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Fremd
Wie das baumelt, wie das schwingt. Johann steht in der Mitte vom Badezimmer, er schaut in den Spiegel. Auf dem Spiegel hat sich eine Galaxie kleiner Sterne aus Tropfen von Zahnpasta und Spucke geformt. Betrachtet man sein Gesicht in ihr, wirkt es als leide man an einer Hautkrankheit.
Johann ist nackt. Seine Hose hängt über der Heizung, das schwarzgrau gestreifte, langärmlige Shirt liegt zerknüllt auf dem Boden, es trägt noch seine Körperwärme in sich. Müden Auges wird Bestandsaufnahme gemacht: 1,84 Meter, 75 Kilogramm, kurze braune Haare, zahm nach links gescheitelt, Haare auch auf Brust und Schultern, diesmal schwarz, Haare auf Armen und Beinen. Er ist kein Athlet, doch beileibe auch kein Schwächling. Schamhaft ist allein die Haltung, Samy Molcho böte sie Anlass ihn rezessiv einzuschätzen.
Wie beim Obsteinkauf betastet Johann prüfend sein Geschlecht. Es ist weich und, hierin ist er sich sicher, von abstoßender Hässlichkeit. Das Ausmaß dieser Hässlichkeit hat ihn schon immer in ungläubiges Erstaunen versetzt, schließlich gibt es auf der Welt so viele Beweise in Natur und Kunst für das Schöne: Zum Beispiel Sonnenaufgänge, die Bilder Kandinskys, See bei Sturm oder das Luftschiff Graf Zeppelin. Auf dem Badewannenrand sitzend hängt Johann Gedanken über Ästhetik nach. Welche Ästhetik hat sein Körper zu bieten? Er richtet den Blick abermals aufs Glied. Die einzige Ästhetik, die dort zu finden ist – nach wohlwollender Suche – ist Symmetrie. Hier ein Rund, da ein Rund; Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Gut, wenig Hoffnung im Souterrain, wollen uns das Dachgeschoss anschauen.
Johann steht auf, dabei knackt es unter den Kniescheiben, soll bloß Luft sein, sicher, nur Luft im Gelenk, sonst nichts. Er hält das Gesicht ganz nah vor den Spiegel, jetzt sieht er: Poren. Darin: Schwarze Punkte wie im Fruchtfleisch einer Kiwi. Weiterhin: Fettfilm, der die Stirn überzieht und das Licht reflektiert. Ich spiegle mich im Spiegel meines Fettspiegels. Überm rechten Auge ruht eine ausgefallene Wimper in der Hängematte restlicher Wimpern, macht Urlaub. Die Lippen: Spröde, rissig, mit Dellen und Furchen übersät, es erinnert an ostdeutsche Landstraßen, allein Bundesergänzungszuweisungen wird es für diese Baustelle niemals geben. Das Kinn: Derb, kantig, verbrämt durch Bartstoppel. Sie sprießen wie Unkraut, jeden Tag wird gejätet, aber am nächsten Tag sind sie zurück, wünschen beim Anblick einen guten Morgen.
Männer, überlegt Johann, sind als Nutztiere kolossal nutzlos. Hühner legen Eier, jedes zweite Tier auf diesem Planeten, so scheint es jedenfalls, gibt Milch. Vom Fleisch sieht er ab, Kannibalismus überlässt man besser den Schweinen.
Diese Gedanken wüten in Johanns Kopf, wie eine feindliche Armee marschieren sie durchs neuronale Territorium. Er ist machtlos, er kann sie nicht aufhalten. Früher hat er versucht, sie zu verscheuchen, beschwor heitere Erinnerungen an Gespräche mit Eltern und Freunden herauf, zwang sich zur Ablenkung, spielte stundenlang Klavier, es nutzte nichts. Die Armee gewann, irgendwann gewann sie immer, zwang ihn loszurennen und sich vor den Spiegel zu stellen. Dort ereilte ihn blankes Entsetzen: Alles an ihm war widerlich. Es ekelte ihn vor seinem Körper und was ihm aus dem Spiegel entgegenblickte schien dasselbe zu denken, denn es starrte ihn fassungslos aus aufgerissenen Augen an.
Hilfe erwartete Johann von niemandem, ihm war nicht zu helfen, davon war er überzeugt. Seine Eltern liebten ihn wie er war, niemals würden sie verstehen, dass er sich nicht liebte, dass es unmöglich war ihn zu lieben. Es machte ihn wütend, auf sie, die offensichtlich mit Blindheit geschlagen sein mussten oder wenigstens ignorant und dumm vor sich hin lebten.
