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Für den Mann, der den Rauch erfand

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28.12.2009
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Für den Mann, der den Rauch erfand

Meine Pfeifen reinige ich immer in einer bestimmten Reihenfolge. Die Brebbias, die Savinellis, dann die Dunhills. Ich besitze über siebzig Pfeifen. Regelmäßig rauche ich nur zwei, vielleicht drei. Sie haben sich in Jahren der Routine durchgesetzt. Ich mag sie aus unterschiedlichen Gründen. Die Form schmeichelt der Hand oder das Holz hat eine besondere Maserung. Drüben im Wohnzimmer stehen Dutzende Einmachgläser voller unterschiedlicher Tabaksorten. Ich habe jedes davon sorgfältig beschriftet. Vor einiger Zeit habe ich es dran gegeben, die Gläser leeren zu wollen. Ich rauche nur noch den Motzek Strang, eine Mischung aus Kentucky, Burley und hellen Virginias, die zu einem dunklem, daumendicken Tabakseil zusammengedreht werden. Ich schneide mit einem scharfen Buckknife dünne Scheiben davon ab, lasse sie eine halbe Stunde lang trocknen und zerteile sie danach in kleine Quadrate.

Meine Frau hatte eine sehr empfindliche Nase, deswegen habe ich schon immer in der Küche geraucht. Ich setze mich jeden Abend mit einem frisch aufgebrühten Kaffee an das Fenster und rauche eine Füllung Motzek. Das Fenster kippe ich an, damit der Rauch abziehen kann, außerdem mag ich die kühle, klare Luft. Für einen mittelgroßen Kopf brauche ich anderthalb Stunden, ich rauche langsam, atme mit der Pfeife. Währenddessen höre ich auf einem Weltempfänger einen Radiosender aus Lubbock, der Cool Jazz und akustischen Blues spielt. Lubbock liegt in Texas. Ich war noch nie in den Vereinigten Staaten, aber ich stelle mir Texas als heiße und leere Wüstenlandschaft vor, flach, braun und ausgedörrt. Ich habe immer davon geträumt mit einem alten Cadillac den Highway entlang zu fahren, Dave Brubeck tönt aus den Boxen und Lina sitzt mit einer Dose Budweiser in der Hand neben mir. Wir fahren einfach so in die Nacht hinein, bis wir nicht mehr können, dann halten wir an irgendeinem billigen Motel an, essen fettige Burger und schlafen in Kingsize-Betten ein.

Die Schicht in der Klinik gegenüber wechselt. Ein paar der Krankenschwestern stehen noch im Hof zusammen und rauchen, die Glut leuchtet im Halbdunkel. Dem Küchenfenster gegenüber liegt ein langer, grauer Balkon, auf dem manchmal ein Arzt steht und dünne Zigarillos pafft. Ich glaube, der Mann ist Kardiologe. Wir nicken uns stumm zu, wenn sich unsere Blicke kreuzen. Die Wohnung ist zu groß für mich allein, das weiß ich, aber es ist mir egal.

Es ist ein altes Haus, im Jahr 1895 gebaut. Es hat zwei Weltkriege unbeschadet überstanden. Vier Parteien und ein großer Garten. Letzten Sommer ist die Familie unter mir ausgezogen. Sie haben über zehn Jahre hier gewohnt und dann noch einmal Nachwuchs bekommen. Drei Zimmer reichten ihnen nicht mehr. Die Wohnung ging an einen jungen Mann, der die Räume allein bezog und die meiste Zeit zu Hause arbeitete. Ich habe ihn in den ersten Monaten so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Er machte kaum Geräusche im Treppenhaus oder in der Wohnung. Manchmal leerte er tagelang seinen Briefkasten nicht. Umschläge und Zeitungen wurden vom Regen durchnässt, bis ich sie aus dem Schlitz zog und zum Trocknen auf die Treppen legte.

