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Geburt eines Mörders
Als er die Stufen zum Bahnsteig emporging, fielen ihm all die Menschen auf, die gespannt auf ihre Züge warteten. Zum ersten Mal nahm er sie bewusst wahr. Sein Blick verweilte bei einer älteren Frau, die gerade in einen der Züge einstieg. Sie bewegte sich schnell, als sei sie erleichtert, diese einengende Stadt endlich verlassen zu können. Seine Augen wanderten weiter und richteten sich in die Ferne. Er blinzelte, als er in das gleißende Licht der aufgehenden Sonne blickte. Wenn ein Zug den Bahnhof verließ, fuhr er direkt in die endlose Weite des warmen Lichtes, bis seine Umrisse kleiner wurden und schließlich in der Helligkeit verschwammen.
Er sah hinab auf seine Hände. Die Handschellen um die Gelenke scheuerten unangenehm auf der Haut. Seufzend blickte er über seine Schulter. Direkt hinter ihm befanden sich zwei Polizisten, die ihn keine Sekunde aus den Augen ließen. Einer der beiden packte ihn am Arm und zwang ihn, sich von der verheißungsvollen Ferne abzuwenden. Er führte ihn den Bahnsteig in die andere Richtung entlang, bis die kleine Prozession die dunkle Bahnhofshalle erreichte. Der junge Mann drehte sich immer wieder nach dem Licht um, das kleiner wurde, bis es schließlich aus seinem Blickfeld verschwand. Ihm war, als stelle es sein bisheriges Leben dar und die Art, wie er es geführt hatte. Dagegen führte ihm die dunkle, triste Bahnhofshalle allzu deutlich vor Augen, wie sein Leben von nun an aussehen würde. Sein Gesicht wurde starr.
Reue empfand er keine. Sie war ihm fremd, so wie ein Kind keinen Argwohn kennt. Er lächelte unwillkürlich bei diesem Vergleich. Er hatte etwas ausprobieren wollen, ein Experiment, wie er es bei sich nannte. Lag es nicht in der Natur des Menschen, Erfahrungen mit dem Unbekannten machen zu wollen? Wer konnte ihn schon seiner Neugier wegen schuldig sprechen? Das Gesetz, ja... das sagte etwas anderes. Er schüttelte den Kopf. Die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze von Recht und Moral, wie sie es nannten, hatte er noch nie verstehen können. Und weshalb sollte er sich nach etwas richten, das er nicht verstand? Dass er intelligent war, hochintelligent, wusste er. Er war nicht das Problem. Nein, die Menschen waren es.
Ein Stoß in den Rücken riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. Er tauchte aus ihnen auf wie aus einem stillen See und erkannte, dass sie sich bereits am Ende der langen Bahnhofshalle befanden. Die Stelle am Rücken, wo ihn der Knüppel des Polizisten getroffen hatte, schmerzte unangenehm. Düsternis schien sich an die Straßen, die Häuserschluchten und vereinzelten Straßenlaternen zu klammern, als weigere sich die Nacht, vom heraufziehenden Morgengrauen vertrieben zu werden. Die Gruppe bewegte sich auf einen Sicherheitswagen zu, der wartend an der Straße stand. Auf eine merkwürdige Art belustigt, ließ der junge Mann es ohne Gegenwehr zu, dass die Polizisten ihn in den hinteren Teil des Wagens bugsierten. Ein Sicherheitswagen, dachte er. Im weiteren Sinne, um die Welt vor mir zu beschützen. Die Panzertür wurde verriegelt, und er spürte das Rucken das Autos, als es schließlich losfuhr.
Er lehnte sich zurück und dachte an das Kind. Es war ein hübsches Kind gewesen, soweit er es beurteilen konnte. Aber das war nicht wichtig gewesen. Er überlegte, warum er sich gerade dieses Kind ausgesucht hatte und kam zu dem Schluss, dass es wohl besonders einfach gewesen war, sich das Vertrauen eines Kindes zu erschleichen. Aber im Grunde hätte es auch jeder andere Mensch sein können. Es hatte einfach das Pech gehabt, ihm begegnet zu sein. Seine Gedanken wanderten zu der Mutter des Kindes und zu dem, was sie wohl empfinden mochte, wenn man ihr mitteilte, was geschehen war. Er fand es beinahe schade, dass er nicht dabei sein konnte. Seine Faszination hatte schon immer den emotionalen Reaktionen anderer Menschen gegolten.
