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Fünf vor Zwölf kann endlos dauern
Fünf vor Zwölf kann endlos dauern
Es ist gleich achtzehn Uhr. Ich bin um zwölf Uhr aufgestanden und werde um einundzwanzig Uhr ins Bett gehen, kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der Tag zu zwei Drittel geschafft ist. In der Rückschau ist zu bemerken, dass er einer der erträglicheren war.
Für die verbleibenden drei Stunden erwarte ich keine Katastrophen mehr.
Ein Tag, der uninteressiert an mir vorbeizieht und mich nicht weiter behelligt, ist ganz nach meinem Geschmack.
Ich heiße Norbert Werdes, bin einundvierzig Jahre alt, verheiratet und habe einen vierzehnjährigen Sohn. Leon geht zum Gymnasium und ist ein ordentlicher Junge, der uns nur Freude bereitet. Er lernt fleißig und hat keine Flausen im Kopf.
Ich habe eine gute Ehefrau mit einem Halbtagsjob bei Ikea, der zwar nicht viel Geld einbringt, ihr aber Einkäufe zu günstigen Konditionen ermöglicht. Unsere 3,5- Zimmer- Wohnung mit Balkon ist immer hübsch dekoriert. Das macht Rita.
Ich selbst bin von Beruf Busfahrer, mit einer Vorliebe für phantastische Literatur, wenn es meine Zeit erlaubt.
Der Einser, mein Bus, hat eine der schöneren Strecken in unserer Stadt. Ich liebte es, durch die schnurgerade Kastanienallee in Richtung Bahnhof zu fahren. Noch heute kenne ich die Haltestellen auf der Strecke auswendig und erinnere mich genau an meine täglichen Fahrgäste. Ich war für meine Pünktlichkeit bekannt, bei mir verpaßte niemand seinen Regionalexpress.
Wir hatten wirklich ein gutes Leben.
Doch das gehört der Vergangenheit an. Seit vierzehn Monaten gelte ich als psychisch krank, seit drei Monaten bin ich frühberentet. Ich selber halte mich nicht für krank, doch mein Psychiater, Dr. B., erklärte mir damals freundlich, dass dies eher als Symptom zu werten sei. Da er mir sympathisch war und ich höflich sein wollte, stimmte ich erst einmal zu, blieb aber skeptisch.
Meine Diagnose lautet: schwere, wahnhafte Depression bei zwanghafter Persönlichkeitsstruktur. Wie gesagt, so steht es auf dem Papier.
Vor gut achtzehn Monaten begann die wichtige Veränderung.
Es war ein Herbsttag mit tiefstehender Sonne und ich lenkte meinen Bus durch die Allee. Ich mochte es nicht, wenn das Sonnenlicht durch die Blätter flirrte und hatte die Blende heruntergeklppt. Ein Busfahrer darf sich nicht ablenken lassen.
Meine Fahrgäste hingen ihen Gedanken nach, sie fühlten sich bei mir sicher.
In der letzten Rechtskurve schwamm plötzlich ein schwarzes, flatterndes Band durch die Luft. Es zog von links nach rechts an meiner Panoramascheibe vorbei, tänzelte auf und nieder und absorbierte das Licht.
Ich stoppte verwundert, und die Hydraulikbremse senkte den Bus zischend ab.
Das schwarze Band war inzwischen zum rechten Rand der Frontscheibe gewandert und löste sich vor meinen Augen in Nichts auf. Einen Moment starrte ich ungläubig auf die Stelle, doch ich sah nur die bunten Blätter und einen Streifen Gras am Straßenrand.
Am nächsten Tag ging ich zum Augenarzt und erzählte ihm von meinem Erlebnis. Er sagte, es könne sich schlimmstenfalls um eine beginnende Netzhautablösung handeln. Nach gründlicher Untersuchung stellte sich heraus, dass meine Augen völlig in Ordnung waren. Der Augenarzt riet mir, mich vitaminreich zu ernähren und ausreichend zu schlafen, und ich ging erleichtert nach Hause. Auch meine Frau war sichtlich froh. Gute Augen sind für einen Busfahrer unerlässlich.
Als ich nach zwei freien Tagen wieder in die Kurve einbog, sah ich das schwarze Band schon an der linken Seite senkrecht in der Luft stehen. Mir war, als habe es dort auf mich gewartet, denn jetzt kräuselte es sich kurz, um dann waagrecht an meiner Scheibe vorbeizutanzen. Und wieder legte es einen Schleier über die Blätter und schluckte das Licht.
Diesmal bremste ich so heftig, dass meine Fahrgäste unwillig aufmuckten. Ich drehte mich um und fragte den Mann, der direkt hinter mir saß, ob er das Band sehen könne, doch er starrte nur durch die Scheibe und tippte sich kopfschüttelnd an die Stirn. Ich solle mal schnellstens zum Augenarzt gehen, riet er mir, es sei ja gefährlich, mit mir zu fahren. Ich stimmte ihm zu und sah, wie sich das schwarze Band am rechten Rand auflöste, wobei es mir mit einem Schlenker zuzuwinken schien.
