Was ist neu

Fremd

Mitglied
Beitritt
10.06.2009
Beiträge
10
Zuletzt bearbeitet:

Fremd

Wie das baumelt, wie das schwingt. Johann steht in der Mitte vom Badezimmer, er schaut in den Spiegel. Auf dem Spiegel hat sich eine Galaxie kleiner Sterne aus Tropfen von Zahnpasta und Spucke geformt. Betrachtet man sein Gesicht in ihr, wirkt es als leide man an einer Hautkrankheit.

Johann ist nackt. Seine Hose hängt über der Heizung, das schwarzgrau gestreifte, langärmlige Shirt liegt zerknüllt auf dem Boden, es trägt noch seine Körperwärme in sich. Müden Auges wird Bestandsaufnahme gemacht: 1,84 Meter, 75 Kilogramm, kurze braune Haare, zahm nach links gescheitelt, Haare auch auf Brust und Schultern, diesmal schwarz, Haare auf Armen und Beinen. Er ist kein Athlet, doch beileibe auch kein Schwächling. Schamhaft ist allein die Haltung, Samy Molcho böte sie Anlass ihn rezessiv einzuschätzen.

Wie beim Obsteinkauf betastet Johann prüfend sein Geschlecht. Es ist weich und, hierin ist er sich sicher, von abstoßender Hässlichkeit. Das Ausmaß dieser Hässlichkeit hat ihn schon immer in ungläubiges Erstaunen versetzt, schließlich gibt es auf der Welt so viele Beweise in Natur und Kunst für das Schöne: Zum Beispiel Sonnenaufgänge, die Bilder Kandinskys, See bei Sturm oder das Luftschiff Graf Zeppelin. Auf dem Badewannenrand sitzend hängt Johann Gedanken über Ästhetik nach. Welche Ästhetik hat sein Körper zu bieten? Er richtet den Blick abermals aufs Glied. Die einzige Ästhetik, die dort zu finden ist – nach wohlwollender Suche – ist Symmetrie. Hier ein Rund, da ein Rund; Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Gut, wenig Hoffnung im Souterrain, wollen uns das Dachgeschoss anschauen.

Johann steht auf, dabei knackt es unter den Kniescheiben, soll bloß Luft sein, sicher, nur Luft im Gelenk, sonst nichts. Er hält das Gesicht ganz nah vor den Spiegel, jetzt sieht er: Poren. Darin: Schwarze Punkte wie im Fruchtfleisch einer Kiwi. Weiterhin: Fettfilm, der die Stirn überzieht und das Licht reflektiert. Ich spiegle mich im Spiegel meines Fettspiegels. Überm rechten Auge ruht eine ausgefallene Wimper in der Hängematte restlicher Wimpern, macht Urlaub. Die Lippen: Spröde, rissig, mit Dellen und Furchen übersät, es erinnert an ostdeutsche Landstraßen, allein Bundesergänzungszuweisungen wird es für diese Baustelle niemals geben. Das Kinn: Derb, kantig, verbrämt durch Bartstoppel. Sie sprießen wie Unkraut, jeden Tag wird gejätet, aber am nächsten Tag sind sie zurück, wünschen beim Anblick einen guten Morgen.
Männer, überlegt Johann, sind als Nutztiere kolossal nutzlos. Hühner legen Eier, jedes zweite Tier auf diesem Planeten, so scheint es jedenfalls, gibt Milch. Vom Fleisch sieht er ab, Kannibalismus überlässt man besser den Schweinen.

Diese Gedanken wüten in Johanns Kopf, wie eine feindliche Armee marschieren sie durchs neuronale Territorium. Er ist machtlos, er kann sie nicht aufhalten. Früher hat er versucht, sie zu verscheuchen, beschwor heitere Erinnerungen an Gespräche mit Eltern und Freunden herauf, zwang sich zur Ablenkung, spielte stundenlang Klavier, es nutzte nichts. Die Armee gewann, irgendwann gewann sie immer, zwang ihn loszurennen und sich vor den Spiegel zu stellen. Dort ereilte ihn blankes Entsetzen: Alles an ihm war widerlich. Es ekelte ihn vor seinem Körper und was ihm aus dem Spiegel entgegenblickte schien dasselbe zu denken, denn es starrte ihn fassungslos aus aufgerissenen Augen an.

