Gallardía
„Und auch wenn das bittre Urteil fällt
Und die Klinge saust hernieder
Kein Schrei ists, der von meinen Lippen gellt
Nur die Melodien meiner Lieder“
Durch die kalten Krallenhände der Gitterstäbe streute das Mondlicht seinen stillen Glanz auf die kleine, harte Pritsche. Er warf sich unruhig hin und her, nicht schlaflos, nicht träumend; in einem Zustand fiebrigen Irrsinns. Seine Lippen bebten und die Lider zuckten unentwegt, als ob die Bilder, die er sah, mit Gewalt an ihnen zerren würden, um sich den Weg aus dem Gefängnis seiner Gedanken zu bahnen.
Er wacht auf mit Geschmack von Blut auf den Lippen; es läuft aus einer Platzwunde am Kopf. Er kann sich vage an den Soldaten erinnern und an den herniedersausenden Gewehrkolben. Er fragt sich, wer verdammt noch mal ihn verraten hat. Er läuft die käfiggroße Zelle auf und nieder und brüllt vor Wut. Er verflucht die Bastarde, die ihn hierher gebracht haben, er schwört Rache. Was er erntet, ist das höhnische Gelächter der Wachen. Er rüttelt wie besessen an den Gitterstäben, die sich wie Zähne in einem bösartig grinsenden Maul vor ihm erheben. Der Gewehrkolben wird erneut durch die Tür gestoßen. Neues Blut tropft auf den Boden.
Ein Tritt in die Rippen holt ihn wieder in die Welt, wie eine perverse Geburt in ein Leben hinein, das er nie wollte. Die Brocken der Sprache sind ihm fremd, doch sie lassen keine Zweifel offen. Brutal wird er gepackt, nach oben gerissen und aus der Zelle gezerrt. Seine Gedanken kennen nur ein Ziel, Freiheit, doch fünf gegen einen sind zuviel. Dennoch…er versucht sich loszureißen, ein Arm entwindet sich dem klammerartigen Griff des Soldaten, er zuckt zu dem Messer in dessen Gürtel…wie Schraubstöcke packen Hände seinen Körper. Die kühle Spitze eines Bajonetts drückt gegen seine Halsschlagader. Keine Chance. Vor seinen Augen schwebt ein zahnloses Grinsen.
Er wird in einen hohen weißen Raum gestoßen, in dem eine Liege mit einer eigenartig aussehenden Apparatur steht. Er weiß genau, was das zu bedeuten hat. Auf kleinen Stühlen sitzen alte, schwarz gekleidete Männer mit Bärten, schon ergraut, doch nicht in Ehren, sondern durch das Leid, das sie brachten, denkt er sich. Der Raum ist so weiß. Einer der Männer zeigt mit einem langen, knochigen Finger auf ihn. Er spricht seine Sprache, wenn nicht akzentlos, so doch zumindest verständlich. Das Spiel sei aus, meint er sanft. Er wolle alles wissen, alles über die geheimen Pläne, alles über den Untergrund. Der weiße Raum blendet. Der Mann mit dem Bart wiederholt seine Worte in härterem Tonfall und deutet drohend auf die Liege.
Er schließt die Augen und denkt an die Wiese daheim, denkt an sie, wie sie auf der Wiese tanzt und denkt an die Sonne, die Wolken, den Schnee daheim, der fast so blendet wie der Raum.
Er wird auf die Bank geschleudert und festgebunden. Ein Soldat betätigt mehrere Knöpfe und Hebel. Der Schmerz in seiner Brust explodiert so plötzlich, dass ihm die Luft zum Schreien wegbleibt. Einer der bärtigen Männer lächelt milde und winkt ab. Er beugt sich zu ihm, sein Gesicht ist so nahe, dass die Barthaare seinen Hals kitzeln. Die Pläne, der Untergrund. Er spuckt dem Mann voller Verachtung ins Gesicht. Auf die neue Schmerzwoge ist er vorbereitet, nicht aber auf ihre Intensität. Diesmal schreit er, so laut, dass der Soldat ihm ins Gesicht schlägt, um ihn zum Verstummen zu bringen. Die bärtigen Männer verlassen den Raum. Die Wiese. Die Wolken. Sie. Und wieder der Schmerz.
