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Fairy Tale
„Eine Prinzessin.“ Darcun verzog die Lippen. „Das ich nicht lache.“
Plötzlich bewunderte er sie fast, wie sie so dastand, mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern. In ihrem verdreckten Seidenkleid, das einmal sehr schön gewesen sein musste, jetzt aber an vielen Stellen zerrissen war, wirkte sie wie ein Kind. Ihre blasse Haut, ihr weißes Haar und ihr schlanker Körper verliehen ihr eine unangemessene Zerbrechlichkeit. Fast hatte Darcun das Gefühl, sie beschützen zu müssen.
Aber der Schein trog.
„Eine Mörderin“, sagte er. „Eine Mörderin mit dem Gesicht eines Engels.“
Er trat näher an sie heran.
„Und außerordentlich dumm, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“
Selene wandte den Kopf. Der Blick ihrer blauen Augen ruhte sekundenlang eisig in seinem, bevor sie fragte: „Bereitet es Euch Freude, mich zu verhöhnen?“
Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, trotzdem klang ihre Stimme fest und beherrscht.
„Mm...“ Darcun ließ den Blick schweifen, als müsse er ernsthaft über die Frage nachdenken. „Vielleicht.“
Jedenfalls sollte er das tun, fügte er in Gedanken hinzu. Sie hatte es verdient. Mehr als das.
„Es war vermessen von Euch, anzunehmen, Ihr könntet mich töten“, sagte er. „Andere haben es vor Euch versucht. Ritter. Krieger. Söldner. Ganze Armeen. Und dann kommt Ihr um die halbe Welt gereist - fast noch ein Kind! - wild entschlossen, Euer eigenes Leben zu opfern um meines zu beenden.“ Er seufzte.
„Ich erwarte keine Gnade“, entgegnete Selene scheinbar unberührt. „Ich habe Euch kämpfen gesehen, Lord Darcun.“
Aus ihrem Mund klang sein Name wie eine Beleidigung.
„Nur Feiglinge suchen sich schwache Gegner. Feiglinge wie Ihr.“
Sein Körper straffte sich, als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen.
Er blickte sie an. In seinen schwarzen Augen loderte mühsam beherrschter Zorn, der sie unwillkürlich ein Stück vor ihm zurückweichen ließ.
„Wie kommt Ihr zu der Annahme, ich wäre ein Feigling?“
Offenbar hatte sie ihn getroffen.
„Ich könnte tausend Gründe nennen“, hörte sie sich plötzlich zu ihrer eigenen Überraschung selbst sagen.
Darcuns Tonfall sank eine Oktave, so dass seine Worte als dumpfes Grollen an ihr Ohr drangen.
„Nennt mir einen einzigen.“
„Eure Männer“, erwiderte Selene ohne zu zögern. „Sie töten Frauen und Kinder. Alte und Kranke. Sie brennen Häuser nieder und zertrampeln mit ihren Pferden die Felder. Sie schänden die jüngsten Mädchen und bestehlen die ärmsten Bauern. Sie vergreifen sich an Unschuldigen, Lord Darcun. Auf Euren Befehl hin, wenn mich nicht alles täuscht!“
Mit jedem Satz war Selene ein Stück näher getreten, bis sie direkt vor ihm stand.
„Ihr seid ein Barbar. Ihr wisst nichts von Anstand, von Tugend, von Ehre. Ihr kennt nur Grausamkeit und Brutalität - und genau aus diesem Grund wird niemand freiwillig vor Euch niederknien, wenn Ihr Euch selbst zum König gekrönt habt. Euer Reich wird nicht mehr sein als eine Wüste aus Asche und...“
„Genug!“, unterbrach sie Darcun.
Der verhaltene Ärger war aus seinem Blick gewichen, und hatte einem vollkommen anderen, undeutbaren Ausdruck Platz gemacht.
