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Final Shutdown
Sie stand vor der Tür, um einen Moment zu zögern. War es wirklich die einzige Möglichkeit, gäbe es keine andere Lösung? Natürlich waren da andere Alternativen, aber sie kannte sich gut genug, hatte Angst sich in ihrer eigenen Inkonsequenz zu verfangen. Eine Kette unendlich oft gewälzter Gedanken, für die ihr in den letzten Wochen die Kraft abhanden gekommen war, sie weiter zu drehen und zu wenden. Nach einem letzten innerlichen Kampf gewann die Entschlossenheit Oberhand, sie drückte die Türklinke herunter und schlich sich herein. Es war dunkel, fast vollständig dunkel. Dennoch wusste sie natürlich, wie weit sie gehen musste. Ein Schritt, noch einer und schliesslich stand sie über ihm. Es war ruhig im Raum, totenstill beinahe. Sie fasste den Hammer und hob ihn über ihren Kopf. Es war ein schwerer Hammer, sie hatte Mühe ihn hochzuheben, möglichst hoch, ohne dabei an die Decke oder die Lampe zu stoßen. Wie lange hatte sie überlegt, Pläne geschmiedet und verworfen, das große Küchenmesser, die Handsäge aus dem Keller, die Geflügelschere, alles war ihr schließlich ungeeignet erschienen, bis sie diesen Hammer entdeckt hatte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, denn er würde auf einen Schlag ihre Probleme lösen.
Dieser eine Schlag musste sitzen. Während sich ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen begannen, versuchte sie seine genaue Position auszumachen. Schließlich war sie sich sicher. Was wären die Konsequenzen ihrer Tat? Da war er wieder, dieser ewig währende Kampf zwischen für und wider, der unheilbringende Dualismus der Möglichkeiten, dem ihr Verstand nicht endgültig Herr werden konnte. Es würde ein ungewöhnliches Geräusch geben, die Nachbarn würden vermuten, sie habe etwas heruntergeworfen, zumindest, wenn alles mit einem Schlag erledigt werden könnte. Tabula rasa, es durfte einfach kein zweiter Schlag nötig sein. Und dann? Das Licht anmachen, ihre Digitalkamera holen, ein Foto von der Szene des Grauens aufnehmen und in eine Fotocommunity posten? Keine wirkliche Aussicht, damit unter den Top-Ten zu landen, auch mit perfekter Ausleuchtung, raffiniert platzierten Glanzlichtern und einer ungewöhnlichen Perspektive. Oder vielleicht sich in irgendeine Newsgroup einhacken und über das Geschehen dieser Nacht auskotzen? Detailgetreu und hautnah, voller Tippfehler aber erfrischend authentisch. Auch das wäre keine wirkliche Option mehr, wenn sie ihr Vorhaben ausgeführt haben würde.
Oder statt dessen eine Kurzgeschichte schreiben, ins Netz stellen, in der Hoffnung zustimmende Kommentare zu ernten, im Stile von: "Toll dein Schreibstil, so lebensnah und dramatisch!" Ebenfalls reichlich doof, und keine realistische Alternative. Sie begann das Gewicht des Hammers in ihren Oberarmen zu spüren, ein leichter Anflug von Zittern überkam sie. Blieb noch irgendein nächtlicher Chat-Room zur Hälfte gefüllt mit lüsternen Wüstlingen sowie unterhaltungsüchtigen Teenies, die um diese Uhrzeit nichts Besseres zu tun hätten, als garantiert zweckfrei zu kommunizieren.
Warum musste sie ausgerechnet in diesem Augenblick an das Internet denken? Sie stand im Begriff, eine alles andere als virtuelle, un-editierbare, ja vielmehr un-umkehrbare Tat zu begehen und verfing sich in altbekannten Gedankengängen. Natürlich kannte sie die Antwort, nämlich dass sie in letzter Zeit zuviel ihrer Energie diesem Medium gewidmet hatte. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen, als Entdeckungsreise, getrieben durch gesunde Neugier. Sie konnte aus heutiger Sicht nicht einmal einen Zeitpunkt benennen, an dem ihre Neugier der Gier oder gar der Sucht gewichen war. Alles war mit einer schleichenden Selbstverständlichkeit abgelaufen, es war einfach immer weniger freie Zeit geblieben für Theaterbesuche, für ihre Freundinnen, zum Joggen. Stattdessen hatte sie lange Abende und halbe Nächte auf Entdeckungsreise verbracht, geschützt durch Pseudonyme wie Terminatrice, FatalFamme oder Medusa23 sich in Blogs herumgetrieben, in Newsgroups für missbrauchte Frauen ihre gut gemeinten Ratschläge angebracht oder arbeitslosen Hauptschulabsolventen Bewerbungstipps gegeben.
