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Fluss
O.T.
Gleich hinter unserem Haus führte damals eine große, alte Holzbrücke über den Fluss, welcher die kleine Stadt in die eine und die andere Seite teilte. Mein Vater, nahezu unversehrt aus dem Krieg heimgekehrt, mochte es sehr, die vorbeikommenden Menschen zu beobachten. Leute, die er kannte, wurden kurz gegrüßt, andere, die er nicht kannte und die ihn nicht grüßten, wurden von ihm beflissentlich ignoriert. Trotzdem regte er sich immer furchtbar darüber auf. Einfach nicht zu grüßen! Trotzdem saß er am nächsten Tag wieder an der Straße.
Sein Lieblingsplatz war eine alte Bank, die direkt an unserem Gartenzaun stand. Die Bank hatte noch sein Großvater zusammen gezimmert, die Geschichte kannten wir. Die geht nicht kaputt, sagte er immer. Dann stopfte er seine Pfeife und beobachtete zufrieden das Geschehen auf der Straße. Mit einigen Leuten wurde sich kurz unterhalten. Bürgermeister Giese zum Beispiel. Ein Kriegskamerad. Als einer der letzten aus dem Kessel raus. Soviel wusste man. Leider hatte er ein Bein verloren, aber erst nach dem Krieg. Ein Unfall beim Pflügen. Das Holzbein klang hohl, wenn man darauf herumklopfte. Das durften wir Kinder manchmal. Mit Frau Lossing dagegen grüßte man sich nur. Ihr Mann war tot. Selbstmord. Kurz bevor der Ami damals einrückte. Das war verdächtig, da hielt man sich lieber heraus und wir Kinder mochten sie sowieso nicht. Sie benahm sich irgendwie merkwürdig.
Bertchen Vollmer, der beste Freund meines Vaters, kam oft über die Brücke gehumpelt. Er hatte vor dem Krieg auf der anderen Seite eingeheiratet. Seine Frau war sehr jung gestorben und so kam er sooft es ging zu meinem Vater herüber. Mit Bertchen wurde stets lang und breit erzählt und Anni musste den beiden Flaschenbier – aber immer nur eine Flasche für jeden – bringen. Tante Anni, eigentlich Anna, die Schwester meiner Mutter, besorgte meinem Vater den Haushalt. Meine Mutter war kurz nach Kriegsende gestorben. Sie lag eines Morgens einfach tot in ihrem Bett. Ihr Grab war ganz hinten auf dem neuen Friedhof und wir Kinder gingen fast jeden Tag dorthin. Im Sommer legte ich immer frische Blumen auf das Grab. Das sah schön aus.
Fast sechs Jahrzehnte später saß ich auf der Bank am Grundstück meiner Eltern, das inzwischen völlig verwildert war. Ich war sehr lange nicht mehr dort gewesen. Mein Vater war in den 60er Jahren ganz plötzlich gestorben. Eine Ader im Kopf war geplatzt. Unter großer Anteilnahme war er beigesetzt worden. Am Tag nach der Beerdigung verließ ich die Stadt. Im nachhinein war ich fast froh, dass mein Vater früh gestorben war. So musste er den Tod seiner beiden Enkel und den meiner ersten Frau nicht miterleben.
Warum ich jetzt, nachdem auch meine zweite Frau nicht mehr lebte, zurückgekommen war, konnte ich mir auch nicht erklären. Aber ich war froh darüber, dass ich unser Haus, dass ich vor ein paar Jahren von Tante Anni geerbt hatte, die ganze Zeit nicht verkauft hatte. Ich war langsam durch das alte Gebäude gegangen. Es war gut in Schuss, auch wenn vieles noch wie früher war. Anna hatte nur das Erdgeschoss bewohnt, oben war alles nahezu unverändert geblieben. Unter einer dicken Staubschicht lagen noch ein paar Bücher, die meiner Mutter gehört hatten und in den schiefen Schränken fand ich neben der mit Mottenlöchern durchsetzten Kleidung sogar noch ein paar alte Spielsachen von mir. Durch die Küchentür hatte ich dann den Garten betreten und stand schließlich an der alten Pforte. Dort an der Straße stand die Bank. Der Lieblingsplatz meines Vaters. Ich musste an ihn denken. Die geht nicht kaputt, hatte er immer gesagt. Er hatte Recht behalten. Ich nahm Platz und stopfte meine Pfeife.
Die alte Holzbrücke war nicht mehr da, sie war abgerissen worden. Stattdessen führte jetzt nur noch eine schmale Betonbrücke für Radfahrer und Fußgänger über den Fluss. Das Kopfsteinpflaster der alten Straße war nicht mehr zu sehen. Der neue Radweg war akkurat geteert worden.
„Ich habe die Blumen gesehen“, hörte ich plötzlich jemanden sagen. Ein alter Mann lächelte mich freundlich an. Er hielt zwei Flaschen Bier in den zittrigen Händen. „Sie müssen Bertchen Vollmer sein“, sagte ich nach einer Weile. Er reichte mir wortlos eine der beiden Flaschen.
Wir saßen lange auf der Bank und erzählten. Er kam danach fast jeden Tag zu mir herüber. Ich übernachtete inzwischen wieder in unserem Haus. Ich hatte Tage damit zugebracht, wenigstens das Erdgeschoss wieder in einen halbwegs bewohnbaren Zustand zu versetzen und hatte außerdem ein paar Schneisen durch den Garten geschlagen. Ich war zum ersten Mal seit langer Zeit wieder glücklich.
Kurze Zeit später starb Bertchen Vollmer. Zu seiner Beerdigung kamen nur wenige Menschen. Er hatte nie wieder geheiratet. Die kurze Ehe war kinderlos geblieben. Verwandte gab es nicht. Ich sorgte dafür, dass er in der Nähe meiner Eltern beerdigt wurde, da das Grab seiner Frau längst eingeebnet war. Auch Bürgermeister Giese, der erst mit 104 Jahren gestorben war, Tante Anni und die merkwürdige Frau Lossing waren dort hinten bestattet worden.
Am Abend nach der Beerdigung saß ich wieder auf der Bank und beobachtete die vorbeikommenden Menschen. Einige grüßten kurz, die meisten nicht. Morgen würde ich trotzdem wieder hier sitzen.