F.
Bevor F. verschwand, sagte meine Mutter: „Nimm dir bloß kein Beispiel an ihr, wenn du in ihr Alter kommst. Sie ist unerzogen und unhöflich.“ Und ich versuchte mich zu erinnern, wann ich F. als unerzogen und unhöflich erlebt hatte. Das war gar nicht so schwer, weil mir gleich mehrere Beispiele einfielen. F. liebte es zu telefonieren und blockierte das Telefon oft über Stunden. Wann immer aber ich einen Anruf erhielt, zog sie das Kabel, sobald sie ungeduldig wurde und das Gespräch brach ab. Erst dachte ich immer, dass unser Telefon einen Defekt hatte, aber dann sah ich sie, wie sie vor dem Stecker saß und ich rief: „Hey!“, woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte und mir den Hörer aus der Hand nahm. Ja, F. war wirklich unhöflich.
Oft blockierte F. nicht nur das Telefon, sondern auch das Bad. Das war besonders morgens sehr lästig, wenn ich dringend auf die Toilette musste oder noch die Zähne putzen, bevor ich zur Schule ging. Dann klopfte ich an die Tür und rief: „Bist du bald fertig?“ und sie flötete zurück „Gleich“, aber heraus kam sie nicht, denn sie musste sich noch die Haare machen, die Augen schminken, den Lippenstift auftragen, die Beine rasieren und das nahm viel Zeit in Anspruch. Oft kam ich deshalb zu spät und war wütend, aber F. entgegnete dann nur: „Tja, hast du eben Pech gehabt.“ So hatte ich eben Pech gehabt.
Das war F. und an ihr wollte ich mir bestimmt kein Beispiel nehmen. Manchmal kam sie viel zu spät nach Hause, oft erst gegen Mitternacht, wenn ich schon schlief. Dann wurde ich von ihren Schritten wach und dem Zuschlagen ihrer Zimmertür. F. legte keinen großen Wert auf Diskretion.
Diskretion kannte sie gar nicht. Mit der Konsequenz, dass ihr mit Hausarrest gedroht wurde, den sie umging, indem sie nach der Schule einfach wieder zu spät nach Hause kam. Und wer sollte ihr schon verbieten, zur Schule zu gehen? F. wusste, dass dies wohl kaum eintreffen würde.
Also sagte ich zu meiner Mutter: „So wie F. will ich auf keinen Fall werden. Ich werde immer artig sein und auf euch hören“, und sie tätschelte meinen Kopf und sagte: „Fein.“ So hatte ich mich beliebt gemacht, was F. nicht entgangen war, weshalb sie begann mich zu hänseln. Und sie nannte mich „Muttersöhnchen“, was ich ihr verzieh, bis sie mich als „Riesenbaby“ bezeichnete, das war schon fast zu viel, aber die Höhe war dann „Arschkriecher“ und darüber konnte ich nicht hinweg sehen. So haute ich sie und sie haute zurück, was mich zum Weinen brachte, weshalb ich sie nie wieder haute und sie mich weiter beleidigte. F. und ich hatten halt unsere Differenzen.
Aber wir hatten auch unsere schönen Tage. F. backte mir mal einen großen Kuchen zu meinem Geburtstag, mit viel Schokolade und bunten Perlen, die man essen konnte. Das war ein Anblick, mit den Perlen, den vergesse ich nicht. Sie schmeckten nur nach Zucker, süße Zuckerbomben.
An diesen Kuchen musste ich denken, als meine Mutter in mein Zimmer kam und sie sah nicht gerade erfreut aus, weshalb ich schon Angst hatte, ich hätte etwas verbrochen. Dabei hatte ich doch versprochen nicht so zu werden wie F. Und ich hielt mich daran, also warum war sie dann so sauer, fragte ich mich und sie sagte, während sie versuchte die Fassung zu bewahren, sagte sie: „Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wo deine Schwester schon wieder steckt? Sie hätte vor drei Stunden hier sein sollen.“ F. also wieder, ich war erleichtert und als Mustersohn tat ich meine Pflicht und schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. Und meine Mutter schnaubte und machte die Tür zu. Dann kam sie eine Stunde später wieder zurück. Oder zwei, so genau weiß ich es nicht, aber es war Zeit vergangen, ein oder zwei Stunden. Nun sah sie nicht mehr wütend aus, sie wirkte sogar recht traurig, eher besorgt, also kurz bevor sie traurig sein würde, so sah sie aus. Und sie sagte: „F. ist noch immer nicht da, wir machen uns Sorgen.“ Ich schlug vor, sie sollen ihre Freundinnen anrufen und meine Mutter meinte: „Haben wir doch längst. Keine gibt Auskunft.“ Ich dachte nur, wann gibt es endlich Essen? Ich bin am Verhungern, wegen F. komme ich nicht zum Essen. Sie ist ja so unerzogen und unhöflich, diese F. So wie sie will ich niemals werden. Dann sah ich aus dem Fenster und es war schon dunkel und im Wohnzimmer gingen meine Eltern auf und ab und telefonierten herum und redeten aufgeregt und mein Vater meinte, würde F. nach Hause kommen, sie würde das Haus für den Rest des Jahres nicht verlassen und er würde sie zur Schule bringen und abholen, na die konnte sich auf etwas gefasst machen. Und meine Mutter sagte, er solle nicht so reden, sie mache sich große Sorgen. Ob etwas passiert sei? Ich dachte, nein, F. lungert wohl wieder nur herum, sie wird heute Nacht nach Hause kommen. Als ich im Bett lag, konnte ich nicht schlafen, obwohl es spät war und ich um diese Uhrzeit normalerweise immer schlief, bis ich von F.s Poltern geweckt wurde und so langsam erwartete ich dieses Poltern ganz sehnsüchtig und ich horchte die ganze Zeit. Ich traute mich schon gar nicht, die Augen zu schließen, so sehr war ich aufs Horchen konzentriert. Aber es kam einfach nichts, kein Geräusch von F.s Schuhen. Es polterte nicht auf der Treppe. Es polterte nur aus der Küche, weil meine Mutter polterte. Sie konnte auch nicht schlafen. Ich ging zu ihr herunter und sie machte mir ein Glas warmer Milch. Dass sie geweint hatte, sah ich, aber sie tat so, als ob nichts wäre. Und ich fragte, ob was wäre und sie sagte, es wäre nichts. Sie würde sich nur sorgen. Sie wartete die ganze Nacht bis zum Morgen, da war ich schon eingeschlafen. Als ich aufstand und in die Küche ging, saß sie noch immer dort. Und sie weinte. Und Vater schrie nicht mehr, er war ganz still. Und bleich. Ich rieb meine Augen und fragte: „Wo ist F.? Wann kommt sie wieder?“ und sie sagte, sie sei nicht zurück und hätte sich nicht gemeldet.
Ich spekulierte: „Vielleicht hat sie Angst, nach Hause zu kommen. Vielleicht hat sie Angst vor dem Hausarrest.“ Meine Eltern sagten, sie brauche sich nicht zu fürchten, sie solle nur nach Hause kommen. Wir warteten den ganzen Tag. Wir horchten auf ihre Schritte. Wir horchten auf das Klingeln des Telefons. Auf Nachrichten. Auf Informationen. Später horchten wir dem Polizeibeamten, der sagte, nach F. würde gesucht werden. Sie hätten sogar Spürhunde eingesetzt. Und Nachbarn würden auch dabei helfen. Er sagte das noch einige Tage lang, dann sagte er, sie müssten die Suche einstellen, es hätte nicht viel Sinn, und ich fragte: „Wo ist F.? Wann kommt sie wieder?“
Und ich frage es noch heute. Ich frage mich. Nicht meine Eltern, die vor Kummer ganz krank geworden sind, nicht den Polizeibeamten, der inzwischen in Rente ist. Ich stelle mir die Fragen und finde keine Antwort. Und ich denke an die bunten Perlen auf dem Kuchen und an die Worte meiner Mutter, wie sie sagt: „Nimm dir bloß kein Beispiel an ihr.“
Und nichts wünsche ich mir sehnlicher, als genau das zu tun, solange F. endlich wieder nach Hause kommt.