringenter.
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta,

bei der Einleitung der Geschichte hatte ich die Musik der Anfangssequenz von American Beauty im Ohr, besonders deutlich beim zweiten Mal lesen.
Dieser steckbriefartige Einstieg mag vielleicht ein No-Go sein, hat mir aber trotzdem gefallen. Ich hatte Sympathie und Mitleid mit Norbert, seine zunehmenden Visionen fand ich spannend, die Ideen, die darin stecken interessant. Wieder eine Geschichte, die ich sehr gerne gelesen habe.

Liebe Grüße
odrees

 

Hallo odrees,
ja mit dem No-Go sehe ich es so: Wenn es der Geschichte förderlich ist, also ein Stilmittel, dann gibt es das gar nicht. Hier sehe ich es schon als Hinweis auf die Zwanghaftigkeit, deshalb erlaubt. Unerlaubt ist es natürlich, wenn man zu faul ist, eine Geschichte zu entwickeln. Danke Dir für den Kommentar!
LG,
Jutta

 

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