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Fetttage
Max klingelte an meiner Tür. Ich konnte mich nicht bewegen und so blieb ich in dieser halb sitzenden, halb liegenden Position im Sessel stecken, in der man gerade noch atmen und gerade noch über seinen Bauch hinweg auf den Fernseher starren kann. Dass es Max war hatte ich an der typischen Abfolge von knarrenden Stufen und Geländerquietschen gehört, die er immer verursachte, wenn er von über mir, wo er wohnte, zu mir herunterkam.
„Ich kann grad nicht!“ rief ich durch die angelehnte Wohnzimmertür in den Flur. Keine Ahnung, ob er das hörte. Ich hörte nur, wie er sich wieder nach oben verkrümelte. Aber es stimmte. Ich konnte gerade nicht aufstehen. Denn ich hatte gevöllt. Unsagbar gevöllt.
Seit Tagen tat ich nichts anderes als Essen. Weihnachtsfeier am Freitag vor Heiligabend, Einladung zur Gans mit Rotkohl und Klößen am Samstag. Am Sonntag Brunch von 10:00 bis 17:00 Uhr. Ein einziges Geesse, ununterbrochen. Abends war Henrik noch mit einem Weihnachtsdöner vorbeigekommen. Der Türke hatte da Zimt beigemischt. Dann der Nachtzug zur Familie. Passend zum traditionellen Heiligabendfrühstück war ich da. Mittags Kartoffelsalat mit Würstchen, abends wieder Gans, wieder Rotkohl, wieder Klöße. Dann Bescherung mit Weihnachtsteller. Es gab Zustände, denen entwuchs man nie, egal wie alt man war. Am ersten Feiertag ging es vom Frühstück direkt zum Kaffee über, Kekse, die weg mussten, weil Weihnachten ja nun bald vorüber sein würde, Gebirge von Christstollen, die die aus der entsprechenden Region stammende Verwandtschaft immer noch zum Bäcker brachte, da der eigene Ofen zu klein für die Massen war und dieselbe Verwandtschaft machte dann am zweiten Feiertag „Nänälä“ oder wie man auf Hochdeutsch sagte „Neunerlei“, ein mal wieder traditionelles Gericht, das aus neun Köstlichkeiten bestand, die in den Schüsseln und auf dem Teller aussahen wie mindestens 38 Köstlichkeiten und die alle aufgegessen werden mussten, damit man das ganze nächste Jahr Geld in der Tasche hatte und danach wieder Kekse und Christstollen und abends Ente mit „Grienen Kleeßen“ oder so ähnlich. Wie ich das überlebt hatte wusste ich nicht mehr. Auch nicht, wie ich danach, halb im Delirium, in den Zug zurück in meine geliebte Berliner Einsamkeit gefallen war oder wie ich es gar vom Bahnhof zur Wohnung geschafft hatte. Alles weg. Nur der der Geschmack von Ententalg auf der Zunge und der pudezuckerverklebte Gaumen und die Schokoladenflecken, auf ungefähr jedem Kleidungsstück, das ich die letzten Tage getragen hatte, die waren geblieben.
Und nun saß ich im Sessel, in den ich vom Bett aus gefallen war, die linke Hand grabbelte an Fernbedienung und Weinflasche, die rechte hing in der Keksdose, aus der ich mir die Reste vom Fest mechanisch in den Mund stopfte, Geleesterne und hohle Nikoläuse, Liebesperlenringe und trockene Spekulatius. Ich war unfähig zu mehr oder zu anderem, unfähig mich zu bewegen, unfähig zur zwischenmenschlichen Kontakten oder auch nur zur Kommunikation, unfähig zu einem anderen Leben. Gepresst, gestopft, gevöllt, angefüllt mit Fett und Zucker bis zum Kragen der Discounter-Fleecejacke, die ich trug, und nur darauf aus mich weiter volllaufen und zudröhnen zu lassen mit Resten, Alkohol und billigem Fernsehschund, völlig besudelt von innen wie von außen und nie wieder laufen, ja nie wieder aufstehen müssen, geschweige denn selbstständig aktiv werden oder Arbeiten gehen, das war mir Ziel und Grauen zugleich. Da klingelte das Telefon.
Ich fingerte es unter dem Sessel hervor. Nur nicht zu viel bewegen. Max ruft an stand auf dem Display. Ich ging ran. „Hä“, machte ich in den Hörer.
„Hey, wieso machst du denn die Tür nicht auf?“ fragte Max am anderen Ende der Leitung, das genau über meinem Kopf war.