Hilfe erwartete Johann von niemandem, ihm war nicht zu helfen, davon war er überzeugt. Seine Eltern liebten ihn wie er war, niemals würden sie verstehen, dass er sich nicht liebte, dass es unmöglich war ihn zu lieben. Es machte ihn wütend, auf sie, die offensichtlich mit Blindheit geschlagen sein mussten oder wenigstens ignorant und dumm vor sich hin lebten.

Mittlerweile zeigt der Radiowecker 23 Uhr, seit einer halben Stunde steht Johann nackt im Raum und wünscht sein Äußeres wäre tot, Abfall und von der Erde entfernt. Nach einem Handgriff gurgelt Wasser aus dem Hahn über seine Handflächen, noch ist es kalt, jetzt schon empfindlich heiß und Dampf schwelt herauf. Er führt das Wasser zum Gesicht, es brennt auf der Haut. Mit einem Ruck bringt er seinen Kopf unter den Wasserstrahl, das ist ein Wahnsinnsschmerz, der blitzt erst kurz auf, um sich gleich danach als Klinge durch den Schädel zu bohren. Lange kann er die Position nicht halten und reißt den Kopf zurück. Krebsrot lacht er den Spiegel aus: Das war der Vollwaschgang, Intensivreinigung inklusive Bügeln und Stärken.

An seine Taufe kann er sich nicht erinnern, wohl aber weiß er, dass sie generell nicht mit heißem Wasser vollzogen wird, was natürlich ein Fehler ist. Wie soll spirituelle Reinigung funktionieren, wenn sie auf keiner weltlichen Hygiene gründet? Hitze und Feuer reinigen alles, denen ist jedes Futter recht. Ob Holz oder Fleisch, es wird verzehrt. Selbst Steine frisst das Feuer, wenn es nur heiß und hungrig genug ist. Für Johann ist klar, dass Gott sich als brennender Busch zeigte, denn Gott ist rein, also muss er aus Feuer bestehen. Man kann ihn besuchen, als Sonne ist er Zentrum unseres planetaren Systems und jeder ungläubige Physiker sollte sich von Gottes Reinheit überzeugen. Einmal hinein geflogen reinigt er auch dich, das ist Katharsis in Sekundenschnelle, totale Reinheit, da bleibt nichts übrig.

Zufrieden rafft Johann seine Kleidung zusammen, huscht nackt durch den Flur und hinein in sein Zimmer. Dort zieht er einen Pyjama an, stülpt erst das Oberteil über, dann die Hose. Im Bett liegend empfängt ihn schnell ein tiefer Schlaf.

Nebel hängt in dicken Schwaden in der Luft, unter den Füßen glänzt feucht das Kopfsteinpflaster. Zu beiden Seiten Johanns stehen Häuser, die, höher als die Sicht es zulässt, in den Himmel ragen. In Bodennähe gewähren mannshohe Fensterfassaden Einblick ins Mauerinnenleben, es sind Schaufenster. In ihnen inszenieren Puppen Situationen des Alltags: Eine Frau richtet einem kleinen Jungen den Jackenkragen, zwei Männer im Frack gehen spazieren, sehen aus, als plauderten sie, daneben ein Kinderzimmer mit Kinderkrippe, Puppenbaby und elektrischer Eisenbahn, die geräuschlos im Kreis fährt. Still auch alles andere, nichts ist zu hören, kein Verkehr in der Ferne, kein Abwasserrauschen aus den Gullys.

Das Schaufenster mit Mutter und Kind hat Johanns Interesse geweckt, er steht schon davor. Die Haut der Figuren ist makellos weiß, ohne Poren, ohne Haare. Ihre ausdruckslosen Augen sind aufgemalt, doch von unnatürlicher Schönheit. Er schrickt zusammen, als sich links vom Fenster mit den zwei Herrenpuppen langsam eine Doppeltür öffnet. Niemand zu sehen, der sie geöffnet hätte, auch keine surrende Mechanik ist zu hören. Aus dem Inneren scheint gelbes Licht und neugierig folgt Johann dieser Einladung.