Mittlerweile zeigt der Radiowecker 23 Uhr, seit einer halben Stunde steht Johann nackt im Raum und wünscht sein Äußeres wäre tot, Abfall und von der Erde entfernt. Nach einem Handgriff gurgelt Wasser aus dem Hahn über seine Handflächen, noch ist es kalt, jetzt schon empfindlich heiß und Dampf schwelt herauf. Er führt das Wasser zum Gesicht, es brennt auf der Haut. Mit einem Ruck bringt er seinen Kopf unter den Wasserstrahl, das ist ein Wahnsinnsschmerz, der blitzt erst kurz auf, um sich gleich danach als Klinge durch den Schädel zu bohren. Lange kann er die Position nicht halten und reißt den Kopf zurück. Krebsrot lacht er den Spiegel aus: Das war der Vollwaschgang, Intensivreinigung inklusive Bügeln und Stärken.
An seine Taufe kann er sich nicht erinnern, wohl aber weiß er, dass sie generell nicht mit heißem Wasser vollzogen wird, was natürlich ein Fehler ist. Wie soll spirituelle Reinigung funktionieren, wenn sie auf keiner weltlichen Hygiene gründet? Hitze und Feuer reinigen alles, denen ist jedes Futter recht. Ob Holz oder Fleisch, es wird verzehrt. Selbst Steine frisst das Feuer, wenn es nur heiß und hungrig genug ist. Für Johann ist klar, dass Gott sich als brennender Busch zeigte, denn Gott ist rein, also muss er aus Feuer bestehen. Man kann ihn besuchen, als Sonne ist er Zentrum unseres planetaren Systems und jeder ungläubige Physiker sollte sich von Gottes Reinheit überzeugen. Einmal hinein geflogen reinigt er auch dich, das ist Katharsis in Sekundenschnelle, totale Reinheit, da bleibt nichts übrig.
Zufrieden rafft Johann seine Kleidung zusammen, huscht nackt durch den Flur und hinein in sein Zimmer. Dort zieht er einen Pyjama an, stülpt erst das Oberteil über, dann die Hose. Im Bett liegend empfängt ihn schnell ein tiefer Schlaf.
Nebel hängt in dicken Schwaden in der Luft, unter den Füßen glänzt feucht das Kopfsteinpflaster. Zu beiden Seiten Johanns stehen Häuser, die, höher als die Sicht es zulässt, in den Himmel ragen. In Bodennähe gewähren mannshohe Fensterfassaden Einblick ins Mauerinnenleben, es sind Schaufenster. In ihnen inszenieren Puppen Situationen des Alltags: Eine Frau richtet einem kleinen Jungen den Jackenkragen, zwei Männer im Frack gehen spazieren, sehen aus, als plauderten sie, daneben ein Kinderzimmer mit Kinderkrippe, Puppenbaby und elektrischer Eisenbahn, die geräuschlos im Kreis fährt. Still auch alles andere, nichts ist zu hören, kein Verkehr in der Ferne, kein Abwasserrauschen aus den Gullys.
Das Schaufenster mit Mutter und Kind hat Johanns Interesse geweckt, er steht schon davor. Die Haut der Figuren ist makellos weiß, ohne Poren, ohne Haare. Ihre ausdruckslosen Augen sind aufgemalt, doch von unnatürlicher Schönheit. Er schrickt zusammen, als sich links vom Fenster mit den zwei Herrenpuppen langsam eine Doppeltür öffnet. Niemand zu sehen, der sie geöffnet hätte, auch keine surrende Mechanik ist zu hören. Aus dem Inneren scheint gelbes Licht und neugierig folgt Johann dieser Einladung.
Er befindet sich inmitten einer Fabrikhalle. Hier herrscht plötzlich ohrenbetäubender Lärm: Pfeifen, Zischen, Mahlen und Schleifen ergeben zusammen einen kaum auszuhaltenden Klangteppich. Johann hält die Hände über die Ohren, aber es hilft nicht, dem Lärm kann man nicht entkommen. Rohre schlängeln sich an Decken und Wänden entlang, winden sich, teilen und verbinden sich wie Gedärme eines mechanischen Ungetüms. Fließbänder rattern, auf ihnen fahren weiße Arme, Beine, Rümpfe, Hände, Füße entlang, verschwinden in kreischenden Pressen, tauchen wieder auf, gestaucht, verjüngt, gestreckt, bemalt. Anfang und Ende der Produktionsstraße sind nicht auszumachen, die Streckenführung ist zu verworren.
