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Gedankenfolter
Die billige, sich über die Jahre gelblich verfärbte Plastikuhr über der Türe tickt leise. Tick, tack, tick, tack, tick... zu jeder Sekunde pünktlich, unermüdlich, immerfort. Im spärlich eingerichteten Zimmer, wo absolute Totenstille herrscht, erscheint schon dieses leise Ticken laut. Es ist jetzt genau drei Uhr nachts. Sie kann wieder einmal nicht einschlafen, darf es nicht. Mit weit geöffneten Augen, die förmlich zu schreien scheinen, liegt sie regungslos, die dunkle Zimmerdecke anstarrend, da.
Die gleiche Pose wie vor knapp zwei Stunden. Wenn ihre langen, dunkelbraunen, leicht gelockten Haare über das Kissen fallen, hat dieser Anblick etwas Heiliges an sich.
Sie sieht dann nicht etwa wie eine Göttin aus. Eher wie ein schöner Engel... Dieser Engel hat früher viel gelacht. Heute scheint er es verlernt zu haben. Aber hier interessiert sich auch niemand dafür.
An diesem Ort gibt es keinen Platz für Freude oder Ähnliches. Ihre Arme hält sie steif über die schwarz bezogene Bettdecke gelegt, die Finger leicht gespreizt. Es scheint fast so, als scheue sie sich davor, sich selbst zu berühren. Würde sie die Handflächen umdrehen, würden lauter markante Narben an ihren Unterarmen zum Vorschein kommen. Jede einzelne steht für ein bestimmtes Ereignis. Es sind gewiss keine schönen Erinnerungen. Haushohe Wellen von Gedanken, die ihren Kopf überschwemmen sind es, die ihr keine Ruhe lassen. Niemals. Sie fürchtet, das zerstörerische Gedankenchaos könnte eines Tages Übermacht an ihrem Körper gewinnen. Deshalb muss vorsichtig sein. Immer.
Die kahlen Wände des Zimmers sind mit grausamen Kreaturen, unzähligen Parolen und teils auch mit ganzen Geschichten beschmiert. Unter ihrem Bett lauern faustgroße kakerlaken, die jeden schönen Gedanken in diesem Raum genüsslich und mit bösartiger Genugtuung verschlingen.
Jedes Mal, wenn die Müdigkeit zu groß geworden ist und sie einnickt, kommt das Monster, welches in ihrem Schrank lauert, an ihr Bett gekrochen und streicht mit seinen langen, dünnen Fingern über ihr Gesicht, Spuren von Asche und Tod hinterlassend.
In der einen Ecke des Zimmers sitzt ein kleines Mädchen, nicht älter als sieben Jahre. Die Knie an den Brustkorb gezogen, wippt sie vor und zurück. Immer vor und zurück, ohne je einen Laut von sich zu geben. Den Kopf leicht gesenkt, verdecken die kindlichen Stirnfransen ihr Gesicht. Sie würde das Mädchen gerne in die Arme schließen, im sanft über den Kopf streichen.
So wie es ihre eigene Mutter zu tun gepflegt hat. Aber sie kann es nicht. Die blutrünstigen Kreaturen lassen es nicht zu. Zähnefletschend drohen sie, sie qualvoll zu ermorden, sollte sie es auch nur wagen... Also wippt das Mädchen weiter. Vor und zurück, vor und zurück... Es macht sie wahnsinnig.
All das können die Leute hinter den ständig beobachtenden Kameras nicht sehen. Sie sind umgeben von einer derartig realistischen Aura, die sie nicht einmal an Gott glauben lässt. Sie spürt es immer ganz deutlich, jeden Morgen, wenn sie ihr Zimmer betreten, um ihr die täglichen Drogen zu verabreichen.
Ihre ganze, düstere Welt wird dann mit einem Mal weggewischt und alles ist wieder strahlend weiß. Die Bettdecke, die Wände, die Zimmerdecke, die Uhr. Dann kann sie sich dem Rausch des Giftes hingeben und das Chaos in ihrem Kopf beruhigt sich allmählich.
Für sie sind die unechten Gefühle immer noch besser als die Folter ihrer eigenen Gedanken...