Vor dem winzigen Fenster in seinem metallenen Käfig zogen die Ausläufer des Moores vorüber, über dem wie immer ein dichter Schleier aus Nebel hing. Abwesend starrte er auf die trostlose, schlickgrüne Öde, aus der hier und da verkrüppelte Bäume ragten, die sich an den Himmel klammerten, als hinge ihr Leben davon ab. Sein eigenes Leben würde er ab jetzt hinter Mauern verbringen. Eine Abwechslung vom trüben Einerlei meines Alltags, dachte er, endlich. Er wusste, dass er ihrer bald schon überdrüssig werden würde, aber er hatte ohnehin nicht vor, allzu lange zu bleiben. Man würde ihn wegen guter Führung frühzeitig entlassen; seiner Schauspielkunst und ein paar wohlgesetzten Lügen während der Gerichtsverhandlung konnte er ebenfalls vertrauen. Er musste nur beteuern, wie sehr er alles bereute, wie falsch sein Handeln gewesen war. Man würde ihm schließlich glauben und ihn gehen lassen. Er wusste, wie überzeugend er auf andere wirken konnte. Gelangweilt klopfte er mit den Knöcheln seiner linken Hand an die Wand des Wagens. Nach seiner Entlassung würde er vorsichtiger sein.
Die Mutter des Kindes, überlegte er, würde vermutlich Trauer empfinden, und wahrscheinlich auch Wut. Gerade die Bindung zwischen Mutter und Kind soll ja sehr stark sein. Er runzelte leicht die Stirn und versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, jemanden zu lieben. Dass es ihm nicht gelang, verwunderte ihn nicht. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals in seinem Leben irgendjemanden wirklich gemocht hatte. Kurz fragte er sich, ob es das war, was ihm fehlte, aber dann verwarf er den Gedanken mit einem Schulterzucken. Er konnte es nicht wissen, und es interessierte ihn nicht wirklich. Menschen konnte man benutzen, das war es, was zählte. Und wenn man es recht bedachte, war es auch das Einzige, wozu sie taugten.
Er klopfte an das Gitter, das ihn von den Polizisten im vorderen Teil des Wagens trennte. Als sie ihn nicht beachteten, pochte er stärker, doch ohne Ungeduld. Er hatte Zeit. Schließlich hielten sie am Straßenrand an, und er hörte das Klicken eines Schlüssels in der Panzertür. Mit einem einstudierten Lächeln, das die Polizisten zu verwirren schien, bat er um etwas zu trinken. Eigentlich hatte er nicht wirklich Durst, er wollte nur testen, wie weit er gehen konnte. Misstrauisch starrten die Polizisten ihn an. Doch als sie zu dem vernünftigen Schluss gelangt waren, dass seine Bitte keine List darstellte zu entkommen, verschwand einer der beiden und kam bald mit einer Flasche Wasser wieder. Der junge Mann nahm sie entgegen und starrte wieder aus dem Fenster, während sich der Wagen erneut in Bewegung setzte.
Die Hand am Kinn, betrachtete er die Flüssigkeit, die in ihrem Gefäß sanft hin- und herschwankte. Er stellte sich vor, sie sei rot, dunkelrot wie das Blut des Kindes. Beinahe konnte er es noch an seinen Händen sehen. Wie viel Zeit konnte vergehen, bis ein Mensch starb? Wie viele Qualen konnte er aushalten, bis sein Lebensgeist schließlich erlosch? Diese Frage hatte ihn lange beschäftigt. Er erinnerte sich daran, wie er dem Kind mit einem scharfen Rasiermesser langsam die Haut von den Knochen geschält hatte, wie er sein Sterben beobachtet hatte. Die markerschütternden Schreie des Kindes waren die Musik gewesen, die sein Experiment untermalt hatte. Ein leichtes Kribbeln war durch seinen Geist gefahren, als er Millimeter um Millimeter die Gliedmaßen des Kindes abgetrennt hatte, ein Kribbeln, das leider nur zu schnell vergangen war. Schon jetzt verschwand es aus seiner Erinnerung, so flüchtig war es gewesen. Aber er hatte etwas empfunden, hatte etwas gefühlt. Noch konnte er nicht sagen, was es bedeutete. Aber diese wenigen Momente, in denen die allgegenwärtige Leere in seinem Innern verschwunden war, waren kostbar gewesen wie Wasser in der Wüste.
Ein Mörder, dachte er. So wird man mich ab jetzt nennen. Mörder. Er ließ das Wort durch seinen Geist hallen, doch es fand in ihm keinen Widerhall. Er hatte immer gedacht, nach einem Mord würde man ein anderer Mensch sein, doch für ihn war es nicht anders als zuvor. Der Polizeiwagen rumpelte über Kies, bis er knirschend stehen blieb. Ein weiteres Mal wurde die hintere Tür des Wagens geöffnet, und man zerrte ihn auf eine steinige Auffahrt. Vor ihm ragte ein düsteres Gemäuer auf, das etwas wie Kälte auszuatmen schien und so abweisend wirkte, dass es die Polizisten nervös machte. Fahrig bedeutete ihm einer von ihnen, sie zu begleiten. Während er auf das Gefängnis zuging, stahl sich ein freudloses Lächeln auf sein Gesicht. Endlich hatte er etwas gefunden, womit er die Leere in seiner Seele zu füllen vermochte. Endlich.