Ich schlafe kaum noch. Ich wache meistens gegen zwei, halb drei auf, liege für eine Weile im dunklen Zimmer und stehe dann auf. Es ist eine schöne Zeit, vielleicht die schönste. Kaum Verkehr unten auf der Straße, das Krankenhaus liegt im kalten Licht still da und die Luft erholt sich langsam. Ich öffne die Küchenfenster so weit es geht und lehne mich hinaus, die Hände auf dem Sims, atme ein, atme aus. Dann setze ich frisches Kaffeewasser auf und stelle leise den Weltempfänger an. In Lubbock ist es jetzt nachmittags. Ich höre ein paar Songs und trinke in aller Ruhe eine große Tasse schwarzen Kaffee.

Ich kratzte gerade Tabakreste aus einer Dunhill Cumberland, ein Geschenk von Lina zu meinem sechzigsten Geburtstag, als ich die Geräusche vor der Wohnungstür hörte. Ein mechanisches Klicken, unterbrochen von kurzen Pausen, dann setzte es wieder ein. Ich griff nach dem Zigarrenmesser, das auf dem Tisch neben der Tabakdose lag. Vom Ende des Flurs aus konnte ich Schemen vor dem Milchglas erkennen. Immer noch waren da diese Geräusche. Ich klappte das Messer auf, machte einen Schritt auf die Tür zu und rief: “Wer ist da?”
Das mechanische Geräusch stoppte. Dann ein tiefes Brummen. Jemand klopfte gegen den Türrahmen.
“Wer ist da?”, wiederholte ich und drehte die Klinge in meiner Faust nach unten. Ein Körper sackte gegen die Wand des Hausflurs, ein schweres, dumpfes Geräusch, das Parkett vibrierte kurz. Danach ein langgezogenes Seufzen und eine Stimme, die leise Nein, Nein sagte. Ich kann nicht genau sagen, warum ich die Haustür geöffnet habe.

Er lehnte am Treppengeländer - groß, schlank, mit vollen, lockigen Haaren. Ich roch den stechend scharfen Geruch von hochprozentigem Alkohol an ihm.
“Ich glaube, Sie haben sich im Stockwerk geirrt.”
Er sah mich nicht an. Er nickte und steckte den Schlüsselbund in seine Jackentasche.
“Sie sind eins zu weit oben.”
“Ja”, sagte er und wischte sich mit der Hand über den Mund. “Ich weiß, ich … Tut mir leid.” Er richtete sich auf. “Ich wollte Sie wirklich nicht aufwecken, es ist nur … keine Ahnung, das mit den Stockwerken, ich wohne noch nicht lange hier, und na ja …”
“Sie haben mich nicht aufgeweckt, alles gut.”
Er zeigte auf das Messer in meiner Hand. “Ich mach’ schon keinen Ärger.”
“Es ist drei Uhr morgens”, sagte ich und klappte das Messer zu.
Er holte tief Luft und sagte: “Ja, na klar, klar, verstehe ich.”
“Sie sollten sich vielleicht öfter um ihre Post kümmern.”
“Ach so, Sie waren das immer. Wirklich nett von Ihnen. Ich hab’ zur Zeit einfach viel um die Ohren, und …” Er zuckte mit den Schultern. Er hatte sich bereits umgedreht und einen Schritt in den dunklen Hausflur gemacht, als ich ihn fragte, ob er nicht einen Kaffee wolle. Ich hatte seit Wochen mit niemandem ein Wort gewechselt.

Als er sich ans Ende des Tischs setzte, auf Linas Stuhl, stand ich einen Moment lang vor der Anrichte und wusste nicht weiter. Ich wollte etwas sagen, doch irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht erinnerte er mich an sie, wie er da so betrunken und verloren am Tisch saß, ohne Hoffnung und uneins mit dem Leben. Dann fragte er auf einmal: “Gutes Mahlwerk?” und blickte an mir vorbei auf die Küchenzeile.
Ich nickte. “Aus der Schweiz.”
“Die machen auch gute Schokolade. Hab’ einen Onkel, der lebt in Zweisimmen, ist ein kleines Dorf in den Bergen. Er ist Zahnarzt und verdient ‘n Menge Kohle.” Er schüttelte den Kopf. “In der Schweiz ist es so, dass man einfach auf ein Amt gehen kann und da nachsehen, was der Nachbar verdient.”
“Ja?”
Er nickte.
“Schwarz?”
“Schuss Milch, wenn Sie haben.”
Ich reichte ihm das Milchkännchen und setzte mich wieder. Er nahm die Tasse mit beiden Händen, nippte einmal vorsichtig, setzte sie wieder ab und goss einen Schluck Milch dazu. “Schmeckt gut.”
“Danke”, sagte ich. “Ist das einzige, wofür ich noch Geld ausgebe.”
“Mein Opa hat auch Pfeife geraucht”, sagte er und strich über den Holm der Dunhill. Danach nahm er meinen Blick auf und sagte schnell: “Entschuldigung, das wollte ich nicht.”
Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann räusperte er sich, setzte sich aufrecht auf den Stuhl und sagte: “Ist schon seltsam, oder? Hier zu sitzen, morgens um was, drei Uhr? Und ich meine, wir kannten uns vorher ja nicht, obwohl wir eigentlich …” Er hob seine Hand und ließ sie langsam wieder sinken.
“Ich schlafe selten durch”, sagte ich. “Eines der schönen Dinge des Alters.”
Er lachte und trank einen Schluck Kaffee. “Mein Opa meinte immer, Pfeife rauchen sei eine Kunst.”
“Ist was dran.”
“Wohnen Sie schon lange hier?”
“Dreißig Jahre.”
“Dreißig Jahre”, wiederholte er und hob die Augenbrauen.
“Fast ein halbes Leben.”
“Wenn das hier der dritte Stock ist, dann müssten Sie Herr Ippendorf sein?”
Ich nickte.
“Hans und Katharina Ippendorf”, sagte er und lehnte sich zurück. “Steht jedenfalls unten auf dem Klingelschild, das habe ich mir gerade noch merken können.” Dann beugte er sich über den Tisch, legte seinen Zeigefinger über die Lippen und redete leise weiter. “Hoffentlich wecken wir hier ihre Frau nicht auf, sorry.”
“Nein, sie hat einen tiefen Schlaf. Keine Sorge.”
Er lächelte und nahm die Tasse vom Tisch.
“Was gab es zu feiern?”, fragte ich ihn und drehte den Holm von der Dunhill.
“Nichts zu feiern … manchmal brauch ich das einfach, Festplatte löschen, so nenne ich das. Immer wenn man nicht weiterkommt, dann … na ja.” Er pustete auf den Kaffee. “Nur ein paar Bier und ein paar Schnaps, ich vertrage nicht mehr so viel wie früher.”
“Ja, das kenne ich auch.”
Wir lachten.
“Wie lange wohnen Sie jetzt hier?”
“Ich glaube, schon seit März, ja, im März bin ich eingezogen.”
“Vier Monate … habe ich gar nicht richtig mitbekommen, ich meine, man hört und sieht Sie kaum. Die Familie, die vor Ihnen in der Wohnung gelebt hat, die hatten zwei Jungs, da war immer was los.”
“Kannten Sie die Familie gut, ich meine …”
“Haben etwas über zehn Jahre hier gelebt. Was heißt kennen? Man hat sich gegrüßt.”
“Ich hör’ Sie manchmal, wenn Sie den Jazz aufdrehen.”
“Oh”, sagte ich und rührte mit einem Löffel in meiner Tasse schwarzen Kaffee. “Und ich dachte, es ist noch Zimmerlautstärke.”
Er winkte ab. “Nein, das ist ja gut so, sehr gut sogar. Dann weiß ich, dass noch jemand da ist.”
Ich musste lachen. Dann nahm ich einen Schluck Kaffee und sah ihn mir genauer an. “Was machen Sie - ich meine, beruflich, ihr Beruf. Wenn ich fragen darf?”
“Natürlich dürfen Sie fragen”, antwortete er und schüttelte den Kopf. “Ich bin Übersetzer, ich übersetze Texte aus verschiedenen Sprachen, meistens Italienisch oder Englisch.”
“Texte, was für Texte?”
“Von uns verlange nicht die Formel, die dir die Welten erschließt, eher schon eine krumme Silbe, trocken wie ein Zweig.” Er sah mich an und lachte. “Ossi di seppia - Die Knochen des Tintenfisches. Das erste Buch eines italienischen Dichters, der eigentlich Opernsänger werden wollte, aber festgestellt hat, dass er Publikum hasst.”
“Vermutlich ist dann Dichter tatsächlich die bessere Berufswahl”, sagte ich und schob den Holm zurück in den Pfeifenkopf. “Sind es denn gute Gedichte?”
“Der Mann hat mal geschrieben, dass man einen großen Dichter daran erkennt, dass er früh gestorben ist, deswegen sei er eben nur ein kleiner Dichter.”
“Wie alt ist er geworden?”
“Vierundachtzig.”
Für einen Moment sahen wir schweigend auf die glänzende Oberfläche des Kaffees. Dann sagte er: “Ja, es sind gute Gedichte. Sie sind so gut, dass ich nachts nicht mehr schlafen kann … weil ich nach dem Wort suche, dem einen, richtigen Wort. Es ist, ich weiß auch nicht …”, er zuckte mit der Schulter und beugte seinen Oberkörper zur Seite, “man will dem Mann gerecht werden, man will dem Werk gerecht werden, und das ist nicht so einfach, wie man denkt.”
“Ich verstehe.”
“Manchmal denke ich, ich habe das Wort gefunden, dann weiß ich, ja, es stimmt, es passt, der richtige Klang, die richtige Bedeutung, alles fügt sich zusammen und ich bin mir sicher, aber eine Stunde später kommen die Zweifel. Es ist wie ein Kartenhaus, das in sich zusammenfällt, ein kleiner Luftstoß reicht schon, das reicht vollkommen, und …” Er klatschte in die Hände. “Ist schwer zu erklären. Und heute, heute hat es einfach gereicht, da musste ich raus.”
“Die Festplatte löschen.”
Er nickte. “Hier in der Kneipe um die Ecke. Musste sein.”
“Wird das gut bezahlt, ihre Arbeit, meine ich?”
“Das letzte Filet Mignon ist schon was länger her.”
“Ich war Uhrmacher”, sagte ich. “Ich habe auch nie viel verdient. Geld ist nicht alles, oder? Zumindest war ich immer der Meinung.”
“Aber ohne Geld ist alles nichts.” Er trank einen Schluck Kaffee. “Letztes Jahr habe ich von ‘nem Stipendium gelebt, die Kulturstiftung war mal großzügig. Nennt sich dann Exzellenzstipendium, weil man sich angeblich mit so anspruchsvollen Sachen beschäftigt.” Er winkte ab. “Da habe ich noch in Berlin gewohnt, ist auch nicht mehr wie früher, billige Mieten und all das, gibt’s nicht mehr. Und, na ja, Sie wissen, wie das ist, ist halt ‘ne große Stadt, man lässt sich ablenken, hier hin, da hin, und am Ende … aber muss ja irgendwie weitergehen.”
“Jetzt sind Sie in der Provinz, da gibt es keine Ablenkung.” Ich lehnte mich zurück. “Doch, diese eine Eckkneipe gibt’s.”
“Es ist so, man sitzt monatelang da, monatelang alleine, man denkt über jedes Wort nach, zerdenkt alles und fängt von vorne an, und wenn man es dann hat …” Er sah mich an und hob langsam die Augenbraue. “Wenn ich bei der Post ein Einschreiben abgebe, dann hat mich noch niemals jemand angesehen, wenn er meinen Namen gelesen hat, verstehen Sie?”
Wir tranken den Kaffee. Ein paar Krankenschwestern redeten auf dem Balkon miteinander, ihre Stimmen gedämpft und undeutlich, dann ein lautes Lachen.
“Mein Opa hat immer Tabak geraucht, der nach Vanille gerochen hat … haben Sie so was auch? Ich weiß nicht, ich habe wirklich lange gedacht, alle Pfeifenraucher rauchen denselben Tabak, ist natürlich Blödsinn, aber als Kind … ich erinner’ mich da gerne dran, er saß immer auf dem Balkon, meine Oma hatte ihm das Rauchen im Haus verboten, und na ja, dann saß er eben da und hat gelesen.”
Ich drückte die Dunhill in das Pfeifenkissen und stand auf. “Warten Sie einen Moment.”
Im Wohnzimmer machte ich das Licht am Regal an. In der hintersten Reihe entdeckte ich das Glas mit dem Roll-Cake. Der Tabak roch immer noch nach warmem Gebäck.

