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Fingerspitzengefühle
Es war nie leicht für mich, ein Geschenk für meine Mutter auszusuchen. Sie isst keine Süßigkeiten, trägt nur ein einziges Parfüm und hält die meisten Dekorationen für Staubfänger. Nächste Woche wird sie fünfzig und alle in der Familie glauben offenbar, dass sie ihr das wunderbarste Geschenk ihres Lebens besorgen müssen. Ich habe noch nichts. Nur einmal wusste ich, was sie sich wünschte.
Ich war neun Jahre alt, als wir gemeinsam einen Tiffany-Laden besuchten. Sprachlos bestaunte ich die vielen Glasdekorationen, die feingezeichneten Bilder, die filigranen Löt-Verzierungen, die leuchtenden Farben. All diese Herrlichkeiten flößten mir solchen Respekt ein, dass ich mich davor fürchtete, den Gegenständen zu nahe zu kommen. Meine Mutter musterte die Schätze mit ihrem kritischen Blick, bis sie Gefallen an einem Fensterbild mit roten Tulpen fand. Der Preis war ihr zu hoch und wir verließen das Geschäft ohne Kauf. Ich dachte lange daran, wie zufrieden meine Mutter ausgesehen hatte, als sie vorsichtig über die bunte Fläche strich. Hin und wieder sah ich diesen Blick, wenn ich mit einer Eins nach Hause kam, aber nicht immer. Meistens strich sie mir über den Kopf, so kurz, dass ich es kaum spürte und unterbrach mich, wenn ich ihr mehr darüber erzählen wollte. Manchmal fragte sie mich ein paar Tage später, ob ich die Arbeit schon wiederbekommen hätte.
Mein Taschengeld reichte natürlich nicht für ein solches Geschenk, weder für Tiffany noch für eine billige Kopie. Doch ich konnte gut malen. Ich kaufte mir einen neuen Wasserfarbkasten und suchte im Lexikon eine Tulpenvorlage. Drei Nachmittage malte ich fieberhaft an meinem Bild. Immer wenn ich unsicher war, ob sich meine Mutter freuen würde, dachte ich an ihr Lächeln im Laden zurück. Am Abend vor ihrem Geburtstag schnitt ich das Bild zurecht, wickelte es in durchsichtige Folie und verschloss mein Werk mit einer großen, violetten Schleife. Es gefiel mir, aber irgendetwas fehlte. Ein Rahmen. Ich hatte kein Material, also beließ ich es so und überreichte es am nächsten Morgen. Meine Mutter bedankte sich, strich mir über den Kopf und lächelte. Nicht das Tiffanyladen-Lächeln. Als ich erklärte, dass noch ein Rahmen fehlte, geriet ich ins Stottern. Ich versprach eifrig, ihr in den nächsten Tagen noch einen Rahmen zu basteln. Sie nickte und ich musste zur Schule. Gleich danach kaufte ich dunkle Pappe. Zuhause war ich allein, genug Ruhe, um den Rahmen zu basteln. Zufrieden mit dem Ergebnis, suchte ich nach dem Bild, um meine Mutter zu überraschen. Es hing weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Mit klopfendem Herzen betrat ich ihr Schlafzimmer. Eigentlich durfte ich hier nicht hinein, aber sie würde sicher Verständnis haben. An Fenster und Wand hing nichts. Ich schaute mich um. Nach endlosen Minuten fiel mein Blick zum Schrank. Oben drauf lag etwas und lugte über den Rand hervor. Ich erkannte die durchsichtige Folie sofort. Und die violette Schleife. Fest verknotet. Zurück in meinem Zimmer, legte ich den Rahmen in die unterste Schreibtischschublade.
Vor zwei Wochen stand ich vor einem Tiffany-Laden und sah ein Tulpenbild, ganz ähnlich dem von damals. Ich ging hinein, fragte nach dem Preis und strich über das kühle Glas, was ich mich als Kind nicht getraut hatte. Einen Augenblick lang überlegte ich. Dann verließ ich den Laden.