Er befindet sich inmitten einer Fabrikhalle. Hier herrscht plötzlich ohrenbetäubender Lärm: Pfeifen, Zischen, Mahlen und Schleifen ergeben zusammen einen kaum auszuhaltenden Klangteppich. Johann hält die Hände über die Ohren, aber es hilft nicht, dem Lärm kann man nicht entkommen. Rohre schlängeln sich an Decken und Wänden entlang, winden sich, teilen und verbinden sich wie Gedärme eines mechanischen Ungetüms. Fließbänder rattern, auf ihnen fahren weiße Arme, Beine, Rümpfe, Hände, Füße entlang, verschwinden in kreischenden Pressen, tauchen wieder auf, gestaucht, verjüngt, gestreckt, bemalt. Anfang und Ende der Produktionsstraße sind nicht auszumachen, die Streckenführung ist zu verworren.

Er versucht, dem Verlauf der Produktion zu folgen und rennt einer Hand hinterher. Zuerst fährt sie auf einen Stahlkasten zu. Kurz bevor sie ihn erreicht, öffnet sich am Kasten eine Klappe und ein Stoß unterhalb des Laufbands lässt die Hand in den Kasten hüpfen, woraufhin die Klappe sich sofort schließt. Nur wenige Augenblicke und ein mächtiges Knallen später erscheint die Hand auf einem Laufband hinter dem Kasten, jedoch verbindet sie nun ein schlanker Arm mit einem Frauentorso.

Ähnlich vollzieht sich der weitere Produktionsprozess: Der Torso fährt auf den nächsten Kasten zu, der auch zwei Beine und einen Unterleib aufnimmt, nur um daraufhin einen kopflosen Frauenkörper auszuspucken, der, Johann wagt ein kurzes Spähen, am Orte des Geschlechts bloß über eine unscheinbare Schwellung verfügt – der Genitalbereich muss an anderer Stelle definiert werden. An der vorletzten Station, einem roten Kasten von enormer Größe, erhält Johanns Beobachtungsobjekt einen kleinen Kopf mit roten Haaren, ein Gesicht mit Augen, Mund und Nase ist ebenfalls vorhanden.

Der Abschluss der Produktion findet in einem großen, finsteren Raum statt. Verchromte Schaufeln schieben die fertiggestellten Puppenkörper in einen metertiefen Trichter. Der schüttelt sie wild durcheinander, bis sie irgendeinen Seitenschacht hinabrutschen. In diesen werden ihnen mal schöne Mäntel und edle Pelze, dann schlichtes Leinen und derb geschnittene Hosen in je zwei Hälften angelegt. Eine dampfend-heiße Nadel am Teleskoparm näht die Hälften dann blitzschnell zusammen. Zuletzt verfrachtet die Maschinerie die fertigen Puppen in mannshohe Kartons auf denen wirre Ortsangaben wie „Nord-Nordost 11, Tiefbau B.“ oder „West-West 2, Parla.“ stehen.

Johann interessiert nun der Ursprung der schönen weißen Gliedmaßen. Er läuft die Produktionsstraße zurück, bis er an einen Schacht gelangt, aus dem in regelmäßigen Abständen alle Arten von Körperteilen purzeln. Der Schacht führt fast bis zur Decke, was ganz oben geschieht, ist von unten nicht auszumachen. Glücklicherweise befindet sich neben dem Schacht eine Leiter. Johann zögert kurz und klettert hinauf.
Auf dem Weg nach oben erkennt er, dass sich auch im Schacht an manchen Stellen Kästen wie die der anderen Produktionsstationen befinden. Nach etwa 50 Metern steten Kletterns hält Johann ein, um zu verschnaufen und bemerkt einen beißenden Geruch, ja einen furchtbaren Gestank, der in der Luft liegt. Johann setzt seinen Weg fort, wobei der Gestank immer schlimmer wird und er sich zwingen muss, den Brechreiz zu unterdrücken.

Am Ende geht die Leiter in eine kleine Plattform über, die er staunend betritt. Vor ihm liegt ein Becken von der Größe eines kleineren Sees. Im Becken must und blubbert, windet und dreht sich eine Masse aus Kleidung, Müll, Unrat, Organen und allerlei mehr. Johann erkennt im Gemenge eine Brieftasche, einen grünen Gartenschlauch, weiter hinten glaubt er eine Brille aufblitzen zu sehen, während direkt vor ihm eine Gehirnhälfte im braunen Matsch versinkt. Da bewegt sich die Masse auf einmal und in der Mitte vom Becken bildet sich ein Strudel, der schmatzend ein Stück Rohmasse einsaugt. Bei diesem Geräusch verliert Johann die Kontrolle, es steigt hoch in ihm und er würgt, schmeckt Galle und plötzlich wird ihm klar: Er fürchtet sich vor dieser unheilvollen fremden Fabrik. Nach Atem ringend sinkt er zu Boden.

Johann wacht im Bett auf und merkt, dass sein Kopfkissen vom Schweiß durchnässt ist. Beim Aufstehen ist er noch halb benommen, ein fauler, saurer Geschmack hat sich in seinem Mund breit gemacht. Er geht ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit Seife, putzt die Zähne, betrachtet sich im Spiegel. Es ist das alte, bekannte Gesicht, das ihn anschaut. An seinem Kinn sind neue Bartstoppeln gewachsen. Leicht greift er zum Rasierapparat und weiß, dass er den Kampf gewinnen wird.

 

Hallo agopo
und herzlich willkommen auf kurzgeschichten.de :)

Einen wirklich gelungenen Einstand, den du hier ablieferst. Sprachlich gibt es von meiner Seite aus nur ein dickes Lob. Bin nicht ein einziges Mal beim Lesen gestolpert und habe mich an deiner Freude mit der Sprache zu hantieren berauscht.
Das liest sich in einem Rutsch durch, stimmig.

Inhaltlich finde ich die Zweiteilung zwischen Eigenbetrachtung vs Besuch in der Puppen-Fabrik ebenfalls gut gewichtet. Hier bietest du eine Menge Interpretationsstoff an.
Lediglich beim Ausklang bin ich mir noch nicht so sicher, das kam mir etwas zu plötzlich und ziemlich konstruiert. Da gibst du zu viel vor, überlässt dem Leser zu wenig. Auch ist es natürlich eine recht abgedroschene Angelegenheit das Geschehen als einen Traum aufzudecken. Allerdings ist die Sequenz so gut, dass mich das nicht sonderlich gestört hat.
Fazit: Das Ende würde ich noch einmal überarbeiten. Gib Indizien, dass dein Prot sich dieses Mal anders verhalten wird, einen Schritt nach vor getan hat, aber leg es nicht so plakativ dar

Er weiß jetzt, dass er es nicht hasst, dass er es nicht hassen darf. Er wird den Kampf beenden, die wütenden Armeen entlassen.
Andeutungen, dass irgendetwas anders ist als sonst, würden hier meiner Meinung nach reichen. In dieser Form bevormundest du den Leser.
und weiß, dass er den Kampf gewinnen wird.
auch das fällt in die gleiche Kategorie. Wenn er schon leicht zum Rasierer greift, reicht das je beinahe als Indiz.

Man darf auf mehr von dir gespannt sein.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hej agopo,

schöner erster Satz, der die Situation sofort deutlich werden lässt :) .

Ich schließe mich Weltenläufer an, was die Sprache betrifft.

Bei der Traumsequenz habe ich innerlich abgeschaltet, der erste Teil hat mich stärker angesprochen, da habe ich mich noch gefragt, was das Fremdsein für (seltsame) Auswirkungen haben könnte, wohin die Geschichte läuft.
Für Seltsam scheint mir die Geschichte recht normal zu sein.

Freue mich auch auf mehr von Dir.

Viele Grüße
Ane

 

Hallo weltenläufer und Ane,

vielen Dank für Euer Feedback!

weltenläufer, ich habe über Deine Kritik hinsichtlich des offenbar doch sehr konstruiert wirkenden Schlusses nachgedacht. Und weißt Du was? Du hast vollkommen Recht: Weniger wäre hier sicher mehr gewesen. Demnächst setze ich mich ran und überlege, wie man die Geschichte eleganter ausklingen lassen könnte.

