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Feuer
Es gibt Menschen, die mitunter das starke Bedürfnis verspüren, ihre eigenen Grenzen zu entdecken und an diese zu stoßen – sie gar zu erweitern. So etwas kann in Form von körperlicher Ertüchtigung geschehen oder durch die Annahme besonderer Herausforderungen psychischer Natur.
Es gibt aber auch solche, die gern herausfinden möchten, wo die Grenzen anderer Menschen liegen, und zwar die deren Geduld oder Gutmütigkeit. Zu eben solchen zählte Hannes – abstehende Ohren, auffallend große Nase und mit Pomade zurückgekämmtes Haar. Hannes war nicht das, was man gemeinhin als kräftig bezeichnen würde. Das war auch nicht nötig, denn stets versammelte er seine Brüder und deren Freunde um sich, die ihn in Schutz nahmen, wenn er sein Spiel einmal wieder zu weit getrieben hatte.
Täglicher Treffpunkt der „Boyz“ war „Der Dorn im Auge“, eine Kleinstadtkneipe mit Billard, Dart, Flipper und einem Spielautomat. Natürlich war das Lokal schon am Nachmittag geöffnet. Wo sonst hätte die arbeitslose Dorfjugend ihre Unmengen von Zeit totschlagen sollen? Aber wie es nun einmal ist, kann selbst an Orten, die der Vertreibung der Langeweile dienen sollen, dieselbe eintreten.
So kam es Hannes sehr gelegen, als sich eines Nachmittags durch lautes Brummen von Motorrädern eine Rockerbande ankündigte, denen jeder, der sie kannte mehr als bloßen Respekt erwies – außer Hannes.
Die Männer, etwa zehn an der Zahl, traten ein, nahmen auf den Barhockern Platz und bestellten friedlich ihre Drinks. Ließ man sie in Ruhe, ließen sie einen auch in Ruhe. Eine Tatsache, mit der sich ein Gast nicht recht abfinden wollte.
Hannes saß bereits neben einem der Männer in Kutte, die auf dem Rücken das Emblem der Clique zeigte – einen Stahlhelm tragenden Schädel –, und spielte mit seinem Feuerzeug. Ständig fielen ihm die Fransen auf, mit welchen die Kutte behangen war. Sie ließen ihm keine Ruhe. Was würde wohl passieren, wenn . . .? Konnte Hannes diese Frage noch unbeantwortet lassen? Die Versuchung drängte sich geradezu auf: Der Rocker saß mit dem Rücken zu ihm gewandt und unterhielt sich mit seinem Sitznachbarn. Hannes hielt das Feuerzeug bereits seit geraumer Zeit in der Hand. Es galt im Grunde lediglich, eine einfache Bewegung mit dem Arm auszuführen, dann eine weitere mit dem Daumen, und es würde sich eine völlig neue Situation ergeben!
Jetzt war er bereit. Er erledigte sein Vorhaben. Die Fransen fingen sofort Feuer, Hannes aber wartete noch ein wenig ab, bis es sich unbemerkt weiter ausgebreitet hatte. Anschließend tippte er dem Mann auf die Schulter und sagte: „Hey – deine Jacke brennt!“ Drei kurze Worte von folgenschwerer Bedeutung.
Hannes schrie, bettelte, wimmerte, als man ihm den Kopf im Aschenbecher auszudrücken versuchte. Seltsam, diesmal kamen ihm die Brüder mit ihrer Gefolgschaft nicht zu Hilfe.
Hannes hat dafür eine seiner Grenzen kennen gelernt: die Schmerzgrenze.