Er versucht, dem Verlauf der Produktion zu folgen und rennt einer Hand hinterher. Zuerst fährt sie auf einen Stahlkasten zu. Kurz bevor sie ihn erreicht, öffnet sich am Kasten eine Klappe und ein Stoß unterhalb des Laufbands lässt die Hand in den Kasten hüpfen, woraufhin die Klappe sich sofort schließt. Nur wenige Augenblicke und ein mächtiges Knallen später erscheint die Hand auf einem Laufband hinter dem Kasten, jedoch verbindet sie nun ein schlanker Arm mit einem Frauentorso.
Ähnlich vollzieht sich der weitere Produktionsprozess: Der Torso fährt auf den nächsten Kasten zu, der auch zwei Beine und einen Unterleib aufnimmt, nur um daraufhin einen kopflosen Frauenkörper auszuspucken, der, Johann wagt ein kurzes Spähen, am Orte des Geschlechts bloß über eine unscheinbare Schwellung verfügt – der Genitalbereich muss an anderer Stelle definiert werden. An der vorletzten Station, einem roten Kasten von enormer Größe, erhält Johanns Beobachtungsobjekt einen kleinen Kopf mit roten Haaren, ein Gesicht mit Augen, Mund und Nase ist ebenfalls vorhanden.
Der Abschluss der Produktion findet in einem großen, finsteren Raum statt. Verchromte Schaufeln schieben die fertiggestellten Puppenkörper in einen metertiefen Trichter. Der schüttelt sie wild durcheinander, bis sie irgendeinen Seitenschacht hinabrutschen. In diesen werden ihnen mal schöne Mäntel und edle Pelze, dann schlichtes Leinen und derb geschnittene Hosen in je zwei Hälften angelegt. Eine dampfend-heiße Nadel am Teleskoparm näht die Hälften dann blitzschnell zusammen. Zuletzt verfrachtet die Maschinerie die fertigen Puppen in mannshohe Kartons auf denen wirre Ortsangaben wie „Nord-Nordost 11, Tiefbau B.“ oder „West-West 2, Parla.“ stehen.
Johann interessiert nun der Ursprung der schönen weißen Gliedmaßen. Er läuft die Produktionsstraße zurück, bis er an einen Schacht gelangt, aus dem in regelmäßigen Abständen alle Arten von Körperteilen purzeln. Der Schacht führt fast bis zur Decke, was ganz oben geschieht, ist von unten nicht auszumachen. Glücklicherweise befindet sich neben dem Schacht eine Leiter. Johann zögert kurz und klettert hinauf.
Auf dem Weg nach oben erkennt er, dass sich auch im Schacht an manchen Stellen Kästen wie die der anderen Produktionsstationen befinden. Nach etwa 50 Metern steten Kletterns hält Johann ein, um zu verschnaufen und bemerkt einen beißenden Geruch, ja einen furchtbaren Gestank, der in der Luft liegt. Johann setzt seinen Weg fort, wobei der Gestank immer schlimmer wird und er sich zwingen muss, den Brechreiz zu unterdrücken.
Am Ende geht die Leiter in eine kleine Plattform über, die er staunend betritt. Vor ihm liegt ein Becken von der Größe eines kleineren Sees. Im Becken must und blubbert, windet und dreht sich eine Masse aus Kleidung, Müll, Unrat, Organen und allerlei mehr. Johann erkennt im Gemenge eine Brieftasche, einen grünen Gartenschlauch, weiter hinten glaubt er eine Brille aufblitzen zu sehen, während direkt vor ihm eine Gehirnhälfte im braunen Matsch versinkt. Da bewegt sich die Masse auf einmal und in der Mitte vom Becken bildet sich ein Strudel, der schmatzend ein Stück Rohmasse einsaugt. Bei diesem Geräusch verliert Johann die Kontrolle, es steigt hoch in ihm und er würgt, schmeckt Galle und plötzlich wird ihm klar: Er fürchtet sich vor dieser unheilvollen fremden Fabrik. Nach Atem ringend sinkt er zu Boden.
Johann wacht im Bett auf und merkt, dass sein Kopfkissen vom Schweiß durchnässt ist. Beim Aufstehen ist er noch halb benommen, ein fauler, saurer Geschmack hat sich in seinem Mund breit gemacht. Er geht ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit Seife, putzt die Zähne, betrachtet sich im Spiegel. Es ist das alte, bekannte Gesicht, das ihn anschaut. An seinem Kinn sind neue Bartstoppeln gewachsen. Leicht greift er zum Rasierapparat und weiß, dass er den Kampf gewinnen wird.