Was ist neu

Gedankenfolter

Mitglied
Beitritt
01.02.2007
Beiträge
2

Gedankenfolter

Die billige, sich über die Jahre gelblich verfärbte Plastikuhr über der Türe tickt leise. Tick, tack, tick, tack, tick... zu jeder Sekunde pünktlich, unermüdlich, immerfort. Im spärlich eingerichteten Zimmer, wo absolute Totenstille herrscht, erscheint schon dieses leise Ticken laut. Es ist jetzt genau drei Uhr nachts. Sie kann wieder einmal nicht einschlafen, darf es nicht. Mit weit geöffneten Augen, die förmlich zu schreien scheinen, liegt sie regungslos, die dunkle Zimmerdecke anstarrend, da.
Die gleiche Pose wie vor knapp zwei Stunden. Wenn ihre langen, dunkelbraunen, leicht gelockten Haare über das Kissen fallen, hat dieser Anblick etwas Heiliges an sich.
Sie sieht dann nicht etwa wie eine Göttin aus. Eher wie ein schöner Engel... Dieser Engel hat früher viel gelacht. Heute scheint er es verlernt zu haben. Aber hier interessiert sich auch niemand dafür.
An diesem Ort gibt es keinen Platz für Freude oder Ähnliches. Ihre Arme hält sie steif über die schwarz bezogene Bettdecke gelegt, die Finger leicht gespreizt. Es scheint fast so, als scheue sie sich davor, sich selbst zu berühren. Würde sie die Handflächen umdrehen, würden lauter markante Narben an ihren Unterarmen zum Vorschein kommen. Jede einzelne steht für ein bestimmtes Ereignis. Es sind gewiss keine schönen Erinnerungen. Haushohe Wellen von Gedanken, die ihren Kopf überschwemmen sind es, die ihr keine Ruhe lassen. Niemals. Sie fürchtet, das zerstörerische Gedankenchaos könnte eines Tages Übermacht an ihrem Körper gewinnen. Deshalb muss vorsichtig sein. Immer.
Die kahlen Wände des Zimmers sind mit grausamen Kreaturen, unzähligen Parolen und teils auch mit ganzen Geschichten beschmiert. Unter ihrem Bett lauern faustgroße kakerlaken, die jeden schönen Gedanken in diesem Raum genüsslich und mit bösartiger Genugtuung verschlingen.
Jedes Mal, wenn die Müdigkeit zu groß geworden ist und sie einnickt, kommt das Monster, welches in ihrem Schrank lauert, an ihr Bett gekrochen und streicht mit seinen langen, dünnen Fingern über ihr Gesicht, Spuren von Asche und Tod hinterlassend.
In der einen Ecke des Zimmers sitzt ein kleines Mädchen, nicht älter als sieben Jahre. Die Knie an den Brustkorb gezogen, wippt sie vor und zurück. Immer vor und zurück, ohne je einen Laut von sich zu geben. Den Kopf leicht gesenkt, verdecken die kindlichen Stirnfransen ihr Gesicht. Sie würde das Mädchen gerne in die Arme schließen, im sanft über den Kopf streichen.
So wie es ihre eigene Mutter zu tun gepflegt hat. Aber sie kann es nicht. Die blutrünstigen Kreaturen lassen es nicht zu. Zähnefletschend drohen sie, sie qualvoll zu ermorden, sollte sie es auch nur wagen... Also wippt das Mädchen weiter. Vor und zurück, vor und zurück... Es macht sie wahnsinnig.
All das können die Leute hinter den ständig beobachtenden Kameras nicht sehen. Sie sind umgeben von einer derartig realistischen Aura, die sie nicht einmal an Gott glauben lässt. Sie spürt es immer ganz deutlich, jeden Morgen, wenn sie ihr Zimmer betreten, um ihr die täglichen Drogen zu verabreichen.
Ihre ganze, düstere Welt wird dann mit einem Mal weggewischt und alles ist wieder strahlend weiß. Die Bettdecke, die Wände, die Zimmerdecke, die Uhr. Dann kann sie sich dem Rausch des Giftes hingeben und das Chaos in ihrem Kopf beruhigt sich allmählich.
Für sie sind die unechten Gefühle immer noch besser als die Folter ihrer eigenen Gedanken...

