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Fremdkörper
„Spinn´ ich, oder was?“ Selbstgespräche waren die einzige Form der Kommunikation in diesem Haus, seit Angela letzten Herbst von einem Tag zum anderen verschwunden war. Er hatte sie als vermisst gemeldet, sämtliche Nachforschungen waren jedoch ergebnislos verlaufen. Seit dieser Zeit litt er an Albträumen. Noch bevor die Ausläufer des Traumes weitere unverarbeitete, schmerzliche Erinnerungen an seine Frau hochspülen konnten, kam er wieder halbwegs zu sich. Eine haselnussgroße Beule, die er vor wenigen Stunden oberhalb des linken Knies erstmals ertastet hatte, bewegte sich und weckte dadurch sein Interesse. Lorian blieb zunächst abwartend auf dem Sofa liegen, um sicher zu gehen, dass er keiner Halluzination erlegen war, denn direkt nach dem Erwachen aus dem Mittagsschlaf spielten die Sinne meist ein wenig verrückt. Tatsächlich! Unter der Haut zappelte etwas, das konnte er deutlich spüren.
„Verdammte Scheiße!“ Angewidert sprang er auf, riss sich die Hose vom Leib und starrte entsetzt auf die leichte Erhöhung, die ihre Lage verändert hatte. Sie war nun zweifelsfrei ein Stück weiter oben zur Leiste hin platziert. Möglicherweise ein Wurm? Er hasste Würmer! Das Gebiet um den Schorf herum nässte immer noch. Vielleicht war bei seinem Sturz vom Fahrrad gestern am Baggersee unbemerkt ein Parasit in die noch frische Wunde eingedrungen, oder hatte seine Eier dort abgelegt. Ihm wurde bei dieser Vorstellung speiübel. Sein erster Impuls war, zum Arzt zu gehen, doch bis dieser ihn untersucht hätte, würde wertvolle Zeit vergehen. Er eilte erst ins Bad, dann zur Kommode, in der die Briefmarkensammlung aufbewahrt wurde und kehrte mit einem Handtuch und einer braunen Ledertasche zum Sofa zurück. Noch im Stehen durchwühlte er mit zitternden Fingern deren Inhalt, breitete Stück für Stück eine Lupe, eine Pinzette, sowie ein Skalpell auf dem Wohnzimmertisch aus. Zufrieden über die Ausbeute setzte er sich direkt unter die Hängelampe, atmete tief durch und legte das Handtuch unter seinen Oberschenkel. Dann nahm er das Vergrößerungsglas in die linke, das Skalpell in die rechte Hand.
Durch die Lupe hindurch konnte er beobachten, wie der längliche, offensichtlich lebende Fremdkörper sachte pulsierte, so als würde er ein- und ausatmen. Lorians Puls beschleunigte sich. Seine Gedanken wirbelten wirr durcheinander, erinnerten ihn an Bilder von schlüpfenden Maden, die er in einem Film über Australien gesehen hatte. Dabei hatte eine spezielle Gattung von Fliegen einem Aboriginee das halbe Gesicht weggefressen und den armen Mann total entstellt. Schauderhaft!
Die Haut an der höchsten Stelle wies keinerlei farbliche Veränderung auf, war jedoch aufs Äußerste gespannt. Er schluckte den abermals aufkeimenden Würgereiz hinunter, setzte die gekrümmte Klinge seitlich unterhalb der Schwellung an, damit der innere Druck nicht zum spontanen Reißen des Gewebes führte und biss die Zähne zusammen. Es kostete ihn einiges an Überwindung, sich in das eigene Fleisch zu schneiden, zumal er beim Anblick klaffender Wunden regelmäßig ohnmächtig wurde. Eine neue, subkutane Bewegung befreite ihn schließlich aus seiner Starre. Zu allem entschlossen, führte er den höllisch scharfen Stahl in einem Halbkreis an dem Zielgebiet entlang, wobei eine dünne, rote Linie entstand, aus der dicke Tropfen Blut herausquollen, jedoch weitaus weniger, als er befürchtet hatte. Außerdem verspürte er kaum Schmerz dabei. Er vermutete, dass dieses Ding einen Stoff absonderte, der betäubend wirkte und die Blutgerinnung beschleunigte. Noch bevor er Schlüsse aus seinen Überlegungen ziehen konnte, wurde er von einer spontanen Reaktion des ungebetenen Bewohners abgelenkt, denn dieser versuchte offensichtlich, seitlich zu entkommen. Überrascht ließ Lorian die Lupe fallen, nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger in die Zange und drückte ihn in Richtung Öffnung. Gleichzeitig tauschte er mit seiner Rechten das Skalpell gegen die Pinzette, die er zögernd unter den Hautlappen schob. „Gleich hab´ ich dich!“, zischte er.
Sein Vorhaben gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht, da der Fremdkörper auf jeden versuchten Zugriff mit wilden Drehungen innerhalb seines Gefängnisses reagierte. Außerdem brach Lorian mehrere Anläufe ab, da er Angst hatte, ihn mit der Pinzette zu zerteilen, und er wollte ihn lieber am Stück entfernen. Wieder und wieder stocherte er auf Verdacht in der ständig größer werdenden Tasche herum. Endlich war es geschafft! Ein Ende des gummiartigen Wesens klemmte zwischen den Backen des chromblitzenden Hilfsmittels fest. Schweißüberströmt vor Anspannung zog der Operateur an dem immer länger werdenden Wurm, der nun wie ein durchsichtiger Blutegel aussah. Nur noch ein letzter, sachter Ruck, und Lorian konnte seine Beute eingehend durch die Lupe betrachten.
