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Freiheit
Sie hatte sich ihr Leben zu ihrer Zufriedenheit eingerichtet. Alles war da, wo sie es haben wollte.
Eine große Stütze im täglichen Einerlei waren ihre zwei Paar Handschuhe, die sie sorgfältig in der obersten Schublade einer Kommode gleich neben der Wohnungstür verwahrte. So hatte sie immer, bevor sie das Haus verließ, das richtige Paar griffbereit.
Das eine Paar Handschuhe war aus robustem, braunem Leder gearbeitet, innen gefüttert mit weichem Kaninchenfell. Diese Handschuhe trug sie, wenn der Sommer vorbei war und die Herbststürme anfingen das Leben unerträglicher zu machen.
Den ganzen rauen Winter hindurch wärmten sie nicht nur ihre Hände, sondern vermittelten ihr ein erhabenes Gefühl der Sicherheit. Sie fühlte sich darin stark wie eine Löwin, die bereit ist gegen alles Unvorhergesehene zu kämpfen, was ihren Lebensrhythmus außer Takt hätte bringen können.
Das zweite Paar war von sehr filigraner Beschaffenheit, denn schließlich diente dieses zu einer anderen Zeit und zu einem anderen Lebenszweck. Sie waren aus beigefarbener Naturseide, gold changierend und am Rand mit feinster Spitzenklöppelei versehen.
Sobald das Frühjahr die Last des Winters nahm, schlüpfte sie hinein. Sie verliehen ihrer Hand eine zarte feminine Ausstrahlung und ihre Haltung nahm die einer Dame von Welt ein, fast hochmütig.
So wanderte sie durch die Jahreszeiten ihres Lebens bis eines Tages das Unfassbare geschah.
Wie jeden morgen öffnete sie die Kommode. Doch statt des sicheren Griffs nach den richtigen
Handschuhen, starrte sie verwirrt in die Lade. Sie sah einfach nur Handschuhe: Ein braunes und ein beiges Paar. Aber was hatte es damit auf sich? In ihrem Kopf fing es an zu klopfen. Blut raste durch ihren Körper und um ihr Herz wurde es eng. Zitternd schob sie die Lade wieder zu und verließ fluchtartig das Haus.
Draußen angekommen versuchte sie tief durchzuatmen, doch der Schock hatte ihre Lungen gelähmt. Was war das, was war das, hämmerten ihre Gedanken. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, um fort zu kommen, weg, weit weg. Ihre Hände verharrten in toter, nackter Steifigkeit. Sie schämte sich ob ihrer Nacktheit und vergrub sie eilig in ihren Manteltaschen, an diesen ungewohnten Ort.
Tage, Wochen, Monate voll lähmender Angst und Verzweiflung vergingen. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um die Handschuhe, aber sie fand keine Antwort, keine Erklärung. Sie wusste nur, sie würde nie wieder zu ihrem alten, sicheren Leben zurückfinden und diese Gewissheit brachte sie schier um.
Unbemerkt verging der Frühling, der Sommer und der Herbst. Sie war so einsam. Dann kam der Winter mit seiner guten Eigenschaft. Er legt die Natur schlafen und das bewirkte, dass auch ihr Herz sich beruhigte.
Eines Abends ging sie langsam zu der Kommode, die sie lange nicht mehr geöffnet hatte. Sie zog an der Lade und betrachtete die Handschuhe. Nachdem sie so einige Minuten gestanden hatte, nahm sie das lederne Paar heraus, streifte es über ihre Hände, zog es wieder aus um mit dem andern Paar das Gleiche zu tun. Das tat sie von nun an jeden Abend bis sie auf die Idee kam, an die rechte Hand einen Ledernen und an die linke einen Seidenen zu ziehen. Dann umgekehrt. Oder nur einen Ledernen oder nur einen Seidenen oder die Seidenen unter die Ledernen oder die Seidenen in den Händen der Ledernen oder die Ledernen in den Händen der Seidenen oder in der nackten rechten Hand die Ledernen und in der nackten linken Hand die Seidenen. Oder ganz ohne Handschuhe.
Sie lachte, endlich, endlich hatte sie begriffen. Ihr Leben explodierte, es war schöner als jemals zuvor. Endlich, endlich war sie befreit.