 

Hallo Ro...

und herzlich Willkommen auf kurzgeschichten.de.

Die Geschichte kenne ich, Antti1 hat sie vor ein paar Tagen gepostet und - so vermute ich zumindest - Dir empfohlen, Dich selber anzumelden, schliesslich sind inhaltliche Kommentare besser direkt an die Autorin zu bringen als über Dritte.

Fehler sind noch die selben drin wie vor ein paar Tagen :susp: , die Story liest sich in ihrer dichten Düsterkeit immer noch/wieder gut, die Bilder sind dunkel und wirken wie ein Alptraum oder ein Besuch auf der dunklen Seite der Seele, für einen Erstling vom Thema her nicht das frischeste (doch wenigstens kein Suizid) doch gut aufbereitet und wuchtig in der Präsentation.

Ist Dein Nick wirklich so beabsichtigt ?

Grüße,
C. Seltsem

Und ewig grüßt das Murmeltier :

wo absolute Totenstille herrscht, erscheint schon dieses leise Ticken laut.
_ist_ das Paradoxum nun gewollt oder Flüchtigkeit ? Entweder ist es halt Still oder es tickt, oder es ist ein beabsichtigtes Paradoxum.
Die kahlen Wände des Zimmers sind mit grausamen Kreaturen, unzähligen Parolen und teils auch mit ganzen Geschichten beschmiert.
Paradoxum #2, wieder bin ich nicht sicher, ob es beabsichtig ist. Ist es ? Beide Paradoxi (Paradoxen ?) lesen sich für mich wie Fremdkörper, denn auch wenn der Rest der Geschichte mit dem Surrealen flirtet, ist sie doch - für mich - eine eher reale Wortsammlung, dichter an dem Inhalt denn dem Bild der Sprache. Und darum auch hier: eine Wand ist entweder kahl, blank, oder sie ist beschmiert, mit Worten, Bildern gefüllt.
Deshalb muss vorsichtig sein.
entweder muss SIE vorsichtig sein oder muss VORSICHT sein, so ist der Satz einfach falsch
Unter ihrem Bett lauern faustgroße kakerlaken,
Kakerlaken
im sanft über den Kopf streichen.
ihm oder ihr sanft über den Kopf streichen

 

Hallo, Rovzenstrauhß!

Wundervoll düsteres Bild, das du da zeichnest. Gefällt mir wirklich sehr, wie dudie Szenerie beschreibst, die Visionen, die auftauchen, wie auf einer Leinwand.
Wie C. es schreibt: "ein Besuch auf der dunklen Seite der Seele". So jedenfalls habe ich es gelesen bis zum letzten Abschnitt, in dem du die Geschichte in ein Versuchslabor o.ä. legst und alles plötzlich wieder ziemlich pragmatisch wird: Alles ist mehr oder weniger ein Produkt des Drogenrausches (und erwächst damit nicht allein den "gefolterten Gedanken" im Titel). Ein etwas offenerer Ausgang wäre mir lieber gewesen.

C.s Mängel halte ich nicht für solche: Was ist da paradox, wenn in der Totenstille halt nur eine Uhr tickt, und die deshalb einfach laut? Ebenso kann man nur an kahle Wände (sprich ohne Bilder, Tapeten etc.) wirklich malen und schreiben.

In diesem Sinne:
Gruß,
Nyarendil

Auch bei mir grüßen mal wieder die Murmelviecher:

Sie sind umgeben von einer derartig realistischen Aura, die sie nicht einmal an Gott glauben lässt.
"derartig" impliziert, dass die Aura der Grund für den mangelnden Glauben ist, daher wirkt der Relativsatz hier etwas deplaciert. Besser wäre z.B. ein dass-Satz (also etwa: ...dass sie nicht einmal an Gott glauben können).

@C.Seltsem:

"ParadoxON" ist ein griechisches Wort, daher nicht auf (lat.) -um endend, sondern eben -on (die latinisierte Form gibt es nicht). Der Plural lautet aber in beiden Sprachen auf -a, also: Paradoxa.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom