- Beitritt
- 18.12.2001
- Beiträge
- 1.314
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Fall
Die abgestandene Luft in dem kleinen, abgelegenen Büro am Rande der Stadt war auch heute wieder von dichten, weißen Rauchschwaden zahlloser, abgebrannter Zigarettenkippen geschwängert, als Paul gerade einen flüchtigen Blick auf die hier zum spärlichen Inventar zählende, schwarze, kastenförmige Digitaluhr warf. Die tief rot leuchtenden Segmente ihrer Anzeige markierten gerade in diesem Moment durch ihre neu angeordnete Struktur eine neue Zeit: 3:43 Uhr nachts - oder morgens. Der Digitaluhr war das einerlei. Ihre Verantwortung erfüllte sich bereits mit der exakten Messung der Zeit. Mehr blieb ihr nicht zu tun. Und mehr kannte sie auch nicht.
Die Straßen waren längst oder noch leer gefegt. Und es war still. Paul legte wie üblich keinen Wert darauf, diese ihn umgebende Ruhe irgendwie zu vertreiben. Das auf dem Schreibtisch stehende, kleine Radio eines Kollegen schaltete er so gut wie nie ein. Er saß nur ruhig da, mit auf den Tisch hochgelagerten Füßen, das Gesäß auf der weichen Polsterung des alten, längst abgewetzten Drehstuhls ruhend und den Rücken nach hinten gegen die eigentlich viel zu tief eingestellte Lehne verlagert. Während Paul gerade an einer fast abgebrannten Kippe zog dachte er über die ihm vermutlich noch bevorstehenden Anrufe nach. Je später es wurde, desto hoffnungsloser wurden seiner Erfahrung nach auch die zu behandelnden Fälle. Nach drei riefen nur noch diejenigen "Typen" an, denen es wirklich "dreckig" ging. Die schon "länger an der Nadel hingen" etwa; und dabei längst die "Kontrolle über ihr verdammtes Gift" verloren hatten. Die schon gar nicht mehr richtig wussten, ob es nun "Tag oder Nacht" sei. Manchmal kam es vor, dass er sie dabei auch noch kaum oder gar nicht verstehen konnte, mit ihren "bis zur Unkenntlichkeit" in die Länge verzerrten Stimmen und diesem "immer wiederkehrenden, irritierenden Abdriften in endlose, langweilige und abstruse Monologe", über deren Sinn Paul oft nur raten konnte. Meist machte er sich aber diese Mühe erst gar nicht. "Es mache sowieso einfach keinen Unterschied", meinte er neulich zu einem Kollegen, "ob du das Blabla von diesen Fixern nun verstehst oder nicht. Die leben doch eh längst in einer ganz anderen Welt! Die stehen ja völlig neben sich! Die haben sich von der Realität verabschiedet und das war's dann eben!" Klar: Die Adressen und Telefonnummern der Drogenberatungsstellen versucht er ihnen schon irgendwie zu "verklickern". Dafür wird er ja schließlich auch bezahlt, meinte er neulich. Und das ist schließlich sein Job. Aber viel mehr mache er jetzt nicht mehr. Davon habe er längst die Schnauze voll. "Bringt ja sowieso nichts! Außerdem arbeitet man sich dabei nur auf. Das hält ja kein Schwein aus. Man darf das ganze schließlich nicht an sich herankommen lassen! So, wie's bei'n paar ander'n war, die vor mir hier Dienst schoben. Die haben's nicht lange ausgehalten", meinte er öfter zu seinen Kollegen.
"Besonders in der langen Nachtschicht. Kein Wunder! Aber die waren auch selber schuld. Waren einfach so verdammt mitfühlend!", dachte er dabei noch für sich.
Das Telefon klingelte leise. Paul bewegte sich nicht von der Stelle.
Erst nach dem fünften Ton legte Paul ruhig seine rauchende Kippe beiseite und hob langsam den Hörer ab.
"Licht der Hoffnung! Meine Name ist Paul. Guten Abend!"
Er bemerkte, dass er diesmal doch eine Spur zu sehr ins Leiern kam und schob das auf seine Müdigkeit.
"- - -"
"Sie brauchen keine Angst zu haben."
"Hal...lo?"
"Es ist schön, ihre Stimme zu hören. Sagen Sie mir ihren Vornamen, damit ich Sie irgendwie ansprechen kann?"
Außer einem leichten Rauschen kam kein Laut aus dem Hörer.
"Sie können mir auch einen... Fantasienamen nennen, wenn Sie wollen. Damit Sie auch wirklich völlig anonym bleiben."
"Einen... Fantasienamen?"
"Ja, genau!"
Paul ließ einige Sekunden verstreichen, bis er sich entschloss, wieder etwas zu sagen. Die Stimme am anderen Ende hörte sich sehr jung an; und sie war männlich. Paul schätzte ihn auf so Anfang zwanzig, soweit er das beurteilen konnte. Sie war sehr leise, gerade noch verständlich, und hatte so etwas Abwesendes an sich. Im nächsten Moment vernahm er ein Aufatmen durch den Hörer und die Stimme flüsterte ihm ins Ohr:
"Schneewittchen..."
Paul war etwas überrascht. Er dachte daran, dass sich dieser Fall wohl etwas länger in die restliche Nacht hineinziehen könnte. Er erhoffte sich aber dennoch einen noch vor Schichtwechsel einigermaßen akzeptablen Ausgang.
"Sind Sie sich sicher, dass ich Sie so nennen soll?", entgegnete er.
Es kam keine Antwort. Aber er glaubte, ein stilles, sehr langsames Atmen vernehmen zu können.
"Also gut, Schneewittchen. Kann ich Du zu dir... ähm, ich meine Ihnen sagen?"
Eigentlich war diese Frage bei jemandem, der sich Schneewittchen nennt, wohl überflüssig, fand Paul gleich darauf. Aber er hatte sich diese Routinefrage schon so angewöhnt, dass er gar nicht mehr groß darüber nachdachte.
Erneut kündigte ein schwaches Aufatmen eine gegen irgendetwas sich aufzubäumen scheinende, leise Stimme an: "Wie ist das..., wenn man... stirbt?"
Paul setzte seine noch immer auf dem Schreibtisch ruhenden Füße jetzt langsam auf den Teppichboden des Büros und nahm eine etwas aufrechtere Position ein. Er dachte schnell nach, wie man eine solche Situation am geschicktesten handhaben sollte. Entgegen seinen Erwartungen wurde er nun etwas nervös. Er wusste aber nicht so recht, ob er das seiner Unsicherheit zuschreiben sollte oder der Angst, dass ihm der Junge jetzt direkt am Hörer ins Jenseits entgleiten würde.
"Wie fühlst du dich?", sagte er mit einer Stimme, so ruhig, wie es ihm nur möglich schien.
Nach einer ganzen, atemlosen Weile flüsterte die Stimme: "Sehr... schwach."
"Was hast du getan?", fragte ihn Paul ohne Hast.
Währenddessen kramte er in einem dicken, schwarzen Ordner mit der Aufschrift "Angewandte Psychologie" nach irgendwelchen, hier angebrachten Kniffen, die er vielleicht im Laufe der Zeit vergessen haben könnte. Er hoffte dabei, dass "Schneewittchen" das Rascheln des Papiers nicht hören würde und ging deshalb äußerst behutsam vor.
"Es waar... ganz einfaach..."
Die Stimme schien sich nun immer weiter in die Länge zu ziehen. Wie Kaugummi.
"Sprich mit mir! Hör nicht auf, zu reden!"
Paul war sich nicht ganz sicher, ob seine Vorgehensweise ganz korrekt war. Er erinnerte sich daran, einmal eine bestimmte Notiz auf gelb gefärbtem Papier mit einigen per Schreibmaschine geschriebenen, allgemeinen Ratschlägen bei Selbstmordkandidaten durchgelesen zu haben, konnte es jetzt aber beim besten Willen nicht wieder finden. Ausgerechnet jetzt! Er wusste es eigentlich schon länger, dass er endlich mal ordentlich aufräumen sollte, aber er schob die Arbeit immer auf die anderen im Büro. Aber die taten natürlich auch nichts! Wie soll man da denn anständig arbeiten können?, dachte Paul sich oft.
"Kannst du mich hören?", fragte er etwas gestresst. "Schneewittchen?"
Nach einer Weile flüsterte es verhalten: "Ja?"
"Okay. Du kannst mich hören.", entgegnete Paul bestimmt. "Sag mir, was du getan hast! Hast du Rauschgift genommen?"
Ein Ordner fiel plötzlich herunter und knallte zuerst auf den Schreibtisch und purzelte dann auf den Teppich. Paul stand inzwischen mit beiden Beinen auf dem Tisch um einige psychologische Anleitungen, an die er sich in den vergangenen Minuten wieder erinnerte, zu finden. Der Terminkalender unter seinen Schuhen zerknitterte, als er versuchte, den fliegenden Ordner im Fall noch aufzufangen und dabei mit dem linken Fuß eine leichte Drehung machte.
"Das Bluut...", flüsterte es aus dem Hörer.
"Was?" Paul war durch sein Mißgeschick gerade so abgelenkt, dass er das eben Gesagte nicht verstanden hatte.
"Was sagtest du gerade? Ich hab's nicht verstanden!"
Pauls Nervosität schlug nun in Ärger um. Was musste das gerade heute noch passieren? In zwei Stunden wär meine Schicht aus gewesen. Kann man denn nicht mal um diese Zeit seine Ruhe haben?, dachte Paul bei sich.
"Okay, Junge! Du sagst mir jetzt einfach, wo du wohnst und ich schick' dir einen Krankenwagen vorbei! Verstanden?"
"- - -"
Paul dachte, dass er vielleicht zu schnell gesprochen hatte und passte beim nächsten Anlauf seine Stimme der Trägheit des Jungen an: "Wooo wooohnst duuu?" fragte er daraufhin betont langsam.
Statt einer Antwort hörte er jetzt den Hörer des Jungen auf den Boden knallen.
"Scheiße! Scheiße!" murmelte Paul verkrampft zu sich selbst. Er hielt den Hörer jetzt so fest, dass seine Hand zu schwitzen anfing und das Plastik der Sprechmuschel unter diesem Druck fast nachzugeben schien.
"Hallo! Hallo!" brüllte er jetzt lauthals in den Hörer, in der Hoffnung, den Jungen noch irgendwie zurück holen zu können.
"Heee! Haaallooo! Komm zurüühüück!!"
Keine Antwort.
Paul stieg von seinem Schreibtisch herunter und setzte sich wieder langsam in seinen Drehstuhl. Er wartete noch eine Weile, während sein Herz noch raste. Mit höchster Konzentration lauschte er am Hörer jedem noch so leisen Ton, der ihm vielleicht irgendwie Aufschluss über den Aufenthaltsort des Jungen geben könnte. Sicher: Er wusste, dass diese Chance äußerst gering war. Aber Paul erhoffte sich dennoch einen wie auch immer gearteten, kleinen Hinweis.
Aber es kam nichts mehr.
Stille.
Er wartete noch einige Minuten. Dann gab er schließlich auf um die Leitung freizugeben.
© 2001 _ Die philosophische Ratte
[ 15.07.2002, 23:56: Beitrag editiert von: Die philosophische Ratte ]