Ane: Tatsächlich hatte ich viel gegrübelt, in welche Rubrik die Geschichte am Besten passen würde. Alltag, Experimente, Fantasy und Sonstiges schienen auch irgendwie vertretbar, aber "Seltsam" machte mich selbst neugierig und deshalb hab ich die Geschichte hier reingestellt. Auch schien mir die Mischung aus Alltag, Traum, Skurrilem und Heilungserfolg so quirlig, dass ichs nicht recht einordnen konnte.

Dass Du bei der Traumsequenz abgeschaltet hast, ist natürlich schade, aber zugleich ein Indiz für Längen. Vielleicht sollte ich auch dort den Produktionsprozess ein wenig abkürzen?

Keine Sorge, ich poste noch mehr. ;)

Grüße zurück
agopo

 
Zuletzt bearbeitet:

Herzlich willkommen hier, agopo!

Erstmal muß ich in den Lobgesang über das gelungene Erstwerk und die schöne Sprache einstimmen. Das Lesen hat mir viel Freude bereitet, vor allem der erste Teil ist schön rund.
Ab dem Moment, da Johann einschläft und träumt, gerät die Geschichte aus geheimnisvollen Gründen etwas aus den Fugen und sackt ab, als sei der Traum eher mit der heißen Nadel gestickt, dabei ist er prima, ich liebe Industrie- und Maschinenhallenzeug. Ich rate Dir, diesen Teil zu überarbeiten, damit er besser reinhaut.

Hier meine persönliche Nörgel- und Klugscheißerliste:

Häuser, die höher als die Sicht es zulässt in den Himmel ragen.
Da wünsche ich mir Kommata. Vielleicht ist das ein unvernünftiger oder reformativ überkommener Wunsch, aber immerhin kann es nicht verboten sein, und es gäbe drei Möglichkeiten und damit einiges an unnötigem Verzweiflungspotential:

die, höher als die Sicht es zuläßt, ...
die, höher, als die Sicht es zuläßt, ...
die höher, als die Sicht es zuläßt, ...

auf unnatürliche Weise schön, wenngleich ausdruckslos.
wenngleich ist ein tolles Wort. Trotzdem würde ich es streichen, da es durch unnatürlich schön impliziert ist. *find*

zur Linken vom Fenster mit den zwei Herrenpuppen
Du liebst dem Dativ. Vom ist ein Wort, dessen häufige Verwendung mir in der ganzen Geschichte auffiel. Stört ja auch nicht, aber zur Linken vom Fenster finde ich unelegant. Die Linke und die Rechte sind eher Gliedmaßen. Es böten sich an:

links vom Fenster (da hast Du Deinen Dativ wieder)
links(seits) des Fensters

Aus dem Inneren scheint gelbes Licht, und neugierig folgt Johann der Einladung einzutreten.
Muß ja nicht mehr, dieses Komma, aber darf noch, wenn der Satz dann schöner gegliedert ist. Ich bin dafür.
aus der Einladung einzutreten würde ich dieser Einladung machen.

verschwinden in kreischenden Pressen aus Johanns Blickfeld
streichen, überflüssig.

zu verworren ist die Streckenführung, zu neu und ungewohnt der Anblick, an den sich Johann, vom Getöse erschreckt, erst gewöhnen muss.
den kompletten unterstrichenen Teil streichen. Die Erklärung lenkt vom Anblick ab.

Er versucht, dem Verlauf der Produktion zu folgen, indem er eine besonders schöne Hand aussucht und diese im Laufschritt – es geht alles so schnell, er muss rennen, um Schritt halten zu können – bei den verschiedenen Produktionsstadien begleitet.

warum eine besonders schöne? Die sind doch alle gleich, oder nicht? Den Satz würde ich drastisch kürzen, damit er mehr Wums bekommt, etwa so:

Er versucht, dem Verlauf der Produktion zu folgen, indem er eine Hand aussucht und diese im Laufschritt verfolgt.

Das kann ich mir dann prima vorstellen, wie er dem Fließband hinterherrennt wie der Typ in Soylent Green (oder überhaupt), und Du hast mit dem kürzeren Satz mehr Tempo, wo es doch jetzt gerade hektisch wird.

