Freiflug
Sie war wach. Plötzlich. Einfach so. Nichts hatte sie geweckt. Sie war einfach wach geworden.
Heiß war es. Die Ventilatoren liefen in allen Zimmern und die Fenster waren offen. Die Gardinen blähten sich nach allen Richtungen und dennoch kam kaum mehr als warme Backofenluft durch die Fenster herein.
Aus der Bar unten drang leise Musik hinein. Es war Jazz. Sie konnte das Piano hören. Zwischen die Klänge mischten sich die Laute von Menschen. Männer, die Frauen süßes Gift in die Ohren träufelten, um sie dazu zu bewegen, sich später von ihnen anfassen zu lassen. Schöne Frauen, die anmutig über die charmanten Lügen der Männer lachten. Der Bartender, der etwas durch den Raum rief.
Hier oben war alles angenehm gedämpft. Sie liebte diese Bar. Unzählige Male hatte sie selber auf den mit rotem Samt bezogenen Barhockern gesessen und mit den Männern in den Anzügen geflirtet.
Sie blieb minutenlang reglos liegen und genoss die mondäne Stille.
Die grüne Nachttischlampe brannte noch. Sie hatten sie nicht ausgemacht, als sie sich liebten. Sie ließen die Lampe meistens an. Sie mochte, wie der Schweiß auf seinem Körper in dem grünen Licht glänzte. Das Licht ließ die tiefroten Nadelstreifen auf der Tapete braun aussehen.
Er lag neben ihr. Auf dem Bauch, das Gesicht ihr zugewandt. Seine Augen waren geschlossen. Er sah entspannt aus. Sein Atem ging tief und gleichmäßig, aber er schlief nicht. Er konnte sie nicht täuschen. Er roch nach Schlaf. Weich und ausgeglichen. Und nach Sex. Sie begehrte ihn immer. Egal, wonach er roch. Sie liebte ihn. Für einen kurzen Moment zögerte sie, ihn zu berühren oder anzusprechen. Sie wollte dieses Bild der Ruhe nicht zerstören.
"Wir müssen weg", sagte sie. Leise. Sanft. Er reagierte nicht. Sie lächelte. Das machte er immer: so tun, als ob er schlief. Und sie griff hinüber zu ihm und berührte sein Gesicht. Seine Lider zuckten leicht, als sie seine Wimpern berührte. Dadurch verriet er sich. Sie legte ihren Mund so dicht an sein Ohr, dass ihre Lippen ihn berührten. "Wir müssen weg, Baby. Wir haben viel zu lange geschlafen. Sie werden bald hier sein." Er murmelte etwas ins Kissen und küsste dann ihren Hals. Sie spürte kurz seine Zunge und kämpfte die Lust hinunter. Dafür war jetzt keine Zeit. Wenn sie in Sicherheit waren, konnten sie sich Tag und Nacht der Lust hingeben. Sanft entwand sie sich seinen Berührungen, worauf er unwillig brummte.
Sie lachte ein leichtes, glockenhelles Lachen.
Sie liebte ihn so sehr.
Sie stand auf, konnte sich aber nicht dazu entschließen, sich anzuziehen. Sie zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf die Fensterbank. Ein Bein ließ sie draußen an der Hauswand herunterbaumeln. Unten auf der Straße stand eine kleine Menschenansammlung vor dem Eingang der Bar. Wahrscheinlich argumentierten sie mit dem Türsteher. Sie musste nicht befürchten, dass man sie hier oben nackt sah. In dieser Gegend sah man nicht nach oben. Der Zigarettenrauch strömte in ihre Lungen und vermischte sich mit der Abendluft, die nach Leben roch. Die Gardine bewegte sich im Durchzug und streifte ihre rechte Schulter. Sie seufzte. Es war ein ruhiges, tief zufriedenes Seufzen. Es dauerte sicher noch einige Stunden, bis man sie hier oben aufspürte. Kein Grund zur Hektik. Zumindest kein Grund, nicht noch eine letzte Zigarette vor der großen Fahrt zu nehmen. Sie ließ den Zigarettenstummel auf die Straße fallen und schwang sich mit einem Ruck wieder ins Zimmer. Sie hatte immer Angst, jemand bekäme die Kippe auf den Kopf und würde sie verantwortlich machen, wenn er sie sah. Sie hörte Laute des Erschreckens, als die Kippe fünf Stockwerke unter ihr auf den Boden traf.
Sie begann, sich anzuziehen. Zog die Jeans über ihren nackten Po. Die Hose saß verdammt eng. Sie hatte in den letzten Wochen deutlich zugenommen. Natürlich. Das viele Geld. Das gute Leben. Sie streichelte mit der Hand über ihren Bauch und fühlte sich gut. Dann streifte sie das T-Shirt über, das sie für wenig Geld an einem Straßenstand gekauft hatte und auf dem "Natural Born Winners" stand. Ihr Lieblings-T-Shirt. Sie ging ins Bad, um sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht zu werfen. Im Spiegel begegnete ihr eine Frau mit zerzausten Haaren. Ihren Hals zierten die Zeichen seiner Lust. Tausendmal hatte sie ihm gesagt, er solle sie nicht so verunstalten, aber er hatte jedes Mal bloß gelacht und gesagt "Das magst Du doch."
Sie konnte ihn auch nicht täuschen.
Als sie aus dem Bad kam, lag er immer noch im Bett. Auf dem Rücken diesmal. Er sah sie an. "Komm zurück ins Bett. Ich will Dich ficken." Sie lachte und ging zu den Koffern. Als sie das Fußende des Bettes passierte, warf er sich blitzschnell nach vorne und griff nach ihrem Handgelenk. Sie erschrak vor der Plötzlichkeit seiner Bewegung und versuchte sich mit einem Aufschrei zu entwinden. Aber er ließ sie nicht los. Zog an ihrer Hand. Und weil er stärker war als sie, musste sie seinem Zug folgen und sich auf die Bettkante setzen. Er hielt ihr Handgelenk und schob ihre Hand unter die Bettdecke. Sie spürte seine Erektion und atmete tief durch. Als er merkte, dass ihre Gegenwehr nachließ, öffnete er seinen Griff. Wissend, dass sie ihre Hand nicht wegziehen würde. Er fasste ihren Hals und zog ihr Gesicht zu seinem, um sie zu küssen. Sie öffnete den Mund und ließ seine Zunge gewähren. Sie war hart und fordernd und hatte nichts Spitzbübisches mehr. Hitze durchflutete sie. Sie erwiderte seinen Kuss und merkte, dass seine Erektion härter wurde.
Mit einem Ruck, und für ihn mit Sicherheit völlig überraschend, stand sie auf und schüttelte ihr Haar. "Schluss jetzt. Wir müssen los. Es liegen ein paar Autostunden zwischen uns und der Grenze. Vergiss das nicht." Er sah sie beleidigt an. Dann seufzte er und schlug die Decke zurück.
Während er unter der Dusche stand, ging sie in Gedanken durch, ob sie an alles gedacht hatten. Die Pässe lagen auf dem Nachttisch. Der Koffer mit dem Geld stand am Fußende des Bettes. Ihre Kleidung hatten sie in großen Sporttaschen untergebracht. Alles war da. Und bereit, erst in einem neuen Leben wieder ausgepackt zu werden.
Später im Auto fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte abzuschließen. Aber es war egal. Und wenn sie die ganze Bude ausräumten – es war egal. Sie würden nicht zurückkommen. Alles, was wichtig war, hatten sie bei sich. Im Auto.
Es dauerte fast eine dreiviertel Stunde, bis sie aus der Stadt heraus waren. Sie fühlte sich unbehaglich. Wünschte sich, es würde schneller gehen. In der Stadt kannte man sie. Alle beide. Und das Auto. Sie hatte es immer cool gefunden, in diesem auffälligen Schlitten zu sitzen. Alle schauten, wenn sie in ihm die Straße entlang fuhren. Jetzt störte es. Es war hinderlich. Jeder kannte sie. Und das Auto.
Aber schließlich lag nur noch Dunkelheit vor ihnen. Es war weit nach zwei Uhr. Die wenigen Autos, die ihnen entgegen kamen, waren grelle Linien. Für eine Sekunde oder so. Aber es waren nicht die Autos, die ihnen entgegen kamen, die sie angespannt machten, sondern jene, deren Lichter im Rückspiegel auftauchten. Es waren nicht viele und langsam entspannte sie sich etwas. Die Dunkelheit tat gut. Sie war ihr Freund.
Er rauchte viel während der Fahrt. Unter anderen Umständen hätte sie das gestört. Sie selber rauchte nie während des Fahrens, sondern machte immer kurze Stopps, um sich eine Zigarette anzuzünden. Oder wartete auf einen Stau. Am Anfang hatte es deswegen ein paar Mal Streit gegeben, aber schließlich hatte er das Rauchen in geschlossenen Autos ihretwegen eingeschränkt. Jetzt aber verzichtete sie darauf, ihn um Rücksicht zu bitten. Er war nervös. Rücksicht war nicht wichtig.
Am frühen Morgen bekamen sie Hunger. Sie stoppten an einer Tankstelle, die damit warb, 24 Stunden am Tag geöffnet zu haben. 'Jetzt wieder gutes Essen' stand auf einem Schild. Sie mussten darüber lachen. Sie standen am Auto und bissen in aufgewärmte Schokokringel. Sie sagten nichts. Sie lehnte sich an ihn, kaute an ihrem Kringel und versuchte mit geschlossenen Augen, zwischen dem Mahlen ihrer Kiefer sein Herz zu hören. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie im Osten einen grauen Schimmer am Himmel.
Sie vertraten sich ein wenig die Beine und rauchten Zigaretten. Immer noch schwiegen sie. Es gab nichts zu sagen im Angesicht dessen, was vor ihnen oder – schlimmer noch – was hinter ihnen lag. Sie hatten einen Plan und der musste jetzt durchgeführt werden. Er musste nur noch klappen. Kein Grund, etwas zu sagen. Auch der Fahrerwechsel bedurfte keiner Absprache. Sie stiegen einfach wieder ein, diesmal sie auf der Fahrerseite. Er mochte wie sie fuhr. In der Stadt startete sie an der roten Ampel oft mit quietschenden Reifen. Und wenn die Passanten erschrocken aufschauten, lachten sie beide und sie fuhr die Gänge aus, bis der Drehzahlmesser in den roten Bereich kam. Er heulte zwar immer schmerzerfüllt, wenn sie den Motor so aufjaulen ließ, aber sie wusste, dass er ihr Feuer liebte.
"Weißt Du, woran ich denken muss?" Sie schaute ihn nicht an. Der graue Schimmer war zu einer schmutzig-weißen Schaumkrone auf dem Horizont geworden und ließ die Straße wie einen Fluss aussehen. Er sagte nichts. Vielleicht schlief er. Sie war nicht sicher. "Ich muss an 'Thelma und Louise' denken. Dieser Film mit Susan Irgendwas und Geena Dingsbums. So sind wir. Glaube ich. Sicher, Du hast weniger Brüste als Thelma und mehr Schwanz als Louise, aber irgendwie passt es. Oder nicht? Unrecht, das keins ist, aber alles viel komplizierter macht. Wir sind Gejagte und doch freier als alle anderen. Weil wir eins sind. Ich für Dich und Du für mich. So ist es doch, nicht wahr? Und weißt Du noch was? Wenn sie uns kriegen, dann möchte ich Deine Hand halten und ich möchte, dass Du das Gaspedal durchtrittst. Wirst Du das tun?"
Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass er sie jetzt ansah. "Du spinnst." Er lächelte müde. – "Du musst es mir versprechen. Wirst Du mit mir über die Klippe fliegen?"
Er legte die Hand auf ihren rechten Oberschenkel und drückte ihn leicht, sagte aber nichts.
Gegen neun Uhr morgens steuerte sie einen Rastplatz an. Sie parkte hinter der Tankstelle, wo man den Wagen von der Straße aus nicht sofort sehen konnte. Nachdem sie noch eine letzte Zigarette geraucht hatten, klappten die Rückenlehnen nach hinten, um etwas zu schlafen. Sie waren seit fast acht Stunden unterwegs.
Sie wachte von dem Geräusch des aufheulenden Motors auf, gefolgt von dem der durchdrehenden Reifen. "Wir müssen weg hier! Die Wichser sind vorne an der Tankstelle!" Mit Vollgas fuhr er von dem Rastplatz, und sie konnte im Rückspiegel sehen, wie die Kunden der Tankstelle auf sie aufmerksam wurden. Alle Kunden. Zwei von ihnen sprangen in ihren Wagen und gaben ebenfalls Vollgas. Ironie des Schicksals. Wenn sie einfach stehen geblieben wären und weiter geschlafen hätten, wären die anderen womöglich wieder auf die Straße eingebogen und weiter gefahren, ohne sie zu bemerken.
Sie weinte. Wie hatte das passieren können? Wie waren sie ihnen so schnell auf die Schliche gekommen? Sie hatte nur ihrem Bruder gesagt, wohin sie wollten. Und wenn er geredet hatte? Und wenn sie ihm etwas getan hatten? Egal. Alles egal. Jetzt waren sie hinter ihnen und es ging um Leben und Tod. Keine Zeit für Illusionen. Wenn sie sie erwischten, würden sie sie töten. Keine Frage. "Gib Gas!", schrie sie ihn an. Aber sie wusste ja, dass er nicht schneller konnte. Die Straße begann sich zu füllen. Leute, die unterwegs in ihre Büros oder Läden oder Was-sonst waren. "Wir kommen hier nicht vorwärts!", brüllte er zurück und riss in derselben Sekunde das Lenkrad herum. Verließ die Straße. Thelma und Louise schossen ihr wieder in den Kopf. Das war doch nur eine romantische Idee gewesen!
Ein Ruck schleuderte ihren Kopf gegen das Handschuhfach und sie verlor das Bewusstsein.
Sie wurde wach. Schmeckte Blut. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß. Ihr Nacken schmerzte. Sie war benommen. Der Motor lief noch. Aber warum saß sie am Steuer? Sie sah neben sich. Auf dem Beifahrersitz lag der Koffer. Der Koffer mit dem Geld. Und ein Foto. Im Rückspiegel konnte sie das Auto sehen, das sie verfolgt hatte. Die zwei Typen von der Tankstelle waren ausgestiegen und lehnten am Auto. Sie grinsten. Und rauchten.
Sie sah nach vorne. Die Klippe. Sie war tatsächlich an einer Klippe gelandet. Und er war nicht da. Sie erinnerte sich an das viele Blut, das plötzlich da gewesen war. An seinen Blick. Das Gewicht seines Kopfes in ihrem Arm. Und an den Schmerz. Den Schmerz, der niemals vergehen würde. Wie lange war das her gewesen? Einen Tag? Nein, es mussten schon zwei Tage sein. In diesem kleinen Kaff mitten im Niemandsland hatten sie sie erwischt.
Und jetzt war sie hier. Allein. Genau wie die Klippe. Die war auch noch da. Sie griff nach dem Lenkrad und legte den Gang ein. Ihr Fuß lag auf dem Gaspedal.
Sie schaute das Foto an und eine Träne sprang von ihrer Wange in die Tiefe. Todesmutig.
Sie würde es allein tun müssen.
Sie konzentrierte sich.