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Geburtstagsrosen
Geburtstagsrosen
Seit sie denken konnte, hatte der Vater ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine Rose geschenkt. Hellrosa mit dunkelgrünen Blättern, langem angeschnittenen Stiel und natürlich mit Dornen. Von Neuzüchtungen ohne Dornen hatte er nichts gehalten. „Wir alle haben unsere Dornen!“, pflegte er zu sagen und lachte sein Vater-Lachen, dieses Lachen, das sie als kleines Mädchen von seinem Bauch hochwarf. Sie liebte dieses Lachen ebenso wie die zarten Blütenblätter der Geburtstagsrosen. Immer wieder strich sie mit dem Finger darüber, Labyrinthe im Inneren.
Jedes Jahr war es so gewesen; ihr Vater, der an diesem besonderen Tag als Erster ihr Zimmer betrat, eine Kerze in der Hand und die schmale Glasvase mit einer neuen, blassrosa Rose in der anderen.
Später, als sie nicht mehr zu Hause bei ihren Eltern wohnte, brachte er die Rose zum Geburtstagskaffee mit. Tagelang stand sie auf ihrem Schreibtisch in der Studentenbude, dann in der schicken Altbauwohnung, die sie mit ihrem Freund gemietet hatte, die feinen Blütenblätter durchschienen vom Licht der Lampe. Immer wieder entdeckte sie eine letzte Knospe, die ihr Grund gab, die Blume einen weiteren Tag stehen zu lassen.
Heute hatte sie keine Rose bekommen, keine zartrosa Kostbarkeit. Ihr Freund hatte sie mit einem Frühstück im Bett überrascht, Geburtstagstorte inklusive. Und als mittags die Mutter zum Kaffee kam, wunderte sie sich über den grauen Glanz ihrer Haare.
Fast hatte sie erwartet, der Vater müsse nur einen Parkplatz suchen und käme nach, die hellrosa Rose von Renates Blumenlädchen wie immer in gelbes Pergamentpapier gewickelt. Sie konnte den Rosenduft in ihrer Nase spüren, die Stimme des Vaters hören, der wie immer Anekdoten erzählte. Stattdessen sprach ihr Freund, Witze mit lauter Stimme, die Mutter lachte leise und höflich. Der Blaubeerkuchen, den sie sonst so liebte und den die Mutter extra für die Geburtstagsfeier gebacken hatte, fühlte sich trocken an im Mund und sie überlegte kurz, ob sie die blaue Zunge rausstrecken sollte, wie früher. Der Vater hatte darüber gelacht.
Die Mutter blieb nicht lange, ihr ginge es nicht gut, sagte sie. Ihre Augen sprachen eine andere Sprache. Sie sprachen von der Kühle der Altbauwohnung, spärlich eingerichtet nur in blau und mit viel Metall weil das jetzt modern war. Plötzlich sehnte auch sie sich zurück in das Haus der Eltern, Geborgenheit der Antikmöbel, die sie als Kind bedrohlich, bedrückend, erdrückend empfunden hatte.
Der Vater kam nicht. Er würde nie mehr kommen. Nie wieder würde sie eine Geburtstagsrose bekommen, hellrosa und in gelbes Pergament eingewickelt.
Sie öffnete die Wohnungstür, versuchte, dem Schauer zu entkommen, der sie überlief. „Wo gehst du hin, Schatz?“, tönte die Stimme ihres Freundes aus dem Wohnzimmer. Sie konnte den Reporter im Fernseher hören wie er über das Tor jubelte, das Borussia Dortmund oder sonst ein Verein geschossen hatte. „Nur spazieren“, rief sie zurück und stürmte die Treppen hinunter bevor er antworten konnte.
Auf der Straße atmete sie auf, atmete durch. Den Weg zu Renates Blumenlädchen fanden ihre Füße von allein. Sie stieß die goldeingefasste Glastür auf und das Glöckchen bimmelte. „Eine Rose bitte“, sagte sie und zeigte auf die Blume. Hellrosa.