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Feldmann
Der Beamte presste seinen Zeigefinger auf eine unbeschriebene Stelle in der Mitte des Fragebogens. Dann murmelte er irgendetwas.
"Wie bitte?" fragte Herr Feldmann höflich.
"Ihren Hausarzt."
"Hausarzt?"
"Ja, Hausarzt. Hier, Spalte 13." Er schob Feldmann das Formular über den Tisch hinweg zu wie eine fehlerhafte Schularbeit. Feldmann zuckte die Achseln. "Ich habe keinen Hausarzt."
"Dann schreiben Sie eben den Arzt hin, bei dem Sie zuletzt in Behandlung standen."
"Auch hier muss ich Sie enttäuschen", sagte Feldmann leise, "denn ich war überhaupt noch nie in Behandlung eines Arztes."
Der Mann hinterm Schalter erbleichte, wie alle Beamten wenn ihnen etwas Neues begegnet. "Soll das heißen, dass Sie noch nie einen Arzt gerufen haben, wenn Sie krank waren?"
Und nun sprach Herr Julius Feldmann, 45 Jahre alt, Gatte der Aloisia Feldmann, geb. Hintermüller und Vater von zwei Kindern den bedeutenden Satz: "Ich war noch nie krank."
Dabei sagte er das nicht etwa wie "Sein oder Nichtsein" oder wie "Liebe Fraktionsfreunde!", sondern ganz einfach wie "Meiers haben einen neuen Hund". Einfach so.
Der Beamte war sichtlich gebrochen. Er griff in die rechte Schublade, holte ein Glasröhrchen heraus und nahm eine Beruhigungstablette. Dann wandte er sich wieder dem Mann, vor dem Schalter zu. "Erinnern Sie sich doch!" flehte er. "Als Sie noch ein Kind waren, vielleicht ...“
"Es tut mir leid", sagte Feldmann fröhlich, "aber ich bin vollkommen sicher."
"Gut, wie Sie wollen", murmelte der Schaltermann, und schrieb in die betreffende Spalte sehr säuberlich: "Noch nie krank gewesen!!" mit zwei ganz giftigen, spitzen, sensationslustigen Rufzeichen dahinter.
Als Herr Feldmann am nächsten Morgen erwachte, hörte er lautes Volksgemurmel. Neugierig trat er ans Fenster und sah eine große Menschenmenge, die auf der Strasse herumstand und auf irgendetwas zu warten schien. Er zog sich hastig an und eilte hinunter. Kaum hatte er das Haus verlassen, verstummten die Leute und blickten alle auf ihn. "Das ist er!" rief einer aus der Menge.
Dieser Ausruf beendete das ruhige, einfache, bürgerliche Leben des Herrn Feldmann. Man umringte ihn. Kameras wurden gezückt, Blitze zuckten und Notizblocks warteten auf Interviews. Jemand drängte sich vor. "Ist es wirklich wahr, dass Sie noch nie krank waren?"
Jetzt begann Feldmann zu begreifen. Ängstlich wie ein umstelltes Wild blickte er um sich. "Ja", sagte er ganz leise. Dann schlugen die Wogen der Presse über ihm zusammen.
Kaum waren die Extrablätter verteilt, ging der Wirbel los. Zuerst kamen die Rohköstler, die Abstinentenverbände, die Strunzanhänger, die Frühsportler. Aber sie alle kamen umsonst. Feldmann hatte nie irgendwelche Regeln befolgt, und für falsche Zeugnisse war er zu ehrlich. Dann kam die Industrie. Tagelang nötigte man ihn, Nährmittel, Extrakte, Kräutermischungen, Gesundheitsbrote usw. zu kosten. Schließlich war der Arme so verwirrt, dass er ein doppeltgroßes Sparstück Lunaseife aufaß und ein Attest auf "wohlschmeckend und leicht bekömmlich" ausstellte.
Bald war der neue Name auch Mittelpunkt der Reklamelyrik: "Feldmann gibt auch dir den Rat: "Meiers Eiweißkonzentrat!", "Feldmann sagt: hast du Verdruss, lies den Simplicissimus!" usw. usw.
In den Schaufenstern der Buchhandlungen dominierte die Feldmannliteratur: "Feldmann und die Kirche", "Feldmann und das Atomzeitalter", "Julius Feldmann: Das war mein Leben". Die Ärzteromane sanken von Bestsellern zu Ladenhütern herab, für die kaum der Papierpreis zu erzielen war.
Auch die politischen Parteien ließen nicht lange auf sich warten. In Anbetracht der bevorstehenden Wahlen setzten sie alles daran, um Feldmann auf ihre Kandidatenlisten zu bekommen. Vergeblich. Dafür wuchs die Feldmannverehrung ins Unermessliche. Idole wie Elvis Presley, Marlon Brando und Konsorten gerieten mit einem Schlag in Vergessenheit.