Das sich unablässig windende Objekt hatte in etwa die Form einer Nacktschnecke, war transparent, ohne erkennbare Organe ausgestattet und von einem dünnen, schleimigen Film überzogen. Auch die kleine, fünffach vergrößernde Zusatzlinse zeigte weder einen Kopf, noch eine Strukturierung der Oberfläche. Trotzdem lebte es. Lorian war hin und her gerissen zwischen Abscheu und Neugier. „Eigentlich sollte ich dich im Klo runterspülen“, murmelte er versonnen. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr beschloss er jedoch, das Ding in ein leeres Marmeladeglas zu sperren, um es die nächsten Tage beobachten zu können.
Am nächsten Tag ging es ihm hundeelend. Das Länderspiel hatte einen hohen Preis gefordert. Nachdem die verfluchten Holländer mit vier zu eins in Führung gegangen waren, musste er, um seinen Frust loszuwerden, noch den Inhalt weiterer vier Flaschen Gerstensaft zu den vorherigen fünf in sich hineinkippen. Kein Wunder also, dass er sich beschissen fühlte und absolut schlapp. So konnte er wirklich nicht arbeiten gehen! Nach einem Anruf in der Firma, mit dem er sich vorsorglich für den Rest der Woche krank meldete, übergab er sich, nahm zwei Aspirin ein und legte sich mit brummendem Schädel wieder ins Bett.
In Erwartung einer schnellen Schmerzlinderung fuhr er mit den Fingern an den pochenden Schläfen entlang. Trotz seiner Benommenheit, erschrak er zutiefst: Oberhalb des rechten Ohrs konnte er eine Schwellung fühlen. Panisch sprang er hoch und rannte in die Küche, wo in einem Regal das unversehrte Marmeladeglas samt Inhalt, stand. Gott sei Dank! Dann fiel ihm wieder ein, dass er auf dem Weg zum Bierkasten gestolpert war. Na klar, der Hängeschrank! Das musste ja früher oder später passieren! Beruhigt kehrte er ins Schlafzimmer und in sein Bett zurück. Fast augenblicklich schlief er ein.
Wie viel Zeit vergangen war, konnte Lorian beim besten Willen nicht sagen. Die Wanduhr befand sich außerhalb seines Sichtbereiches, und sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Lediglich die Augenlider ließen sich, unter ungeheurer Anstrengung, noch öffnen und schließen. In dem Raum stank es erbärmlich nach Fäkalien und Urin. Zum ersten Mal wünschte er sich die Anwesenheit Angelas zurück. Sie hätte seine missliche Lage bemerkt und Hilfe geholt. Ganz sicher hätte sie das getan, auch wenn sie sonst eher unkooperativ gewesen war. Bei dem Gedanken an ihre unsägliche Gutmütigkeit gegenüber allem und jedem, stieg wieder die altbekannte Wut in ihm hoch. Diese verdammte Schlampe hatte sich ständig ausnutzen lassen. Zugegebenermaßen auch von ihm selbst, aber diese Tatsache stand nie zur Debatte. Ständig hing sie bei fremden Leuten herum, hörte sich deren Sorgen und Nöte an. Nur ihm hörte sie nie richtig zu. Wann immer er sich bei ihr über im Alltag erlittenes Unrecht beklagt hatte, war ihm mit süßlichem Gesichtsausdruck der Satz "Es gibt Schlimmeres" entgegnet worden. Nun gut, das Thema war erledigt. Es gab wirklich Schlimmeres.
Langsam wurde seine Lage unerträglich. Lorian konnte spüren, was in seinem Körper vor sich ging. Dieses unablässige Kribbeln und Kriechen wurde von lauten Schmatzgeräuschen untermalt. Es war mehr als lästig; machte ihn wahnsinnig. Wie, zur Hölle, waren diese Biester in sein Inneres gelangt? Mit hundertprozentiger Sicherheit über die Wunde, deren Ränder wie Feuer brannten. Er vermutete, dass die Beule an seinem Kopf, die er irrtümlich einer Kollision mit dem Hängeschrank zugeschrieben hatte, einen Parasiten auf dem Weg zum Gehirn beinhaltete. Erst wurde die Kommandozentrale seines Körpers erobert, dann der Rest. Inzwischen herrschte, speziell in seiner Leibesmitte akuter Platzmangel. Unter der gespannten, ausgehöhlten Bauchdecke wimmelte es von Fremdkörpern, die nach draußen drängten. Der ohnehin bereits gewaltige Druck gegen den Brustkorb nahm zu, das konnte er deutlich spüren. Atmen, schon seit Stunden eine einzige Qual, glich einem Kraftakt der Superlative. Noch bevor er auf Grund mangelnder Sauerstoffversorgung das Bewusstsein verlor, durfte er Zeuge einer Geburt werden. Seine Körpermitte wölbte sich wie ein aufgeblasener Ballon über dem sonst ausgemergelten Rest, zeigte einen feinen Riss, der schnell aufplatzte und entließ eine Flut von transparenten, schleimigen Wesen in die Freiheit.
Sie schwärmten in stiller Übereinkunft in Richtung Baggersee aus. Ganz in der Nähe des Ortes, an dem Lorian die Leiche Angelas zerstückelt und in Chemikalien aufgelöst hatte, trafen sie sich. Zur Eiablage.