- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Freier Fall
Die Luft raste an ihm vorbei, raubte ihm den Atem. Sie zerrte an seinen Gesichtszügen und ließ seine Wangen flattern. Der Ausblick war grandios. Um ihn herum blau. Am Horizont, auf gleicher Ebene mit ihm, vereinzelte Wolken. Klein und weit, weit entfernt waren die Ortschaften zu sehen. Die Straßen bildeten ein unregelmäßiges Netz, das nicht näher erkennbare Knotenpunkte miteinander verband.
„Es wäre toll, wenn wir noch mal in Ruhe reden könnten.“ Ich sagte es ihr, als hätte ich keinerlei Hintergedanken, als würde es nicht in mir brodeln. Als ob die Mordabsicht nicht deutlich hinter meiner Stirn eingebrannt wäre. „Ich will heute noch mal springen. Komm mit, wir können uns auf dem Weg unterhalten.“
Sein Körper beschleunigte mit 9,8 m/sec², er hatte gehört, dass man an die 300 Stundenkilometer erreicht, im freien Fall. Ohne es wirklich zu merken. Ein Erlebnis, das man sein Leben lang in Erinnerung behielt. Ein Leben lang, wie wahr. Grenzenlose Freiheit, ein Genuss, der in dieser Ausprägung nur hier möglich war. Das Gefühl eines Fallschirmspringers.
Warum nur hatte sie Sue an sich gerissen, sie und die Anderen gegen mich aufgebracht, es zumindest versucht? Warum ließ sie nicht zu, dass ich einfach nur Daddy war? Mich um mein Töchterchen kümmerte, es lieb hatte. Warum hatte sie mich öffentlich zum Albtraum gemacht, zum Kinderschänder? „Ein böser Papi“, diese Bemerkung hatte mir den Boden unter den Füßen entzogen. Und mit dem Boden hatte sie mir auch den Halt genommen. Der böse Papi hatte so etwas nie im Sinn. Wie könnte ich das Liebste was ich habe verletzen? Undenkbar. Sie hatte das Undenkbare ins Spiel gebracht und ich hatte begonnen Undenkbares zu denken.
Sie stürzte über ihm, raste mit ihm dem Erdboden entgegen. Sie hatte sich nur kurz halten können, nachdem sie gemeinsam aus dem Flugzeug gerollt waren. Seine Absicht, sie ohne Schirm „springen“ zu lassen, war gescheitert. Er wollte gerade seinen Schirm anlegen, als sie reagierte. Sie hatte es geahnt. Ein kräftiger Stoß beförderte ihn hinaus, bevor er begriff, dass sie ihren Schirm bereits angeschnallt hatte. Zwar riss er sie mit, aber ihr kurzes, vergebliches Festhalten am Türrahmen trennte sie wieder. Er brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie triumphierend lachte, laut und schallend. Gleichzeitig allerdings, da war er sich absolut sicher, liefen ihr Tränen aus den Augenwinkeln und wurden vom Luftdruck in die Haare getrieben. Tief, tief unter ihm erkannte er seinen Bungalow, welche Ironie. Diesmal würde niemand seine Annäherung vermeiden, kein Zaun, keine Bodyguards, auch keine einstweilige Verfügung.
Das Gericht ließ sich von Marion überzeugen, konstruierte Argumente. Sue begriff das alles nicht, sie erzählte, was ihre Mutter ihr suggeriert und wochenlang eingetrichtert hatte. „Schauen sie nur, wie er das Kind anschaut, wie er es umklammert. Krank. Ihm wurde mit einer einstweiligen Verfügung verboten näher als fünfzig Meter an das Kind zu kommen. Und doch… schauen Sie selbst. Sie sitzt bei ihm auf dem Schoß. Er hat mich überrumpelt. Ich habe es zugelassen, weil wir hier vor Gericht sind und dem Kind, MEINER TOCHTER, hier nichts geschehen kann.“ Die Wut war in diesem Moment explosionsartig in mir hoch gekocht. Vor fünf Minuten hatte sie mir noch gesagt: „Hier, vor Gericht darfst du Sue in den Arm nehmen.“ Erst jetzt erkannte ich ihre eiskalte Berechnung.
Die Arme und Beine weit von sich spreizen hieß mehr Luftwiderstand, hieß den Flug verlangsamen, die Bodenberührung hinauszögern. Er tat es. Vielleicht bot sie ja weniger Widerstand, vielleicht würde sie schneller fallen, ihn einholen. Eine irre Idee, geboren in einer irren Situation, einer verzweifelten Lage. Er schaute zurück, nach oben. Zu ihr, seinem Idol, seiner Frau: Marion.