Schließlich hatte sich irgendwann ein geregelter Tagesablauf eingestellt, sie glaubte in einem stabilen Zustand angekommen zu sein: Von der Arbeit heimgekehrt, rief sie den Inhalt der verschiedenen Mailadressen ab, und sah nach wer in diesem oder jenem Thread auf ihre Beiträge geantwortet hatte. Gleichzeitig nahm sie eine Kleinigkeit zu Essen zu sich, eine Tafel Schokolade in der Regel. Ihr Vorgehen war eine Erfolgsgeschichte, denn sie hatte es geschafft, wichtig zu sein, anerkannt, für mittelmäßige Digitalbilder nette Kommentare zu bekommen und schlüpfrige Komplimente in den entsprechenden Newsgroups und Chat-Rooms. Niemand konnte erahnen, wieviel Kilos sie auf die Waage brachte und es vermied, sich zu wiegen oder morgens im Spiegel zu betrachten. Wenn sie sich in irgendeinem Forum nicht mehr wohl fühlte, verschwand sie spurlos, um irgendwo anders aufzutauchen, hallo ich bin die Neue, möchte mal sehen, was hier so abgeht.
Dort wo es üblich war, ein Persönlichkeitsprofil anzulegen, hatte sie Bilder hinterlegt, die sie irgendwoanders heruntergeladen hatte, aus Modefotografien zum Beispiel. Seltsamerweise war noch niemand hinter diesen kleinen Betrug gekommen und die Ausbeute an charmanten Zuschriften meist männlicher Surfer war enorm. Die Faszination lag in der unglaublichen Freiheit, alles aussprechen zu können, wovon sie überzeugt oder was sie eigentlich für grundfalsch hielt, sich daneben benehmen zu können, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, andere zu verletzen oder anzuhimmeln, immer aus sicherer Distanz heraus, getrennt über mehrere Kilometer Glasfaserkabel. Es war dies eine Freiheit, die das "Wirkliche Leben" nicht zu bieten hatte. Sie hatte es perfektioniert sich einzubringen, eine Meinung zu äußern, Position zu beziehen, Charme zu verprühen, wo sie auf echte Zuneigung zu stoßen schien. Sie genoss es, begehrt zu werden, von Männern, die sie sicherlich abstossend finden würde, betrachtet durch das Vergrößerungsglas des wirklichen Lebens, und die auch sie vielleicht nicht interessant finden würden.
Das Spiel wurde Runde um Runde berauschender und durchgeknallter, bis zu jenem Abend, an welchem ihr klar geworden war, dass sie etwas Wesentliches verloren hatte. Auf unerklärliche Weise war jener Notizzettel, welcher immer neben dem Rechner gelegen hatte ins Altpapier gewandert und mit ihm sämtliche Zugangscodes und Passwörter. Natürlich, an einen Teil konnte sie sich erinnern, andere aus dem Zwischenspeicher ihres Browsers retten, aber eben nicht alle. Damit hatte sie einen Teil ihrer virtuellen Identität verloren, unwiederbringlich, denn ihr rebellierendes Gedächtnis wollte das einstige Wissen nicht wieder Preis geben. Es war das der Moment, als sie den Entschluss fasste, dass sich etwas in ihrem Leben ändern müsste, radikal ändern.
Diese Entscheidung hatte sie schließlich in letzter Konsequenz dorthin gebracht, wo sie nun stand, mit verdächtig zitternden Armen, welche das Gewicht des ungewohnt schweren Vorschlaghammers nun nicht mehr länger halten konnten. Endlich schlug sie zu. Nicht dass sie der Mordwaffe viel Schwung hätte mitgeben können, es war eher ein kraftloses Herabfallen im Sinne von halb zog sie ihn, halb sank er hin. Dennoch traf die Kante genau dort auf, wohin sie gezielt hatte. Auch der daraus resultierende Lärm hielt sich in Grenzen, war dumpfer und unauffälliger als erwartet. Der Schweiß lief ihr von der Stirn, einen Moment noch nahm sie sich Zeit, die verkrampften Hände vom Stil zu lösen, zum Lichtschalter zu gehen und das Licht anzumachen.
Die Helligkeit zwang sie, die Augen für einen Moment zu schließen. Dann sah sie, wie sie ihn zugerichtet hatte. Das Gehäuse war aufgebrochen, aus dem Inneren quollen mehrere angebrochene Platinen hervor, das Gehäuse der Festplatte war sichtlich deformiert und hatte seinen angestammten Platz verlassen. Nie wieder online, es war vollbracht. Sie würde nun ein neues Leben beginnen müssen.