Ich stellte das Glas auf den Tisch. Im Radio lief ein Stück von Charlie Haden. “Lebt ihr Großvater noch?", fragte ich und nahm ein paar Coins aus dem Glas.
Er schüttelte den Kopf. “Krebs.”
“Ein guter Freund von mir ist auch an Krebs gestorben. Leber. Kein schöner Tod.”
“Mein Großvater lag die letzten Wochen im Hospiz, bis oben hin voll mit Morphium. Irgendwann ist er einfach eingeschlafen. Ich war die ganze Zeit bei ihm.”
“Dann müssen Sie ihn gemocht haben.”
“Ja”, sagte er. “Ja, ich habe ihn sehr gemocht.”
Ich stapelte die Coins übereinander, legte sie in den Pfeifenkopf und verteilte ein paar Tabakreste auf der obersten Schicht. Er beobachtete mich die ganze Zeit über, jede einzelne Bewegung. Wie ich das Feuerzeug mit dem langen Hals vom Tisch nahm, wie der Tabak sich nach dem Anzünden ausdehnte, und dann, nachdem ich die erste Glut mit dem Stopfer geglättet hatte, atmete er tief ein und schloss die Augen.
“Ja, genau”, sagte er. “Genau so, wirklich.”
Ich lehnte mich zurück, streckte die Beine aus und schob mir die Pfeife in den Mundwinkel.

Den Tabak hatte ich bei Peter Heinrichs in Köln gekauft, ich erinnerte mich genau an den Tag, es war ein Freitag. Lina liebte es, in den Secondhand-Läden am Hansaring nach Schallplatten zu stöbern. Sie mochte George Brassens und obskurere Musiker wie John Fahey. An diesem Abend überraschte sie mich mit einer neuen Ausgabe der Anthology of American Folk Music. Mein eigenes Exemplar hatte ich vor langer Zeit einem guten Freund ausgeliehen, dann war es über die Jahre in Vergessenheit geraten, wie es so oft der Fall ist. Doch an diesem Abend legte ich die erste der Scheiben auf, stopfte mir eine Pfeife, und wir saßen zusammen am Küchentisch und hörten der Musik zu, den alten Melodien, die ungeschliffen von einer anderen Welt erzählen, von einem anderen Leben, das mir immer näher, echter, größer vorkam. Und auf einmal war alles wieder da. Als stünde Lina in einer dunklen Ecke des Raumes und würde nur darauf warten, dass ich meinen Kopf hebe und wir uns endlich wieder ansehen, ein kurzer, wissender Blick.
“Ich glaube, ich gehe jetzt besser”, sagte er dann und räusperte sich. Ich nickte schweigend. Er stand auf, schob den Stuhl unter den Tisch und blieb in der Tür stehen.
“Danke”, sagte er leise. “Danke nochmal.”

Kurz nach dem Sommer, ein paar Monate später, zog er wieder aus. Ich habe ihn in dieser Zeit weder gesehen noch etwas von ihm gehört. Er lebte dort unten wie ein Geist. Im späten Frühjahr lag ein an Hans und Katharina Ippendorf adressierter Umschlag im Briefkasten. Es war ein Buch mit dem Titel Die Knochen des Tintenfisches. Auf der ersten Seite eine kurze Widmung. Ich habe alle Gedichte gelesen und ich lese sie immer wieder. Bevor ich abends meine Pfeife anzünde, lege ich das Buch auf den Tisch und beschwere die Seiten mit dem Zigarrenmesser. Dann lese ich Wort für Wort und erinnere mich an diese Nacht.

 

Obwohl die Geschichte eine ruhige und reflektierende Atmosphäre hat, könnte eine leichte Spannung eingeführt werden, um den Leser weiter zu fesseln.
Hallo @scorpiaokey und herzlich Willkommen im Forum.

Spannung, damit stehe ich ja auch dem Kriegsfuß, weil es auch einfach für jeden etwas anderes bedeutet. Spannung im Sinne von Thriller oder Krimi? Oder im Sinne von: ich will weiterlesen, was da noch passiert? Ich denke, der Dialog der beiden, wo sie sich gegenseitig etwas von ihrer verletzlichen Seite zeigen, ist für mich spannend genug. Es handelt sich ja auch lediglich um eine einzige Begegnung - ich weiß nicht, wie man da die Beziehung noch vertiefen sollte - es ist ja tatschlich eine etwas wunderliche Situation, um die es hier gehen soll, diese nächtliche Beichte, wenn man so will.

Der neue Nachbar bleibt etwas vage und undurchsichtig. Einblick in seine Persönlichkeit, Hintergrundgeschichte oder aktuelle Probleme würden die Neugier der Leser wecken.
Vage. Ich verstehe. Schauen wir mal im Text, was wir über ihn wissen: er ist Übersetzer für anspruchsvolle Literatur, leidet an Geldnot, hat sich bis jetzt von Stipendium zu Stipendium gehangelt, vorher in Berlin gelebt, ist wahrscheinlich aus Kostengründen in die Provinz gezogen und liegt gerade in einem verzweifelten Clinch mit dem Werk eines großartigen Dichters, wo er um jedes Wort ringt und ihn das fast um den Verstand bringt - dieser nächtliche Besuch erscheint mir auch gewollt provoziert von ihm zu sein, um sich jemandem mitteilen zu können, um einmal eine kurze Ablenkung zu bekommen. All das teilt er dem Protagonisten in dem Dialog mit. Ich finde das jetzt nicht sonderlich vage oder uneindeutig. Vielleicht kannst du mir einmal mitteilen, was dir da genau fehlt, um es mir besser verständlich zu machen.
Einblick in seine Persönlichkeit, Hintergrundgeschichte oder aktuelle Probleme würden die Neugier der Leser wecken.
Das, so empfinde ich es, wird alles im Text beantwortet.
Der Protagonist könnte mehr innere Gedanken und Emotionen teilen, um den Lesern einen tieferen Einblick in seine Gefühlswelt zu ermöglichen
Ich persönlich bin kein Freund davon, einen Protagonisten von seinen Emotionen einfach erzählen zu lassen, weil es für mich eine Krücke darstellt - ich zeige diese gerne, ich lasse den Leser zusehen, wie diese Person handelt und in seine eigenen Schlüsse ziehen. Ansonsten bekomme ich das Gefühl, im Text selbst stehen nur Behauptungen, die aber nicht bewiesen werden. Deswegen verzichte ich in den meisgen Fällen auf Gedanken oder Emotionen innerhalb der Figurenrede, sondern beweise diese Emotionen durch die dementsprechenden Handlungen, so wie ich mir das bei einer Figur vorstelle.

Ist auch schon ein älterer Text, deswegen habe ich da schon einiges an Abstand zu, und ich habe auch noch eine bearbeitete, kürzere Version irgendwo auf der Platte, muss ich mal sehen.

Dir jedenfalls danke ich für Zeit und Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

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