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Gedankenströme
Allein am Ufer sitzend versucht Niclas zu begreifen, was eben geschehen ist.
Der Fluss schreit ihn an, schreit ihm entgegen, dass er es verbockt habe, dass alles seine Schuld sei.
Was soll er ihm antworten? Soll er die Gründe aufzählen, die eben schon sinnlos verhallten, soll er ihm all die Geschichten erzählen, die ihn dazu brachten?
Es ist nur ein Fluss, ein verdammter Strich Wasser, was versteht der schon?
Warum nur hat er eben Schluss gemacht? Schluss gemacht mit einem ganzen Lebensabschnitt, Schluss gemacht mit dem ganzen letzten Jahr, das sie gemeinsam verbrachten.
Zu gemeinsam?
Wer glaubt ihm das?
Sich ins Gras legend, blickt Niclas in den Himmel, der ihn zu erdrücken droht. So schließt er die Augen und überlegt, denkt nach über das, was geschehen ist.
Als ob sie es sich gedacht hätte, ging sie wortlos zur Tür, öffnete sie stoisch ruhig und wies ihm den Weg nach draußen. Er hatte nach seinem Geständnis unbeholfen weitergeredet, in der Hoffnung alles zerreden und ungeschehen machen zu können, wenn er nur lange genug alles erklären könnte.
Dann stand er draußen hinter der sich mit einem leisen “Klick“ verschließenden Tür.
Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt.
Vielleicht war er während des letzten Jahres manchmal unzufrieden oder ab und zu unglücklich gewesen, aber einsam?
Das wohl am allerwenigsten. Und jetzt, zum Fluss hinuntergegangen, kennt er keinen der seine Lage ansatzweise verstehen kann. Selbst der Fluss, ein guter, treuer Zuhörer in schlechten Zeiten, scheint ihn nicht verstehen zu wollen.
Ich wollte sie nicht betrügen, ich wollte es nicht, ich kann nicht erklären, wie es dazu kam, kann nicht erklären, warum ich dieses fremde Mädchen in meinen Armen hielt, in meinen Armen hielt und sie zu küssen begann.
Wollte ich mir selbst ein Zeichen setzen?
Langsam erhebt Niclas sich und beginnt unsicheren Schrittes ins Wasser hineinzuwaten, die Kälte scheint ihm nur gerecht, die spitzen Steine stehen für all die Schmerzen, die er glaubt verdient zu haben. Immer weiter und tiefer taumelt er hinein, bis er schließlich mit seinem Hals das kalte Wasser berührt. Die Luft anhaltend geht er in die Knie, taucht den Kopf ins Wasser.
Vielleicht kann er seinem nassen Freund so klar machen, wie ernst es ihm ist…
Plötzlich nehmen die Schmerzen überhand und in einem Anfall purer Panik stürzt wieder ans rettende Ufer. Die Sonne geht bereits unter und so schleppt er sich bibbernd zu einem der weniger werdenden warmen Fleckchen, um sich dort niederzulegen, in der Hoffnung die Kälte möge von ihm weichen.
Für einen Moment ist der Gedanke an Marina in den Hintergrund getreten. Nur diesen einen Moment, als die Panik angesichts der Kälte und des weit entfernten Ufers, die Macht über sein Denken übernahm und ihn in Sicherheit zwang.
So liegt er da und blickt in den Sonnenuntergang und friert und überlegt, überlegt, ob er aus Panik vor der Beziehung zu Marina ein rettendes Ufer gesucht und scheußlicherweise auch gefunden hat.
Schluchzend rollt er sich auf den Bauch, blickt wieder in Richtung des kühlen Stroms und verharrt eine Weile in dieser Position.
Ist er eben aus freien Stücken in den Fluss gewatet, oder hat ihn etwas gelockt, wenn nicht sogar gezwungen? Sollte ihm so etwas klar werden?
Eins ist ihm im Laufe dieses überaus traurigen Mittages klar geworden, das mit Marina hätte keine Zukunft gehabt. Er hat sie betrogen, leider nicht grundlos, wie er sich langsam eingestehen zu beginnt. Was er getan hat kann er nicht rechtfertigen, aber er kann versuchen es wenigstens nachzuvollziehen.
So schließt er erneut die tränennassen Augen und in seiner Müdigkeit, die sowohl durch den Stress als auch die Trauer verursacht wurde, fällt er in einen flachen, unruhigen Schlaf.
Er sitzt allein auf einer verschneiten Insel im Nichts. Nur wenige Meter von ihm entfernt, auf einer eigenen Plattform, sitzt Marina. Von ihm abgewandt und ohne Gehör für seine Rufe, sie möge ihm vergeben, verzeihen, was er getan hat. Erst als er ihr in seiner ohnmächtigen Wut beginnt Vorwürfe entgegen zu schreien, dreht sie sich um und antwortet tonlos:
„Nimm mich nicht als Entschuldigung für das, was du getan hast…“
Plötzlich verschwindet sie in der Dunkelheit und mitten in seiner Enttäuschung darüber, wacht er fröstelnd und orientierungslos auf.
„Marina?“ Nur das geduldige fließende Wasser antwortet ihm und macht ihm dadurch klar, wie sinnlos sein Rufen war. Verwirrt und frierend, taumelt er langsam durch das Dunkel, hin zu den Laternen, welche ihm endlich den Weg nach Hause weisen.
Dort angekommen, sieht er, dass alle Lichter schon gelöscht und alles Leben im Haus sich bereits schlafen gelegt hat. Unbehelligt in seinem Zimmer angekommen, lässt er sich in sein Bett fallen.
Ein leises Knistern ertönt und müde greift er an die Stelle, wo er es vermutet. Er findet einen Zettel, den er unbeholfen im durch die Fenster scheinenden fahlen Licht zu lesen beginnt.
Mühsam erkennt er die Handschrift seiner Mutter, die einer Bitte Marinas nachkommend, den Zettel dorthin gelegt hatte.
Ich habe ziemlich lang über uns nachgedacht und bin zum Schluss gekommen, dass wir noch mal reden sollten.
Das mit uns hat keine Zukunft…
Marina
Als der Zettel zerknüllt in der Ecke landet, wird es Niclas etwas leichter ums Herz und irgendwie muss er auch ein bisschen lächeln, als er in einen tiefen, erholsamen Schlaf fällt.