Ich redete nicht mehr darüber, auch mit Rita nicht. In der folgenden Nacht begannen die Schlafstörungen. Ich war stets froh gewesen, dass ich trotz des Wechseldienstes gut schlafen konnte, doch nun stand ich nachts mehrmals auf, schlich mich auf den Balkon und suchte nach einer Erklärung. Dabei zupfte ich die welken Blätter aus den Geranien, goss ein wenig Wasser nach und stellte die Kanne parallel zur Seitenwand, damit ich nicht über sie stolperte. Da ich natürlich zu keinem Ergebnis kam und mein übermüdeter Geist die Erregung steigerte, stellte ich in einer der folgenden Nächte fest, dass ich die Umrisse der Sterne in bestechender Schärfe sehen konnte. Überdeutlich die Ränder und Begrenzungen, die strahlende Venus stand wie ausgeschnitten am Himmel. Mir war klar, dass dies auf den Schlafmangel zurückzuführen war, doch plötzlich wußte ich, dass schon der Schlafmangel ein wichtiges Zeichen war, genau wie das Band. Wenn ich meine übermüdeten Augen schloss, sah ich mich aus der Perspektive eines Astronauten: ein winziger Punkt auf der konvexen Krümmung der Erde.
Der Mann im Pyjama, der auf seinem Balkon den Schlaf ersehnte. Ein Wächter, bereit, mehr zu sehen und zu hören als der geschäftige Tag zulassen würde. Ein stiller, zufriedener Mensch, der die Natur liebte und dankbar für sein Leben war. Ein zuverlässiger, ordnungsliebender Mann, der seine Fahrtroute im Schlaf kannte und die Fahrgäste verantwortungsvoll zu ihrem Ziel brachte. Der zur Entspannung ab und zu in phantastische Welten reiste. Wenn irgendjemand im Universum eine Aufgabe für mich bereithielt, so hatte er mich vielleicht gerade wegen dieser Eigenschaften ausgesucht. Und das war die einzig vernünftige Erklärung. Gut, dass ich nicht darüber geredet hatte! Ich war bereit und auf der Hut.
Der Schlafmangel versetzte mich in einen euphorischen Zustand. Ich würde ein Zeichen erhalten, ich dürfte es nicht verpassen. Rita bekam meine nächtlichen Wanderungen mit und war sogar einmal aufgestanden, als ich um drei Uhr die Küchenschränke polierte und den Herd schrubbte. Sie bestand darauf, dass ich mir frei nehmen und zum Arzt gehen sollte. Da ich ihr Mißtrauen nicht wecken wollte, tat ich ihr den Gefallen.
Dem Arzt erzählte ich nur von den Schlafstörungen, und er sagte, es sei ja wohl fünf vor Zwölf, denn ein unausgeschlafener Busfahrer stelle eine Gefahr für den Verkehr dar. Ich stimmte ihm zu, nahm das Rezept für die Einschlafhilfe und warf es unterwegs weg. Schließlich wollte ich für wichtige Signale bereit sein.
Am folgenden Abend lag ich auf der Couch, die Tagesschau hatte gerade begonnen. Halb dösend sah ich Leichen und Verwundete, rennende Männer, die Maschinengewehrsalven durch die staubige Luft ratterten, und zerbombte Häuser, die den verängstigten Zivilisten nur unzureichenden Schutz boten, als Rita eine gestreifte Keramiktasse mitten in mein Blickfeld stellte. Eine Ikea-Errungenschaft, teilte sie mir mit, sie habe noch vier weitere, mit passenden unifarbenen Untertellern, süß, oder? Mir war sie viel zu bunt, doch mit unifarbenem Unterteller mochte es wohl gehen.
Noch während sie redete, wölbte sich die Tasse vor meinen Augen und die Streifen wurden breiter. Gleichzeitig konnte ich vom Fernseher nur noch den oberen rechten Bildausschnitt sehen, und die Soldaten, die auf einer unsichtbaren Linie fast senkrecht hoch in die Ecke eilten und sich dann hastig in die Tasse fallen ließen.
Rita hatte ihr Strickzeug genommen und die Füße hoch gelegt. Ihre Stimme wurde leiser, sie schrumpfte auf die Größe eines Playmobilpüppchens und näherte sich mit großer Geschwindigkeit der Fußleiste.
Vor meinen Augen wackelte die Tasse, denn sie war bis zum Rand mit zappelnden Soldaten gefüllt und aus dem Fernseher sprangen immer mehr. Ich setzte mich mit einem Ruck auf und griff mit beiden Händen nach der Tasse. Ein schmerzhaftes Ziehen ging durch meinen Kopf und die Soldaten schnitten mir Grimassen, klatschten in die Hände, formten ihre Münder zu riesigen Ohs oder bleckten die Zähne. Da war es, das Zeichen!
Rita schimpfte ärgerlich, dass ich doch aufpassen solle, sonst würde ich mir den Tee über das Hemd kippen. Sie saß wieder strickend neben mir, im Fernseher hielt die Bundeskanzlerin gerade eine Rede über mögliche Steuersenkungen im nächsten Jahr, und in der Tasse schwappte der Pfefferminztee. Panik ergriff mich, weil ich nichts verstand und vor Anspannung begann ich zu weinen.