Während so das Land vom Feldmannfieber geschüttelt wurde, während die Illustrierten Sondernummern herausgaben und sogar Feldherrnmemoiren, das Rätsel von Maierling und sämtliche Aristokratenhochzeiten zurückgestellt wurden, tagte in der Aula der Universität Göttingen eine Geheimsitzung der Geschädigten. Ärzte aus allen Teilen des Landes waren zusammengekommen, um den Gegenschlag zu planen. Ein Bauunternehmer, dessen größerer Auftrag für Krankenkassenpaläste in Gefahr schien, war auch dabei. Man beschloss nach zehnstündiger Debatte die "Aktion Feldmann". Ein Ambulanzwagen - mit fünf kräftigen Ärzten - sollte die Durchführung erleichtern.
Feldmann selbst befand sich auf einer großen Propagandareise, auf die ihn seine Anhänger geschleppt hatten. Plakate, Transparente und Sprechchöre verkündeten die neue Parole: "Einig tönt's wie Sturmgebraus: Feldmann muss ins Bundeshaus!"
Gesundsein war große Mode geworden. Wer ein kleines Leiden hatte, verschwieg es verschämt, und simulieren war plötzlich verpönt. Millionen Leute entdeckten, dass man auch ohne die vielen, von Psychoanalytikern, Spezialärzten und findigen Apothekern erfundenen Luxusleiden leben konnte. Die Aktien der Heilmittelindustrie wurden wie Butterbrote gehandelt. Heilbäder und die teuren Luxuskurorte mussten schließen.
In Köln warteten Hunderttausende auf das große Ereignis: Eine neue Brücke sollte bei der Einweihung den Namen "Feldmannbrücke" erhalten. Dem so geehrten wurde auf einem seidenen Kissen die vergoldete Schere zum Durchschneiden des traditionellen Bandes gereicht. Er nahm sie, doch verwirrt durch die Größe des Augenblicks, nahm er sie beim falschen Ende und stach sich in den Daumen. Im nächsten Moment standen zwei Sanitäter neben ihm. "Um Gotteswillen!" rief der eine. "Das kann ja eine Blutvergiftung geben." "Da ist Erste Hilfe nötig", sagte der andere, und ehe die Umstehenden recht begriffen hatten, war Feldmann in dem bereitstehenden Ambulanzwagen verschwunden, dieser fuhr an und entfernte sich mit großer Geschwindigkeit.
In dem Spital, in das man Feldmann brachte, herrschte große Aufregung. Die Sanitäter legten ihn auf einen Operationstisch und schnallten ihn fest.
"Herr Feldmann", sagte der Leiter der Ärztekommission, "wir haben mit Interesse vernommen, dass Sie Ihrer Meinung nach vollkommen gesund sind. Da der psychoanalytischen Praxis jedoch auch Fälle bekannt sind, in denen Leute die feste Überzeugung vertreten, Napoleon Bonaparte, Elvis Presley oder Julius Caesar zu sein, werden Sie verstehen, dass wir den Berichten über Ihre angebliche Gesundheit nicht ohne Skepsis gegenüberstehen. Ja, wir sind sogar der Ansicht, dass Sie sehr krank sind. Ihr größtes Leiden ist bedauerlicherweise eine Krankheit, von der man annahm, dass sie der modernen Medizin endgültig zum Opfer gefallen sei: Der Komplexus ahypochondricus. Was Ihnen sonst noch fehlt, werden die hier anwesenden, durchwegs namhaften Spezialisten nun feststellen."
Dann begann die Untersuchung. Die Ergebnisse wurden laufend der Presse mitgeteilt: Feldmann hat Blinddarmreizung, Feldmann hat Sehstörungen, Feldmann hat Herzasthma, Feldmann hat.., Feldmann hat.., Feldmann hat ...
Jeder Tag brachte neue, Leiden zum Vorschein. Manche von ihnen hatten noch gar keinen Namen. man nannte sie dann einfach Feldmanngeschwür, Feldmannkatarrh, Feldmanndefekt usw. Das Medizinische Lexikon erhielt einen Nachtragsband zum Buchstaben F.
Nach drei Monaten wurde ein Schlussbulletin herausgegeben, dem zu entnehmen war, dass alle Körperteile Feldmanns von durchwegs schwerwiegenden Krankheiten befallen waren. Nur das linke Ohrläppchen sei OB gewesen. Bisher. Denn ein schwarzer Punkt in der Mitte desselben könne nach einer Hypothese des zuständigen Spezialisten eine neuartige Krebsart darstellen, den sogenannten Feldmannkrebs. Zur Abklärung dieser letzten Frage wurde das Läppchen abgetrennt, und an den berühmten amerikanischen Spezialisten Henry Dollar gesandt.
Das war die Geschichte vom Aufstieg, und Fall des Revolutionärs und Reformators Julius Feldmann.Feldmann geht jetzt wieder zur Arbeit. Das Wochenende verbringt er wie früher im Schrebergarten. Und im ganzen Land sind die Krankheiten wieder in die Einbildungswelt der Menschen zurückgekehrt.
"Du, es sticht mir!" sagt er, und sie flüstert zärtlich: "Ja ja, die Managerkrankheit." Dann lächeln sie beide stolz.