Er schreckte von der Holzpritsche hoch, mit weit aufgerissenen, fiebrigen Augen. Sie. Sie! Sein Blick sträubte sich davor, durch die Zelle zu wandern, in den Winkel, in den er schon so oft gestarrt hatte, stundenlang. Der Mond tauchte die Zelle gnadenlos in sein Licht und dort, in der gegenüberliegenden Ecke, lag sie. Nackt, in einer bizarren Stellung, als ob die Hälfte ihrer Knochen gebrochen wäre. Das getrocknete Blut verbreitete einen fauligen, süßen Geruch, der sich wie ein Schleier über den kleinen Raum legte.
Seine Tränen waren längst versiegt. Er war sich sicher, nie wieder weinen zu können nach den letzten Wochen. Oder waren es Monate gewesen? Jahre? Er wusste es nicht. Er wünschte sich nur, es würde bald zu Ende gehen. Obwohl seine Lippen nie ein Gebet geformt hatten, sank er auf die Knie und rief Gott an, er flehte ihn an, der Morgen möge endlich heranbrechen.
Die blutigen Striemen auf dem Rücken und auf der Brust verheilen nicht. Sie haben sich entzündet und eitern. Die Kleidung ist zerrissen und schmutzig, knochig ragen die Rippen darunter hervor. Zu Essen gibt es eine Mischung aus Brei und Abfällen. Das Wasser überträgt seine Krankheiten schnell.
Wieder der hohe weiße Raum. So muss es in der Hölle aussehen. Einen Himmel kann es sowieso nicht geben.
Die bärtigen Männer sind geduldig. Er wird an einen Stuhl gebunden. Die Tür gegenüber öffnet sich. Ein Blitzschlag durchfährt seine ausgemergelten Glieder. Sie wird hereingestoßen. Wie kann das sein? Woher wussten sie? Einer der bärtigen Männer erklärt ihm lächelnd, was mit ihr passieren wird, wenn er schweigt. Wenn er redet, rettet er ihr das Leben. Er kann ihr tränenüberschwemmtes Gesicht nicht anschauen, es ist aufgequollen, so hässlich, so abstoßend für ihn. Er wendet seinen Blick ab. Als sie auf die Liege gebunden wird, bricht er zusammen. Er bittet die bärtigen Männer um Gnade, umarmt ihre Beine. Er erzählt alles. In seiner Zelle erbricht er sich aus Ekel über sich selbst.
Die Zellentür öffnet sich. Ihr nackter Körper wird achtlos in die Ecke geworfen. Sie haben ihn betrogen. Rasend schlägt er seinen Kopf gegen die Wand, immer und immer wieder. Der Tod erlöst ihn nicht.
Während die Sonnenstrahlen durch das Fenster tanzten und die Vögel ihr Lied anstimmten, betraten die Soldaten die Zelle. Sie mussten ihn tragen, denn er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Er hatte mit einem Lächeln auf den Lippen sterben wollen, erhobenen Kopfes auf den Platz schreitend. Er hatte ihnen in die Augen sehen und sie und ihre Gewehre verlachen wollen, diese Tiere in menschlichen Körpern. Er hatte der Sieger sein wollen.
Doch als er an die Mauer gelehnt wurde und die Gewehrläufe sah, lief eine Träne über seine Wange. Als ihm die Augenbinde gereicht wurde, nahm er sie zitternd an. Und als er mit dem Gesicht in den Staub fiel, an diesem sonnigen Sommermorgen, da wusste er, dass alles umsonst gewesen war.