Rita ließ erschreckt ihr Strickzeug fallen und setzte sich zu mir. Sie umarmte mich, doch ich schlug die Hände vors Gesicht und konnte nicht aufhören zu schluchzen. Leon war gerade hereingekommen und fragte amüsiert, ob ich wieder einmal die Schuhe im Flur in Reih und Glied aufgestellt hätte, brach aber sofort ab, als er mich sah. Ich hasste es, vor meiner Familie zusammenzubrechen, doch eine unbestimmte Angst schnürte mir die Luft ab.
Ich verstand die Zeichen nicht!
Später, im Bett, erzählte ich Rita behutsam von meiner Vermutung, denn mir war die Idee gekommen, dass sie vielleicht eingeweiht war. Gehörte Rita dazu? Sie schwieg lange und ich merkte, dass sie die Luft anhielt.
In dieser Nacht stand ich nur ein Mal auf und erkannte, dass die unterschiedlichen Schattierungen des sternenlosen Firmamentes ein Wort bildeten: Liebe. Ich sah deutlich die Begrenzungen zwischen Schwarz und Grau und buchstabierte das Wort mehrmals, um jeden Irrtum auszuschließen. Es stimmte, und eine erlösende Ruhe überkam mich.
Am nächsten Vormittag wurde mir klar, dass Rita nicht eingeweiht war. Sie hatte in aller Frühe lange telefoniert, sich frei genommen und einen Termin bei Dr. B. für mich vereinbart. Sie machte sich Sorgen, deshalb ging ich mit ihr hin. Arme Rita! Sie wartete übermüdet im Vorzimmer auf mich. Dr. B. kam mir entgegen, sein Händedruck war fest und trocken, er hatte gütige Augen. Ich mochte ihn sofort und erzählte die Ereignisse der letzten Tage in chronologischer Reihenfolge. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach mich kein einziges Mal. Als ich mit dem Erzählen fertig war, griff er nach dem Rezeptblock und sagte, während er schrieb, dass es ja wirklich fünf vor Zwölf sei für mich, da müsse dringend was getan werden. Er schrieb mich auf unbestimmte Zeit krank und erklärte mir seine Diagnose. Ein Antidepressivum und ein niederpotentes Neuroleptikum sollten helfen, die Wahnvorstellungen, wie er es nannte, verschwinden zu lassen. Er bot mir Therapiesitzungen an und wollte mit mir über meine Kindheit und die Herkunftsfamilie reden. Bis zur ersten Sitzung sollte ich einen ausführlichen Lebenslauf schreiben. Rita gab er für alle Fälle eine Einweisung für die Psychiatrie mit, falls es gar nicht anders ginge, und erklärte ihr genau, wie ich die Tabletten zu nehmen hätte. Bevor wir die Praxis verließen, ordnete ich noch rasch die Zeitungen im Vorzimmer. das würde den Doktor sicher freuen.
Als wir die Treppen hinunterstiegen, schwebten die Twintowers in Miniaturform vor mir her, doch beim Verlassen des Hauses lösten sie sich in winzige Kristalle auf, die auf der Erde zerplatzten. Rita meinte, ich solle jetzt aufhören, dieses Science-Fiction-Zeugs zu lesen, davon würde alles noch viel schlimmer.
Nun, ich nehme die Tabletten regelmäßig, und mit dem Schlafen habe ich kein Problem mehr. Zu Dr. B. gehe ich nur noch sporadisch. Mit meinem Lebenslauf war wohl alles in Ordnung, er hat jedenfalls nichts Bemerkenswertes gefunden. Insgesamt geht es mir recht gut. In den letzten Wochen begleitet mich eine kleine Weltkugel durch den Tag. Sie tanzt zitternd auf einer unsichtbaren Wasserfontäne und ich sehe mit Besorgnis, dass die hellen Flächen, die die Kontinente zeigen, von Tag zu Tag schrumpfen und ausgefranste Ränder bekommen. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich Verschiebungen, die wahrscheinlich durch untergegangene Städte und Länder entstehen. Heute Mittag war Holland nicht mehr da und Südfrankreich eine riesige Wüste.
Ich will aber Rita und Leon nicht beunruhigen, deshalb entlaste ich meine Frau und halte den Haushalt tipp-topp. Ansonsten schweige ich. Es ist besser, wenn sie an meine Krankheit glauben, Rita blüht geradezu auf, seit sie sich so hingebungsvoll um mich kümmern kann. Es scheint ihr ohnehin solides Selbstbewusstsein zu verfestigen.
Gestern saßen wir vor dem Fernseher und ein dicker Minister sagte, es sei fünf vor Zwölf für unsere Erde. Leon war genervt und meinte spöttisch, wie lange fünf vor Zwölf denn dauern könne, schließlich sage das jeden Tag irgendwer und dann passiere ja doch nichts.
Ich antwortete lächelnd, dass fünf vor Zwölf endlos dauern kann und legte den Arm um meinen Sohn.
Ich werde bereit ein.