Ihre nüchterne Art, stets beherrscht, stets irgendwie überlegen, hatte mich im Laufe der Jahre, in immer mehr kleineren Scharmützeln klein gemacht. Hatte mich davon überzeugt, dass ich ihr unterlegen war. Immer öfter begann ich, zu ihr auf zu schauen. Meine Kritik an ihrem Urteil bröckelte, schlief ein, bis ich mich ohne Kritik, ohne Nachdenken ihrem Urteil fügte. Mein Ego stellte ich hinten an, ich ließ es fallen, es war nutzlos – Marion dachte für mich, handelte für mich. Eines Tages dann: gegen mich.
Sein Mund war trocken, schon früh hatte er gelernt, ihn zu schließen beim Fallen. Jetzt war anderes wichtig. Wahrhaftig, sie achtete nicht darauf, sich möglichst groß zu machen, sie fiel schneller als er. Er spürte den Luftwiderstand, genoss ihn, begriff ihn als Werkzeug. Er bemühte sich, aus ihrem Gesichtsfeld zu kommen, wollte es kaum glauben, wollte sie vorbei lassen, dann von hinten greifen. Der Abstand zu ihm machte sie wohl sicher, fünfzig Meter. Trotz der Entfernung sah er vor seinem geistigen Auge ihr Lachen, hörte sie bereits den Anderen erzählen: „Dieser Idiot war krank, hat unsere Trennung nicht verkraftet. Hat auch meinen neuen Partner nicht akzeptiert, wollte meine neue Familie auseinander reißen. Er hat erhalten, was ihm zustand.“ Dabei war es ihm immer nur um Sue gegangen. Fünfzig Meter, bei der Geschwindigkeit, Sekundenbruchteile. Ignoranter Leichtsinn.
Ich hatte es die ganze Zeit über ignoriert, hatte mich nur auf Sue konzentriert. Hatte es genossen, meine Tochter für mich allein zu haben. SIE amüsierte sich mit ihrem neuen Freund. Alles okay, solang ich nur Sue haben konnte. Ihr Lachen, wenn wir im Bett miteinander balgten, es drang bis ins Herz. Überlagerte alle warnenden Nebengeräusche. Gemeinsam standen wir auf dem Bettrahmen, ließen uns rückwärts mit geschlossenen Augen fallen in die weiche Sicherheit der Decken und Matratze. Sekunden des gemeinsamen freien Falls. Sekunden gemeinsamen Glücks.
Nun fiel er bäuchlings, ohne Matratze oder Decke, ohne Glück. Dreihundert Stundenkilometer. Sie war tatsächlich auf fast gleicher Höhe, etwas unterhalb sogar. Eine kurze Drehung, die Arme näher an den Körper und er schoss auf sie zu. Sie wand sich ihm zu. Jähes Erkennen, Panik in ihren Augen. Er jubilierte innerlich, triumphierte mit einem befreiten, verbitterten Aufschrei als seine Hände sich an Marion´s Hosenbein festkrallen konnten.
Sue, alles wird anders! Ich werde deine Mutter machen lassen was sie will, den Krieg beenden, wenn nur wir beide uns weiterhin sehen können. Such dir aus, bei wem du bleiben willst, nur verteile deine Gunst gleichmäßig auf beide Eltern. Soll sie ruhig ihr Leben mit einem neuen Partner leben, es wird uns doch nicht tangieren. Ich sehe nun, was mir wirklich wichtig ist: Dass du glücklich bist. Gern stehe ich zurück. Lieber die Taube in der Hand…“
Sie sah ihn kommen, spürte seinen unbarmherzigen Griff, der schmerzhaft in die Wade und den Oberschenkel fuhr. Sie wurde herumgewirbelt. Ihre Hand umschloss fest den Griff der Reißleine. Es gab kein Zögern. Es war Notwehr, er oder ich. Sue sollte wenigstens ein Elternteil behalten. Ein kräftiger Ruck. Sein Gesichtsausdruck verbissen, erstaunt als er feststellte, dass er den plötzlichen Kräften des Schirms nichts entgegen zu setzen hatte. Sein Griff löste sich, sie sah jedoch nicht die Erkenntnis des nahen Todes in seinen Augen, nur Enttäuschung.
Beinahe hätte es geklappt. Aber ich hatte nicht die Kraft festzuhalten. Sue, ich liebe dich. Der Bungalow rast auf mich zu. Nur weg. Du sollst meinen zerschmetterten Körper nicht sehen. Es wäre so einfach gewesen mit zwei Eltern und mit neuen Partnern zu leben. Leider erkenne ich es zu spät. Lebe wohl, mein Kind. Erst jetzt, im freien Fall, sind viele Dinge gewichtslos geworden. Wäre ich nur früher gesprungen.
Sie sah ihn unweit des Bungalows aufschlagen. Sue würde lernen, dass Väter manchmal einfach nur Egoisten sind. Ihr neuer Partner würde es ausgleichen.