„Kann nicht“, hechelte ich und bemerkte, dass es mich schon sehr anstrengte: „bin platt.“
„Wieso?“ fragte Max: „hast du Sport gemacht über Weihnachten?“
Ich wollte lachen konnte aber nur keuchen.
„Gefressen“, sagte ich. Einwortsätze erschienen mir am Sinnvollsten.
„Oh“, machte Max nun. Er schien es also genauso zu sehen.
„Und, wie wars bei der Familie?“ fragte er dann.
„Willst du mich verarschen?“ presste ich heraus. Da ich danach keine Luft mehr bekam schob ich mich keuchend etwas in meinem Sessel nach oben.
„Mh“, machte Max.
„Was willst du eigentlich?“ fragte ich ihn.
„Ach, ich bin so alleine“, sagte Max.
„Wo isn Lisa?“ fragte ich.
„Bei ihrer Familie, bleibt noch bis nach Neujahr“, antwortete Max.
Ich keuchte in den Hörer.
„Ich dachte …“, machte Max, brach dann ab.
„Mhpf“, machte ich. Dann schob ich schnell eine Marzipankartoffel in meinen Mund, um meinen Unbill zu unterdrücken. Schließlich war es noch fast Weihnachten.
„Naja …“, machte Max.
„Wasn“, mampfte ich mit vollem Mund.
„Kann ich nicht runterkommen und wir können ein bisschen kuscheln? Ich bin doch so alleine hier oben.“ Max klang richtig mitleiderregend. Ich könnte förmlich durch das Telefon sehen, wie er die Brauen zusammenzog und traurig nach oben schob. Das konnte er ziemlich gut.
„Ich ess grad“, mampfte ich zurück oder vielmehr pampte ich es.
„Kann ich nicht runterkommen, nur ein bisschen“, versuchte Max es erneut.
„Mh. Ich muss nachdenken“, blökte ich zurück. Ich überlegte. Einerseits war Sex Sport. Und dazu war ich nun gerade wirklich absolut nicht in der Lage. Andererseits war es wohl irgendwie nötig, ja wahrscheinlich sogar unumgänglich, dass ich früher oder später aus Weihnachten und den Zwischentagen ausbrach und in mein altes Leben zurückkehrte. Oder überhaupt in irgendein Leben. Vielleicht am Besten jetzt schon damit anfangen? Oder doch erst im Neuen Jahr?
„Das dauert aber lange“, sagte Max mit spitzer Stimme.
„Ja“, pampte ich: „mein Gehirn kann sich nicht bewegen.“
„Oh, du musst dich gar nicht bewegen“, sagte Max: „ich kuschel mich einfach an dich und bleib ganz ruhig liegen. Oder sonst beweg ich mich, falls ich doch Lust dazu bekomme, du musst gar nichts machen.“
Ich dachte fieberhaft nach. Gemütliche Fernsehtranstunden gegen aufregenden Sexabend, Schokokugel- gegen Schwanzlutschen, Lisas Babykugel gegen meinen Völlerei-Blähbauch. Wieso war das Leben nur so hart und verlangte einer derartig schwierige Entscheidung von mir?
„Na gut, komm runter“, sagte ich.
„Ok, ja, bis gleich, freu' mich“ sagte Max und ich glaubte ihn sogar Lächeln zu hören. Keine halbe Minute später klingelte es wieder an der Tür und klopfte auch. Ich ließ die Fernbedienung aus der Hand fallen, schaute über meinen runden Bauch auf die flimmernden Bilder. Ich atmete ein. Dann aus. Stützte mich auf den Armlehnen ab. Erhob mich ein paar Zentimeter aus den Polstern. Dann holte ich Luft. Es ging nicht. Ich fiel schwer zurück.
„Sorry, ich kann doch nicht aufstehen“, rief ich erneut den Flur hinunter: „Geht einfach nicht. Tut mir le-heid.“
Ich hörte Max etwas sagen, von vor der Tür, verstand es jedoch nicht. Dann sprach er nochmal, ein bisschen lauter. Dann verrieten die Geräusche, dass er wieder nach oben ging. Ich ließ mich wieder in den Sessel sinken und seufzte erleichtert. Gleich schob ich mir eine weitere Marzipankartoffel in den Mund. Ich schaute wieder auf meinen Bauch und auf den Fernseher. So war es besser. Das Telefon klingelte nicht noch einmal. Ich war erleichtert.