öffnet sich am Kasten eine Klappe, und ein Stoß unterhalb vom Laufband
siehe weiter oben, ein Luxuskommavorschlag.

mit einem Frauentorso, der an Umfang und Form unschwer als ein solcher zu erkennen ist.
überflüssig. Ein Frauentorso, fertig! Woran er den erkennt, ist ja nun echt egal und außerdem oberlogisch nachvollziehbar.

Erst jetzt bemerkt Johann, dass Körperteile auch von oben und unten in den Kasten eingespeist werden, der sie dann mittels eines unbekannten Verfahrens nahtlose Verbindungen eingehen lässt.

Das holpert. Vorher erkennt er doch schon, daß die Hand mit Arm und Torso verbunden wird, was wird denn jetzt da noch verschweißt in demselben Kasten? Oder reichst Du hier die Erklärung nach, daß Arm und Torso also auch in den Kasten hineingekommen waren, da sie bereits nachher wieder raus ... also, das würde ich einfach so streichen. Ich sah, wie der Torso mit Arm und Hand aus dem Kasten kam und verhedderte mich dann voll in diesem Satz, dabei geht es hier doch völlig schlüssig weiter:

Der Torso fährt auf den nächsten Kasten zu, der auch zwei Beine und einen Unterleib aufnimmt, nur um daraufhin einen kopflosen Frauenkörper auszuspucken,

Hier finde ich ungeschickt:
Das auch mit Anhang. Das klingt, als habe der erste Kasten ebenfalls Beine aufgenommen.
Das nur (warum nur? Was hätte er denn sonst ausspucken können?)

Da könntest Du diesen Satz (der in meiner Vorstellung ja bereits gestrichen ist :D) teilverwerten:

Erst jetzt bemerkt Johann, dass Körperteile auch von oben und unten in den Kasten eingespeist werden, der sie dann mittels eines unbekannten Verfahrens nahtlose Verbindungen eingehen lässt.

Also Vorschlag:

Der Torso fährt auf den nächsten Kasten zu, von oben und unten werden Beine und ein Unterleib eingespeist und im Inneren nahtlos verbunden. Daraufhin wird ein Frauenkörper ausgespuckt, ...

einen kleinen Kopf mit roten Haaren. Gesichtsmerkmale wie Augen, Mund und Nase sind ebenfalls vollständig vorhanden.
Den zweiten Satz versteh ich nicht. Hat der Kopf ein Gesicht? Dann ist es eben ein Kopf mit Gesicht. Oder hat er Gesichtsmerkmale? Ein angedeutetes Gesicht? Was sind vollständige Merkmale?

Doch was nun folgt, damit hatte Johann nicht gerechnet: Obwohl die bisherige Produktion einer Puppe fein abgestimmt war, wovon er ausging, da sämtliche Proportionen der Körperteile perfekt zueinander passten, werden die fertig gestellten Puppenkörper in einen metertiefen Trichter geworfen. Der schüttelt sie im wilden Gemenge durcheinander, bis sie irgendeinen Seitenschacht hinabrutschen. In diesem werden ihnen willkürlich Kleider angelegt, mal schöne Mäntel und edle Pelze, dann schlichtes Leinen und derb geschnittene Hosen. Zuletzt verfrachtet die Maschinerie die fertigen Puppen in mannshohe Kartons, auf denen wirre Ortsangaben wie „Nord-Nordost 11, Tiefbau B.“ oder „West-West 2, Parla.“ stehen.

Würd ich zusammenstreichen. Die überflüssigen und bremsenden Erklärungen raus und zB so anfangen:

Die fertiggestellten Puppenkörper fallen in einen metertiefen Trichter.

Das Gemenge würd ich nochmal überlegen, das ist ein auffälliges Wort, das Du nachher nochmal für den Sapsch im Becken verwendest. Wild durcheinander wär auch gut.

