Gedanken zur Zeit
Laser streifen Manuels Augen. Erschrocken kneift er die Lider fest zusammen und senkt den Kopf. Sebastian grinst und tanzt weiter im Rhythmus laut hämmernder Techno- Musik.
Jennifer läuft vorbei und steigt in seine Hüftschwünge ein. Sie schwitzt, ihr kurzes Oberteil ist durchnässt. Sebastian schließt die Augen, lächelt, tanzt, kommt kaum mit dem Luftholen nach, aber der Beat scheint seinen Körper zu beherrschen, ihn einfach mitzureißen. Nichts zählt mehr, außer diesem Abend, wieder eine dieser „Nacht der Nächte“. Was gestern war und morgen ist scheint neben dieser Nacht in grauer Unwichtigkeit zu verschwinden. Was zählt ist der Kick des Moments.
Sebastian „organisiert“ ein paar „Wodka-Red-Bull“ und verteilt sie großzügig an die kleine Menschenschar, die sich um ihn und Jennifer gebildet hat. Euphorisch springt er auf die Bühne, sein Getränk ergießt sich auf die Hose, sie kommt auch, beide tanzen. Als ob es kein Morgen gäbe. Das weiße Nichts über dem Rumpf des Mädchens ist inzwischen grau vom Schweiß, das Herz schlägt lauter als die Boxen, ihre Brüste folgen zuckenden Bewegungen.
„Geil, die Stimmung könnte besser nicht sein!“ Sebastians Blicke wandern durch den Club, alle tanzen vergnügt und er ist der Star, wie so oft. Sofort versucht er noch kompliziertere Drehungen und Schritte, um seinem Ruhm gerecht zu werden.
Schweiß läuft in ganzen Bächen über sein kantiges Gesicht, die kurzen Stoppelhaare können die Sintflut nicht lange aufhalten. „Aber das ist egal, Hauptsache ich hab’ meinen Fun!“
Manuel sitzt auf der Couch in der „Chill-Out-Ecke“, lehnt sich zurück, schließt die Augen. Die Polster vibrieren zur Musik, sein Magen ist verkrampft, die langen schwarzen Haare fallen ihm strähnig ins Gesicht. Stundenlange Bemühungen diese zu bändigen sind dahin. Als ein Mädchen sich neben ihn setzt kehrt er wiederwillig aus seinem Traum zurück. „Die sieht gut aus, aber ich habe keinen Bock auf so ’n hohles Anbagger-Geseier. Ich will chillen!“ Ziemlich schnell und unmissverständlich lässt er sie abblitzen, in Richtung Tanzfläche zieht die Verschmähte weiter.
Manuel ist hübsch, sehr hübsch sogar. So eine Model-Schönheit: Pechschwarze Haare, mittellang, athletischer, mäßig muskulöser Körper, dunkelblaue Augen. Dazu kommt ein unschuldiges Engelsgesicht, dem kein Mädchen auch nur einen Wunsch abschlagen würde.
Sebastian drängelt sich zur Theke durch und wedelt vor dem Gesicht der Bedienung mit einem Fünfzig-Euro-Schein herum. Sein Herz rast. Die nächste Runde „Wodka-Red-Bull“ wird verteilt, während er weiter zum Rhythmus der Musik die gertenschlanke Hüfte bewegt. Ein Mädchen mit hellgrünen Augen kommt und presst ihre Lippen auf die seinen, während sie sein Glas ergreift. Sebastian spürt ihre nasse Zunge und eine bittere Tablette in seinem Mund. Er hat das Mädchen noch nie gesehen.
Jennifer blickt tanzend in die Menge, kann aber Manuel nicht entdecken. Ein Mann neben ihr, verdächtig nah, versucht mit seinem korpulenten Körper Jennifers Bewegungen zu folgen. Sieht ziemlich komisch aus.
„Hoffentlich tanzt er nicht mit einem anderen Mädchen!“ Das matte Gehirn versucht zu arbeiten. Allein der Gedanke jagt ihr eine weitere Schweißattacke über den heißen Körper und lässt sie dann vor Kälte zittern. „Ich muss ihn suchen!“ Gerade heute, als sie endlich einmal ernsthaft mit Manuel reden will, von wegen ihm und ihr und so. Heute will sie all ihren Mut zusammennehmen. „Jetzt wäre genau der richtige Moment!“
Knapp ein Jahr ist sie nun schon heimlich in ihn verliebt. Nur Sebastian weiß Bescheid, ihm kann sie sich anvertrauen. Dass sie im Zuge ihres grenzenlosen Vertrauens demselben das Herz gebrochen hat, ist ihr bis heute nicht bewusst und Basti ist nicht der Typ, der so etwas an die große Glocke hängt. „Manu ist halt Manu. Schwarze Haare, blaue Augen und dieses schleimige Grinsen, da kann ich halt nicht mithalten.“ Sebastian hat aufgehört, über Gründe nachzudenken. „Manuel ist mein bester Freund und Jenny steht halt auf ihn. Was soll’s?“
Jennifer streift durch die Diskothek, hält Ausschau. „Was kann schon groß passieren? Nein sagen kann er, OK, aber das ist auch schon alles.“ Sie macht sich an einen Typen an der Bar heran, bis er ihr ein Bier ausgibt und zieht schnell weiter. Ihre Gedanken drehen sich um das hübsche Objekt ihrer Begierde, um den Moment, als sie ihn das erste Mal in der Klasse gesehen hat. Eigentlich hatte sie schon da gewusst, dass sie ihn will. „Alle Mädchen wollen ihn, zumindest in der Schule, aber das sind ja auch alles Schlampen.“ Wenn auch eine große Konkurrenz. Sie hat sich mit Manuels bestem Kumpel angefreundet und bald gingen sie zu dritt auf Partys. Inzwischen sehen sie sich jedes Wochenende und jede Woche kommt Jennifer so ihrem großen Ziel ein bisschen näher. In der letzten Zeit hat sie sogar ernsthaft das Gefühl, dass er ihre Liebe erwidert. Ziemlich sicher sogar. „Warum auch nicht? So schlecht sehe ich schließlich auch nicht aus!“
Manuel zuckt innerlich zusammen, als er aus der stickigen Disko tritt. Draußen schwebt dichter Nebel über Asphalt, der Türsteher hilft ihm in den Mantel. Das ist der „spezielle Service“, nur für Stammgäste natürlich. „Sie besorgen dir Spaßmacher wenig über Einkaufspreis und bewahren dich vor dem Kältetod. Wenn du nicht mehr alleine nach Hause findest, fahren sie dich auch heim.“
Manuels Schritte sind laut und regelmäßig, wie die eines Generals, der seine Truppen inspiziert. Er streicht mit der Hand die Haare aus dem Gesicht und verlässt das Gelände. In gefrorenen Pfützen spiegelt sich matt der Mond.
Langsam geht er dahin, während sein Herz als Kontrast-programm immer noch versucht davonzurasen. Wie die Musik, die selbst hier noch gut zu hören ist. Er schwitzt auch draußen. Klare Gedanken kehren in seinen Kopf zurück, eigentlich hat er schon lange keine Lust mehr auf diese Nächte. Das Zifferblatt zeigt halb fünf. Aber was soll er machen? Alle, die er mag, mögen solche Nächte. Klar, könnte er zu Hause bleiben, „aber das ist doch auch scheiße! Nur Streber hocken daheim, die kennen ja auch niemanden. Die lernen ja die ganze Zeit, um ihr Intelligenz-Defizit auszugleichen. Arme Kreaturen! Basti ist heute total gut drauf...“
Eigentlich wollte er ihn fragen, ob sie heute nicht etwas früher gehen könnten, aber er wollte ihm die Stimmung nicht verderben und als „Weichei“ dastehen.
„Irgendwie verlieren wir langsam den Bezug zueinander. Am Anfang fand ich es auch ganz geil, nächtelang in der Gegend rumzufallen, mit dicken Rändern in der scheiß Schule zu sitzen und dann um eins wieder das erste Bier aufzumachen. Aber auf Dauer ist das ganz schön hart. Irgendwie bewahrt einen das auch nicht vorm Durchdrehen. Entweder ist man total verplant in einer anderen Welt oder zu müde, um über die scheiß Realität nachzudenken. Schöner ist es auch nicht. Manchmal ganz im Gegenteil – leider!
Vielleicht sollte ich mal weggehen. Aber ich weiß nicht, wohin. Außer Sebastian kenne ich ja niemanden. Aber das hier ist der Tod, zumindest ein bisschen. Du bist mit total vielen coolen Leuten da drinnen am Feiern und trotzdem mutterseelenallein.“
Ein Krankenwagen mit Martinshorn und Blaulicht an fährt vorbei. Manuel weiß nicht, dass Sebastian vor zehn Minuten zusammengebrochen ist.