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Gaffertainment
„Guten Abend, meine Damen und Herren, liebes Publikum zu Hause und hier im Saal."
Der Moderator hat sich redlich Mühe gegeben, so auszusehen, als hätte man ihn eben einem heißen Stelldichein in seiner Garderobe entrissen. Das Hemd hängt über die Hose, blonde Haare sind ekstatisch zerwühlt, das Grinsen gehört einem Honigkuchenpferd. Ein ausschweifendes, rotes Sofa harrt der illustren Schar der Gäste, während das Publikum brav das erwünschte Pensum des eben eingeübten spontan-frenetischen Jubels absolviert.
Zu Hause hat sich die Familie vor dem Fernseher versammelt. Beste Sendezeit. Ein Programm, das Jung und Alt anspricht. Mutter genehmigt sich ein Gläschen Eierlikör, um besser zu verdrängen, dass der Tisch vom Abendbrot noch nicht abgeräumt ist. Tochter Julia schlägt - freiwillig jeglicher fernmündlichen Kommunikation entsagend - in der Sofaecke die Fohlenbeine unter und umschlingt schutzsuchend eins der bestickten Zierkissen. Vater nimmt die Lesebrille vom Regal und legt sie zusammen mit einem schmalen Hefter auf dem Wohnzimmertisch bereit, dann schlüpft er aus den Pantoffeln und lässt sich vom elektrischen Fernsehsessel sanft in Schräglage bringen. Die Show kann beginnen.
„Wir begrüßen Sie herzlich aus der ausverkauften Auerbachhalle zur ultimativen Chartshow der bewegendsten Katastrophen des neuen Jahrtausends!"
Applaus brandet die Sitzreihen hinunter, flutet über die Kulissen hinweg und bricht sich an den übergroßen Leinwänden für die Einspieler und Computerpräsentationen. Der Moderator versucht seinem kosmetisch fixierten Lächeln einen anteilnehmenden Zug zu verleihen, während er die einführenden Worte über die Erdbeben, Flutkatastrophen, Hungersnöte, Terror und Seuchen gekonnt vom Prompter abliest. Er ruft den ersten Gast des Abends zu sich aufs Sofa. Ein ebenso mittelmäßig bekannt- wie begabter Popstar mit Häkelmützchen und braunen Kuschelaugen verursacht bei Julia eine plötzliche Hormonausschüttung, die mit einem deutlichen Pulsanstieg und heftigem Begehren einhergeht. Ohne hinzuschauen tasten ihre Finger ein „Isser nich süüüüß?" per SMS an Freundin Saskia während Mr. Häkelmütze erzählt, wie er durch die bewegenden Bilder des aktuellen Vulkanausbruchs in Ecuador inspiriert seinen neuesten Song an mehreren Stellen umgeschrieben hat. Dass drei Marketingstrategen der Plattenfirma mit diesem Schachzug sein endgültiges Verschwinden in die Versenkung in einen TopTen-Hit umgemünzt haben, verschweigt er galant.
Über die Einspieler der Plätze 20 bis 10 der gefühlsintensivsten Spots medienwirksam aufbereiteter Massenschicksale nimmt die Show und der Grad der Rührung ihren Lauf. Ein Querschnitt durch die deutsche Halbprominenz kommentiert die Bilder mit sentimentalen Einblicken in ihr Empfinden und Erleben zum jeweiligen Event. Das rote Sofa füllt sich nach und nach mit Menschen, die das Ihre dazu beigetragen haben, die Rolle der Medienwelt in Katastrophengebieten nachhaltig zu unterstützen. Ein Ortsvereins-Hilfsgruppenmitglied schildert anschaulich die ernährungstechnische Unterversorgung, die er bei seinem Einsatz am eigenen nach wie vor übergewichtigen Leib erfahren musste. Eine Mutter erzählt von der Kettenbrief-Kampagne im Internet, die dazu beigetragen hat, ihre Tochter wiederzufinden. Das Fehlen der Information, wie viele PC‘s hierbei mit Viren und Trojanern verseucht wurden, geht im allgemeinen Aufschluchzen unbemerkt unter. Ein Mitarbeiter des THW beschreibt uns seine Hoffnungen, bei Aufräumarbeiten letztendlich doch noch verschüttete Deutsche zu bergen und ein Hobby-Filmer nimmt einen Sonderpreis für seinen weltumspannend ausgestrahlten Spot mit der eigenen sterbenden Familie entgegen.
Einzelschicksale werden ausgebreitet, Tod, Zerstörung und Verderben in Grafiken veranschaulicht, Tränen fließen reichlich. Mutter greift zu Taschentuch und Likör. Bei den Bildern eines mageren, schmutzigen, tränenüberströmten Kindes schiebt sie ein vom Abendessen übriggebliebenes Käsebrötchen unauffällig zu ihrer kaum weniger schlanken Tochter hinüber. Die jedoch befindet sich längst außer Reichweite der Realität an der Stelle eines weichgespülten Tagtraums, wo Mr. Häkelmütze sie samtäugig aus irgendwelchen Trümmern befreit und auf seinen starken Armen in eine gemeinsame blitzlichtumwetterte Zukunft trägt.
Dann ist der Höhepunkt des Abends erreicht. Vater bewaffnet sich mit der Lesebrille, blättert hektisch in der Mappe mit den Spendenquittungen, vergleicht Zahlen und Daten. Doch der vom Busenwunder optisch ansprechend aus der Lostrommel gezogene Überweisungsbeleg ist der eines anderen hilfsbereiten Menschen und die kurze Hoffnung auf den Gewinn einer Weltreise mit Besichtigung aller Krisenschauplätze schwindet so schnell wie sie gekommen ist. Eine Weile räkelt man sich noch im wohligen Gefühl einer Spitzenposition im Ranking der geberfreudigen Länder. Ein kurzer Schub der Dankbarkeit macht sich breit für eine saubere Toilette, trockene Füße und ein scheinbar funktionierendes Abfallsystem. Mutter erscheint die wartende Arbeit in der Küche plötzlich leicht und unbedeutend. Julia drückt blind die Kurzwahl der Freundin, um die Gefühle der vergangenen Stunde nochmal ausgiebig mit der Freundin aufzukochen. Vater begibt sich ermüdet zu Bett.
„Gute Nacht, Schatz. Morgen wird sicher ein langer Tag. Ich hab schon mal ein Dutzend Policen blanko vorbereitet, um den Ansturm auch bewältigen zu können. Rechne zum Abendessen lieber nicht mit mir."