„Das also erzählt man Euch?“ Auf seine Lippen stahl sich ein flüchtiges, humorloses Lächeln. „Euer Vater ist ein schlauer Mann.“
Selene runzelte die Stirn. „Was wollt Ihr damit sagen?“
„Dass es Lügen sind“, antwortete Darcun frei heraus. „Geschichten, die man erfindet, um den Hass zu schüren. Um einfache Bauern dazu zu verleiten, die Heugabel mit dem Schwert zu tauschen.“ Und mit einem Achselzucken fügte er hinzu: „Offensichtlich funktioniert es.“
„Ich bin kein einfacher Bauer“, erwiderte Selene.
„Noch viel schlimmer.“ In einer raschen Bewegung ließ er seinen Arm nach vorne schnellen und berührte ihre Hand. Erschreckt wollte Selene zurückweichen, aber Darcun hielt sie mit eisernem Griff fest. Beinahe spöttisch und trotz ihrer heftigen Gegenwehr vollkommen mühelos betrachtete er ihre blassen, zartgliedrigen Finger.
„Eine wohlbehütete Prinzessin, deren Hände ein Leben lang nur Seide und Diamanten berührten... Wie oft muss man ihr wohl eine grausame Lüge erzählen, bis sie bereit ist, mit diesen Händen zu töten?“ Er blickte sie an. „Jeden Tag? Jede Nacht?“
Er spürte ihre kühle, weiche Haut unter seinen Fingern. Sie zitterte.
„Oder reicht schon ein einziges Mal?“
Selene wandte den Kopf, um seinem Blick auszuweichen.
„Ich glaube Euch kein Wort.“
„Natürlich nicht“, antwortete Darcun ruhig. „Ihr glaubt Eurem Vater.“
Er schüttelte verächtlich den Kopf und ließ ihre Hand los.
„Einem Vater, der es in Kauf nimmt, seine einzige Tochter zu einer Mörderin zu machen. Dachte er etwa, Eure Anmut würde mich so betören, dass ich Euch blind vertraue?“
Selene schüttelte den Kopf. „Ich verbiete Euch, so über meinen Vater zu sprechen!“
Darcun lachte kurz auf. „Ihr verbietet mir etwas? Prinzessin, Ihr seid Euch offensichtlich nicht Eurer Lage bewusst!“
„Mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin“, fuhr Selene unbeirrt fort. „Er hätte es niemals erlaubt. Er ist ein guter, ein ehrbarer Mann. Aber ich vergaß. Von Güte und Ehre versteht Ihr ja nichts.“
Diesmal erzielten ihre Worte eine vollkommen andere Reaktion. Die Falte, die zwischen Darcuns Augenbrauen erschien, war keine Zornesfalte mehr, sondern verlieh ihm einen neuen, undeutbaren Ausdruck, der Selene erschreckte.
„Es ist schade“, meinte er schließlich tonlos, „dass Ihr nicht besser von mir denkt.“
Und nach einer Weile fügte er noch leiser hinzu: „Wusstet Ihr, dass wir einander versprochen waren?“
Selene antwortete nicht, aber in ihren Augen spiegelten sich verhalten Überraschung und Unglaube. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die gerade gehörten Worte aus ihren Gedanken vertreiben.
„Bevor die Kriege ausbrachen, waren unsere Väter befreundet“, fuhr Darcun fort. „Ich besitze ein Bild von Euch aus einer Zeit, als Ihr noch nicht wusstet, dass Menschen überhaupt sterben können.“
Er zog seinen Dolch.
„Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“
Der Kriegsherr und die Prinzessin blickten sich an.
„Überhaupt keine“, flüsterte Selene.
„Überhaupt keine“, bestätigte Darcun mit der Andeutung eines wehmütigen Lächelns, dass seine Worte Lügen strafte.
„Es tut mir leid, Selene.“
Dann schnitt er ihr mit einem einzigen, gezielten Hieb seines Dolches die Kehle durch.