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- Anmerkungen zum Text
Die Mundart auf der Insel Reichenau im Bodensee ist einmalig und droht auszusterben. Es ist eine Mischung des Alemannischen mit Anlehnung an die Mundart aus dem Thurgau, der Schweiz.
Frösche klatschen
Er wollte, dass seine Tochter mich am Bahnhof abholt, aber ich sagte ihm, dass ich mit dem Auto käme. Okay, nuschelte er und fügte noch hinzu: “Wosch jo, wo´n i wohn.“ Er legte sofort auf und mit gemischten Gefühlen trat ich ans Fenster, sah hinaus in den einsetzenden Regen. Banni, wie wir ihn damals nannten, war ein Raufbold und unsere Freundschaft musste nach seinen Wutausbrüchen immer wieder neu geschlossen werden. Er griff dabei auf eine große Palette landwirtschaftlicher Erzeugnisse zurück, die er auf dem Hof seiner Eltern vorfand. Mal waren es zwei rote Äpfel, mal ein Strunk Tomaten, die er mir als Versöhnung hinhielt. Ich war nie lange eingeschnappt, denn mit Banni gab es Erlebnisse, die kein anderer Junge in der Nachbarschaft auf Lager hatte. Ihm fiel immer ein Streich ein, manchmal mit hohem Risiko. Zerrissene und verschmutzte Kleidung; selbst Schürfwunden, versengte Haare und Sonnenbrand waren nicht selten. Als ich nach der vierten Klasse in der Stadt das Gymnasium besuchte, beschränkte sich unsere Freundschaft auf die Nachmittage, später nur noch auf die Wochenenden. Langsam trennte uns das Bildungsniveau. Immer wieder warf er mir vor, dass ich mich als Klugscheißer aufspiele. Er übernahm bald darauf den kleinen Hof seiner Eltern. Ich zog mich zusehends zurück und irgendwann verlief die Freundschaft im Sande. Wir trafen uns manchmal noch zufällig bei Veranstaltungen und als ich mit meinen Eltern und Geschwistern in die Stadt zog, verloren wir uns ganz aus den Augen.
Jetzt sind wir fünfzig und eine Mitschülerin hat das erste Klassentreffen der Grundschule organisiert. Da mein Anfahrtsweg gute fünf Stunden betrug, hatte Banni mir die Übernachtung in seinem Haus angeboten. In einem langen Telefongespräch erzählte er mir vom Tod seiner Eltern, dass er eine aus der Klasse unter uns geheiratet habe und daraus eine Tochter namens Ilona hervorging. Seine Frau sei kurz nach der Geburt gestorben und jetzt sei Ilona dabei, den Hof auf Bio umzumodeln. Er ziehe sich langsam zurück, warum, dass wolle er mir persönlich erzählen. „Des vuzäll i dir denn no, wenn do bisch. Hot sich vill vuänderet, gsesch es denn no – wenn kunsch? Soll d´lona di go holle? Asso, kunsch mitm Karre – jo denn, wosch jo, wo´n i wohn.“
Die Sonne steht tief, als ich auf die Insel fahre. Pappeln säumen beidseitig die Straße. Das Schilf zeigt keimendes Grün zwischen den trockenen Halmen, auf dem See tummeln sich Unmengen von Wasservögeln. Vieles hat sich verändert, alte Häuser sind renoviert oder großzügig erweitert worden, neue sind hinzugekommen. Straßen, die sich früher als Feldwege zwischen den Äckern wanden sind heute asphaltiert und beschildert. Als ich auf den Hof fahre, steht Banni bereits in der Haustür. Dickbäuchig, wettergegerbt und weißhaarig.
Wir sitzen noch nicht lange in seiner Küche. Draußen dunkelt es, Banni hat Speck aufgetischt, selbstgebackenes Brot und frischen Most, als seine Tochter sich grußlos zu uns setzt. Die Haut ihrer Finger ist rau und sie schneidet das Brot mit einem grobgezackten Messer, indem sie es an ihre Brust drückt. Most schenkt sie sich so heftig ein, dass einige Tropfen auf dem Tisch landen. Sie kaut mit offenem Mund, atmet hörbar durch die Nase.
„Ist das der, mit dem Du früher Frösche geklatscht hast?“
Banni sieht mich peinlich berührt an, errötet, obwohl sein Gesicht schon von Haus aus eine krankhafte Rotfärbung hat.
„Ilona, loss des si, des isch etz it dr richtig Zietpunkt für sottige G´spräch“, behutsam legt er seine Hand auf ihre, doch sie zieht ihre weg. Streicht eine Strähne ihrer roten Haare hinters Ohr.
„Du hast doch erzählt, dass ihr früher mit Dachziegeln die Frösche an den Gräben erschlagen habt.“ Fast feindselig starrt sie über den Tisch, fixiert mich herausfordernd, während sie kaut.
In mir tobt das schlechte Gewissen. Bilder tauchen auf. Banni links, ich rechts des frisch ausgehobenen Grabens. Jeder einen alten Dachziegel in der Hand. Bei jedem Schritt springen die Frösche vor uns ins trübe Wasser, bleibt einer sitzen, werfen wir den Ziegel und versuchen, ihn zu treffen. Fliegt der Ziegel ins Wasser, hat man verloren. Zum Schluss hat gewonnen, wer die meisten Frösche erlegt hatte. In meiner Erinnerung sehe ich hunderte auf dem hellen Lehm sitzen, ihr Quaken war nachts eine ununterbrochene Geräuschkulisse. Unsere Eltern wussten nichts von unserem Tun.
„Naja“, setze ich an. „Früher war alles voll mit Eidechsen, Fröschen, Maulwurfsgrillen, Mückenlarven, Libellen ohne Ende. Käfer, Spinnen. Wir machten uns keine Gedanken.“
„Und das soll eine Erklärung sein?“ Sie schneidet sich ein großes Stück Speck ab, trennt den weißen Fettstreifen vom Fleisch.
„Wir waren immer draußen, die Wiesen, der See – alles war unser Spielplatz und mit allem, was dazu gehörte. Da ging schon mal was zu Bruch“, starte ich einen weiteren Versuch, aber sie unterbricht mich schroff.
„Was für eine Arroganz. Alles an Arsch gemacht und dann – oppela – kann ja mal passieren. Dumm gelaufen für die Viecher.“ Sie wendet ihren Blick nicht ab, schiebt sich mechanisch ein Stück Brot in den Mund.
Ich schlage die Augen nieder, halte nicht stand. Spüre, wie Röte in mein Gesicht kriechen will. Spiele nervös unterm Tisch mit den Fingern, suche fieberhaft nach weiteren Erklärungen.
„Hosch´s Zügs vusorget?“ Banni will das Thema wechseln, ablenken. Aber sie nickt nur, ohne den Blick zu unterbrechen.
„Damals gab es kein Bewusstsein für die Umwelt. Alles war im Überfluss vorhanden und niemand dachte daran, dass es mal weniger werden könnte. Wenn im Juni die Kaulquappen an Land kamen, dann hieß es, es habe Frösche geregnet. Die Ufer waren schwarz von den kleinen Hüpfern – das kann man sich heute gar nicht mehr“, ich verschlucke das letzte Wort, weil die Bedeutung des Gesagten wie ein Blitz in mich fährt.
„Vorstellen“, sagt Ilona leise. „So ist das also. Ihr habt in euch eine Vorstellung vom dem, was mal war und was, bitte, sollen wir uns vorstellen? Was ihr uns übrig gelassen habt? Wenn ich heute den Graben bis zum See laufe, dann sind da drei Frösche, wenn ich Glück habe. Vater hat erzählt, dass ihr früher unter jedem großen Stein im seichten Wasser Trüschen fandet. Kilch, Saibling, jetzt auch die Felchen. Weg! Selten geworden oder ausgestorben. Muscheln – außer Qaggas nichts mehr da.“ Mit den letzten Sätzen ist sie lauter geworden. Wirft mir die Namen und ihre Vorkommen wie Brocken auf den Tisch.
„Naja“, versuche ich einzuwenden. „Da sind wohl mehrere Faktoren zusammengekommen. Allein der Kunstdüngerverbrauch in der Landwirtschaft – früher schmiss doch jeder Bauer eine Handvoll Chemie an jede Pflanze, wenn Regenwolken aufzogen. In den Sechzigern durfte das Leitungswasser nicht mehr für Kleinkinder verwendet werden, so verseucht waren hier auf der Insel die Brunnen.“
„Ach!“, schnauzt sie zurück. „Jetzt sind wieder die Bauern schuld! Die wussten doch gar nicht, was sie da an die Pflanzen gaben.“
„So kann man sich auch rausreden!“, kontere ich. „Wenn durch meine Hand zwanzig Frösche gestorben sind, soll ich die Verantwortung übernehmen und Reue zeigen; aber der Landwirt braucht keine Verantwortung zu übernehmen, denn er folgt ja nur den Vorgaben des Bauernverbandes. Und der? Übernimmt der wenigstens die Verantwortung für das Insektensterben, für das Auslaugen der Böden, Monokulturen und den massiven Rückgang der Vogelpopulationen? Wo sind die Kiebitze? Ich hab nicht einen gesehen, als ich hierher gefahren bin! Nicht einen!“
Ilona drückt mit beiden Händen den Rest Brot in ihren Fingern zusammen. Sie wendet den Kopf ab, das Deckenlicht spiegelt sich in ihren feuchten Augen. „Scheiße“, murmelt sie, stützt ihr Kinn in die Handfläche und sieht mich wieder an. „Entschuldige“, sagt sie kleinlaut.
Banni legt wieder seine Hand auf ihre. „Mont it striete“, und schaut mich dabei an. „D´Ilona isch ussem Verband usse un vusurcht etz, Krüüter un aalts Gmües widder zu kultiviere. Zwei Johr isch nix g´loffe und sell Bio-Sertifikat hot achthundert Stutz koschtet. Un die sell Kontrollene ammel; sie hots it eifach!“ Banni tätschelt die Hand seiner Tochter.
Ilona nickt. „Ist gut, Fäddi“, sagt sie leise. „Ich wünsch Euch einen schönen Abend. Feiert schön.“ Grußlos steht sie auf und verlässt die Küche.
Banni zuckt mit den Schultern. „So isch´s worre!“, sagt er und fügt hinzu: „Gömmer go fiere! Mor´n dommer no wieter schwätze, i gang go´s Häs a´legge. Neb´a isch´s Bad, kasch di frisch mache. Schö, dass do bisch!“
Es ist still in der Küche. Von draußen im Flur höre ich, wie Banni sich anzieht. Vom Raufbold ist nicht mehr viel geblieben. An der kahlen Wand gegenüber hängt ein schlichtes Kreuz, in den Gardinen kleben tote Fliegen und Mücken. Das Essen steht noch auf dem Tisch, der Speck glänzt fettig. Immer noch mit gemischten Gefühlen erhebe ich mich und suche das Bad auf. Auch hier tote Mücken, Spinnweben in den Vorhängen. Im Waschbecken Kalkflecken und ein Glas mit trübem Wasser neben dem Hahn. Eine Packung Kukident daneben. Fünfzig Jahre ohne Veränderung. Ich lausche nach draußen durch das gekippte Fenster. Wo früher das Konzert der Frösche erklang, höre ich nur das Tschilpen einiger Sperlinge im Hof.
„Bisch fertig!“, ruft Banni. „Ja“, antworte ich und verlasse das Bad, ohne etwas getan zu haben.