Bei Sachen wie werden geworfen könntest Du übrigens dem neugierigen Leser ruhig die Werfvorrichtung gönnen. Gibts da Hydraulikgreifer oder Roboterkräne, wird alles mit einem Schwenkarm vom Band gewischt, mit einem Stahlschieber geschubst, oder arbeiten da etwa Menschen, die nicht erwähnt werden? Und in dem Trichter bekommen sie Kleider, das sieht er, weil sie bekleidet rauskommen, aber wie werden ihnen Kleider angelegt? Das sind Details, von denen ich mehr vertragen könnte.

So sehr Johann Produktion und Zielort der Puppen interessieren, woher die schönen weißen Gliedmaßen kommen weiß er immer noch nicht. Er geht daher die Produktionsstraße entgegengesetzt zurück, an den vielen Kästen vorbei, bis er an einen Schacht gelangt, aus dem in regelmäßigen Abständen alle Arten von Körperteilen purzeln.
Da sind wieder so überflüssige Erklärungen. Entgegengesetzt zurück ist unnütz gedoppelt. Was würde fehlen, wenn es zB so anfinge:

Nachdem Johann nun Produktion und Zielort der Puppen gesehen hat, geht er die (entlang der) Produktionsstraße zurück, um zu erfahren, woher die schönen weißen Gliedmaßen kommen.

must und blubbert
Es must! Yeah! Eines meiner Highlights.

plötzlich wird ihm klar: Er fürchtet sich vor dieser unheilvollen fremden Fabrik.
Das kommt ein bißchen schlapp daher, finde ich. Da könnte man das Drama- und Gefühlspedal kurz und drastisch durchtreten.

Dafür den Schluß ausdünnen, hier wäre mein Vorschlag:

Er geht ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit Seife, putzt die Zähne, betrachtet sich im Spiegel, sein altes, bekanntes Gesicht.
Leicht greift er zum Rasierapparat (Oder: Johann greift zum Rasierapparat) und weiß, dass er den Kampf gewinnen wird.


Irgendwas von der Liste kannst Du bestimmt brauchen, ansonsten eben nicht, gut ist die Geschichte auch so.

Meine Theorie zum zweiten Teil:
Du vertraust der Phantasie und Aufnahmefähigkeit des Lesers noch nicht so recht, daher kommen Hudelei am Detail und Überflüssigkeiten oft. Hierzu ein weises Zitat von Tucholsky:

Das Volk ist doof, aber gerissen.

Das wird sich aber wie von selbst regeln, wenn Du hier mehr schreibst (was ich mal hoffe) und mehr Reaktionen siehst.

Freundlichen Gruß,
Makita.

P.S. Seltsam ist die beste Rubrik, wenn Du mich fragst.
P.P.S.

der Genitalbereich muss an anderer Stelle definiert werden.
Das hab ich ja schon immer befürchtet. :D

 

Hi Makita,

vielen Dank für die Kritik und vor allem die Verbesserungsvorschläge!

Nachdem ich Deine Geschichte "Mene mene tekel" gelesen hatte, war mir klar, dass man Deine Meinung besser ernst nimmt. An dieser Stelle ein großes Lob! Ich habe selbst einmal eine Hausarbeit über Heines "Belsatzar" (gibts auch in anderen Schreibweisen) geschrieben, war also ohnehin interessiert. Mit der kolossalen Beschreibung der spritzigen Blechmarie hast Du dann aber meinen Funny Bone getroffen und es war um mich geschehen.

Ich habe versucht, die Geschichte entsprechend Eurer Kritik, also auch weltenläufers und Anes, zu verbessern. Gerade von Dir, Makita, musste ich die meisten Vorschläge trotz eigener Überlegung schlicht übernehmen, so passend waren die meisten. Allein bei Komma nach Kojunktion bleibe ich stur: Ein "und" separiert genug!

In der Rubrik "Alltag" habe ich eine weitere (alte) Geschichte reingestellt. Ich würde mich freuen, wenn Ihr diese auch so konzentriert lest und beurteilt!

 

In der Rubrik "Alltag" habe ich eine weitere (alte) Geschichte reingestellt. Ich würde mich freuen, wenn Ihr diese auch so konzentriert lest und beurteilt!
Als kleiner Tipp:
Das Prinzip des Forums basiert auf Geben und Nehmen ;)

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom