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Gefährdung einer Expedition

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04.08.2001
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Gefährdung einer Expedition

Ich war es, der Adrian Hofmeister tötete. Es ist jetzt beinahe dreißig Jahre her.
Es hat mir kein Vergnügen bereitet – weiß Gott nicht. Ich habe es mit Abscheu getan; doch nach wie vor bin ich der Überzeugung, dass es keinen anderen Ausweg gab, keine Überlebenschance für uns.
Nie hätte ich mir vorstellen können, so etwas einmal zu sagen: Ich musste Adrian Hofmeister töten.

*

Der Dschungel schluckt alle Geräusche. So kam es, dass wir die Detonation kaum hörten, obwohl Adrian Hofmeister nur vielleicht zwanzig Schritte vor der Gruppe ging.
Seit er zur Expedition gestoßen war, hatte er sich abgesondert von uns, mal war er vorgelaufen, dass wir ihn kaum mehr sahen, dann wieder ließ er sich soweit zurückfallen, dass Krömsson sich genötigt sah, selbst nach dem Rechten zu schauen, weil er befürchten musste, Hofmeister sei etwas zugestoßen. Der Deutsche war ein exzellenter Kenner der Gegend, so war er als Führer engagiert und sollte bei eventuellen Begegnungen mit einheimischen Stämmen Dolmetscher und Mittler sein.
Ich hatte Hofmeister als verschlossen und mürrisch kennen gelernt. Er sah gut aus mit dem wettergebräunten Teint und seinen schwarzen Haaren. Ganz anders, als man sich einen Deutschen vorstellt. Frauen mussten ihm hörig sein. Und ich hatte immer ein unbestimmtes Gefühl der Unterlegenheit, wenn ich mit ihm zusammen war. Er war der geborene Führer, niemals schien er um Rat fragen zu müssen, wenn man mit ihm redete, hatte er immer eine Antwort.
Es war früher Morgen, wir waren seit vier Stunden unterwegs und der Tag kündigte sich mit Dunst und Nebel an.
Niemand – auch Hofmeister selbst nicht – hatte in dieser Gegend des Dschungels mit Minen gerechnet. Es sollte sich einfach um ein Stück Regenwald handeln, der unberührt war und von Menschen gemieden wurde, selbst von den Eingeborenen.
Krömsson hatte als erster begriffen, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste; er warf seinen Rucksack ab und lief voran. Ich folgte ihm und hörte in meinem Rücken Doktor Marx rufen: „Was, zum Teufel, war das?“
Hofmeister lag gut 10 Meter von dem Platz entfernt, an dem er hätte liegen müssen. Seine Augen waren geschlossen, doch sein Atem ging. Krömsson kniete sich vor ihn, griff ihm an den Hals und sprach ihn an.
„Hofmeister! Können Sie mich hören?“
Er schien keine äußeren Verletzungen zu haben, außer eine tiefe, blutende Wunde am rechten Oberschenkel.
Da kam der Doktor angeschnauft. Auch er beugte sich über den Verletzten.
„Helfen Sie mir!“, befahl er Krömsson und mir. „Wir müssen die Blutung stillen, sonst können Sie sich einen neuen Führer besorgen.“
Mit einem schweren Buschmesser trennte er den Stoff von Hofmeisters Hose auf und als er sie vorsichtig abstreifte, wurde das ganze Ausmaß der Verletzung offensichtlich.
Krömsson zog scharf die Luft ein und durch ein Geräusch von hinten wurde mir bewusst, dass mittlerweile die gesamte Expedition um uns herumstand.
„Bauen Sie die Zelte auf“, krächzte der Doktor. „Ich fürchte, ich werde das Bein amputieren müssen.“
„Was?“ Krömsson starrte ihn entsetzt an. „Das geht nicht“, sagte er, als sei ihm der Widersinn seiner Aussage nicht bewusst.
Der Doktor blickte kurz zu ihm auf und fuhr ihn an: „Was ist Ihnen lieber, ein toter Führer oder einer mit nur einem Bein?“

Als klar war, dass Hofmeister überleben würde, war es bereits weit nach Mitternacht. Wir hatten den ganzen Tag Zelte aufgebaut, weil wir ausharren mussten, bis sich das Schicksal unseres Führers entschieden hatte.
Wir saßen vor dem einzigen Zelt mit Beleuchtung, das Doktor Marx in Beschlag genommen hatte, und tranken billigen Fusel, den Carter mit auf die Reise genommen hatte.
Die Träger hatten sich abseits vor einem Zelt versammelt und versuchten, die Nacht mit gemeinsamen Beschwörungen und Gebeten zu überstehen.
So saßen zwei Gruppen in der tropischen Nacht und versuchten auf ihre Weise, sich vorzumachen, den Lauf der Dinge beeinflussen zu können.
Krömsson saß bei uns, Parker und ich. Zu dritt hielten wir dem Doktor die Daumen.
Arne Krömsson drehte sein Glas in den Händen, dann nahm er den letzten Schluck, zerbiss ihn und schluckte mit Widerwillen herunter. Er war ein hoffnungsvoller Junge und zweifellos einer der jüngsten Expeditionsleiter, die ich jemals kennen gelernt hatte. Sein Bartwuchs war noch kaum ausgeprägt, aber er wusste sich durchzusetzen.
„Steht unter keinem guten Stern, die Expedition, was?“, sagte er und versuchte vergeblich, sein Glas zurückzuziehen, während Carter ihm nachgoss.
„Wenn Hofmeister nicht durchkommt, werden wir den Trip abbrechen müssen. Wir werden zusehen, wie wir heil nach Hause kommen.“
„Jetzt rächt sich, dass wir keine einheimischen Träger bekommen haben“, nörgelte Carter. Er war Professor für Anthropologie, hatte aber trotz seiner mindestens siebzig Jahre immer noch die Statur eines Holzfällers. Er war der eigentliche, der wissenschaftliche Kopf dieser Mission.
„Ach, Carter! Kommen Sie!“, entgegnete Krömsson. „Nicht wieder diese Vorhaltungen! Sie wissen genau, weshalb keine Einheimischen angeheuert wurden.“
„Weil sich keine bereiterklärt haben, ja. Das habe ich jetzt über Gebühr zu hören bekommen.“
„Weil es die Wahrheit ist. Sehen Sie es endlich ein, Ihre geliebten Indios haben kein Verlangen, mit uns zusammen zu arbeiten. Zumindest nicht welche aus der Region“, setzte er hinzu.
„Ach, papperlapapp, Krömsson. Bei den Hungerlöhnen, die ihnen geboten wurden, war es kein Wunder, dass sie ablehnten und sich zurückzogen. Man hätte ihnen mehr bieten sollen, alles eine Frage des Preises.“
Krömsson legte ein Stück Holz ins Feuer nach, bevor er beschwichtigend antwortete: „Das dürfen Sie nicht mir vorhalten. Sagen Sie das unseren Geldgebern.“
Carter schnaubte. „Sponsoren!“ Und zog sich ein Weilchen in sich selbst zurück.
Ich versuchte währenddessen den Streit zu schlichten, indem ich der Diskussion eine andere Richtung gab: „Was ist da vorne mit Hofmeister passiert, Carter? Was meinen Sie, sind Ihre Indios daran Schuld?“
„Ich war der Meinung, wir würden unbewohntes Gebiet betreten“, antwortete stattdessen Krömsson.
Carter lachte, einige Vögel stoben erschreckt aus dem Dschungel auf und flogen schimpfend davon. „Was verstehen Sie unter unbewohnt, Krömsson? Unbewohnt ist der Mond oder Pluto, weiß der Geier. Es ist noch keine zweihundert Jahre her, da wären Sie hier überrannt worden von Menschen.“
„Na gut, wir können uns aber wohl einig sein, dass die Mine, auf die Hofmeister getreten ist, sicher nicht aus dieser Zeit stammt, oder?“
Carter brummte. „Das sicher nicht. Aber 36 Jahre Bürgerkrieg hinterlassen seine Spuren, selbst in einem solch unwegsamen, bergigen Land. Spuren, die ein einzelner ausländischer Führer nicht auf Anhieb lesen kann.“
Geräusche aus dem Inneren des Zeltes ließen die beiden Streithähne innehalten. Metall wurde auf Metall geschlagen und dann hörten wir Hofmeister stöhnen. Der Eingang des Zeltes bewegte sich und Doktor Marx trat heraus in den Schein des Feuers. Er war blutübersudelt wie ein Fleischer. Er fasste Krömsson ins Auge und starrte ihn einige Sekunden an.
„Sie haben jetzt einen einbeinigen Führer“, sagte er, nahm mir das Glas aus der Hand und stürzte den Inhalt hinunter.

Der Dschungel atmete; er lebte an in jedem Winkel. Aller Flecken war gefüllt mit prallen Fasern, warmem Fleisch, duftenden Blüten. Man trat allerwegs auf Pflanzenreste, die Pfade waren versperrt mit Holz, das vermoderte.
Und aus allen Falten schienen Augen zu starren.
Hofmeister würde wieder gesund werden, nun, zumindest soweit dies mit nur einem Bein möglich war. Das brauchte Zeit und Ruhe.
Doch Krömsson trieb zum Aufbruch. Er war der Einzige von uns, der Leuten finanziell Rechenschaft abzulegen hatte und so schlug er alle Einwände des Arztes in den Wind, ließ das amputierte Glied an einer abgelegenen Stelle, ohne dass sein früherer Besitzer etwas bemerkte, begraben und hieß uns, die Zelte wieder abzubauen.
Wir legten Hofmeister auf eine Trage und hofften, dass er uns nicht ins Fieber fiel, wenn wir durch den dampfenden Dschungel stapften. Wir hatten noch einen weiten Weg vor uns und die Last, die wir bewältigen mussten, war nicht leichter geworden.
Krömsson brachte es tatsächlich fertig, die Träger mit Hofmeisters Bahre ganz vorn laufen zu lassen, denn der Deutsche war ja der Führer dieses Trecks, und der Führer hatte seinen Platz an der Spitze. Zwei Indios ließ er davor den Weg frei räumen von Gesträuch und Getier. Wir waren schon eine seltsame Prozession, als folgten wir einem König, oder noch besser, als bildeten wir den Trauerzug zu einer Beerdigung.
Hofmeister war die meiste Zeit bei Bewusstsein, hin und wieder fiel er in einen leichten Dämmerzustand, aus dem er jedes Mal nach kurzer Zeit hochschreckte, weil die Träger ihn beinahe fallen ließen und die Bahre in letzter Sekunde zu fassen kriegten.
Der Doktor war zufrieden mit dem Heilungsprozess; er sagte, der Deutsche sei ziemlich hart im Nehmen und es schien ihm kaum etwas auszumachen, dass er eines seiner Glieder verloren hatte.
Carter kam des Mittags zu mir heran und stapfte eine Zeitlang schweigend neben mir her. Im Gegensatz zu mir schien ihm diese verdammte Hitze nichts auszumachen.
„Wir sollten rasten“, sagte er, nachdem er mich eine Weile angeblickt hatte. „Die Sonne steht recht hoch und der Dschungel zeigt sich schon wieder unbarmherzig.“
Ich schnaufte, als ich einen umgestürzten Baum, überklettern musste, und sagte, nachdem ich zu Carter aufgeschaut hatte: „Wie lange mag unsere Reise noch dauern?“
Er fixierte mich scharf und entgegnete: „Sie meinen, Sie haben nicht allzu viel Vertrauen in unseren Führer, was?“
„Ich habe genauso viel Vertrauen in ihn, wie man einem Mann vertrauen kann, der ständig in der Gefahr schwebt, vom Wundfieber heimgesucht zu werden. Ich traue ihm allerhand zu, dem Deutschen. Doch leider fehlt ihm ein Bein.“
Carter lachte meckernd und ich sah aus den Augenwinkeln, wie er verstohlen einen Schluck aus seinem Flachmann nahm.
Ihm traute ich am ehesten zu, diese Expedition heil zu überstehen; er hatte auch den stärksten Antrieb, einen Erfolg herbei zu führen. Wir anderen – Krömsson eingeschlossen – waren Angestellte, bezahlt von einem gesichtslosen, mächtigen Finanzier, der Erfolge sehen wollte und dafür mit einer exorbitanten Prämie winkte. Aber Carter, der knorrige, sonnengegerbte Alkoholiker, Carter wollte eine Theorie bestätigt wissen, eine Theorie, für die ihn die Fachwelt seit Jahren schon auslachte.
„Was meinen Sie“, schnarrte er, als er die Flasche in seiner Tropenjacke verstaut hatte „Wann werden wir das Ziel erreicht haben?“
Es brauchte einige Momente, bis ich begriff, dass nicht ich mit dieser Frage gemeint war. Krömsson hatte zu uns aufgeschlossen.
„Kommt drauf an, was Sie als unser Ziel ansehen“, antwortete er und musterte Carter.
„Welches ist Ihr Ziel, Mister Krömsson?“, fragte Carter scharf.
„Haben wir nicht dasselbe vor?“ Krömsson schlug einen überhängenden Ast zur Seite und registrierte nicht, dass er mich damit beinahe traf.
„Ich will eine wissenschaftliche Expedition zu ihrem Erfolg führen.“ Carter lächelte bei diesen Worten. Auch wenn Krömsson hochgewachsen war, so musste Carter doch zu ihm hinabsprechen. Es hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass hier ein Mann zu dem Expeditionsleiter sprach, der sein Enkel hätte sein können. „Etwas, das überaus wichtig für mich ist, mein Lieber.“
„Dasselbe, Carter.“ Krömsson spähte nach vorn. „Für mich gilt exakt dasselbe, wenn auch aus anderen Beweggründen.“
Carter lachte. Sein Gesicht war jetzt ebenfalls schweißbedeckt, die Hitze machte auch ihm zu schaffen.
Krömsson sagte knapp: „Hofmeister sagt, in zwei Tagen erreichen wir die Berge und von dort ist es nicht mehr weit zu verwunschenen Stadt.“ Und lief nach vorn.
„Der Weg in den Bergen hat es in sich“, murmelte Carter und dann stoppten die Träger vor uns.
„Was ist los?“

Wir waren an einen Fluss gelangt, der sich träge vor unserem Weg wand; das schmutzige Wasser floss kein bisschen, es stand, als wolle es uns verhöhnen. Der Zug kam ins Stocken, und bald fand sich Doktor Marx bei uns ein und fragte, was los sei. Er sah müde aus.
Carter wies mit dem Kinn in Richtung des großen Wassers und griff in die Innentasche seiner Jacke. „Scheint, als hätte sich uns ein unplanmäßiges Hindernis in den Weg gelegt.“
Schnell trug sich eine Kunde von vorn zu uns; es waren die Worte Hofmeisters: „Der dürfte gar nicht hier sein!“
Krömsson wies an, Mensch und Tier von seiner Last zu befreien und eine Rast einzulegen. Ich konnte sehen, wie er sich intensiv mit Hofmeister unterhielt.
Ich verließ Carter und Marx gerade in dem Moment, in dem Carter mir seinen Flachmann herüberreichen wollte. Die Indios führten die Maultiere an den Fluss und wer damit nicht zu tun hatte, hielt sich im Schatten auf. Die Hitze war wieder unerträglich geworden und es war abzusehen, dass wir, auch wenn früher ein Ausweg aus dieser Situation gefunden würde, mindestens bis zum Abend hier verweilen würden.
„Mister Hofmeister!“ Krömssons Stimme hatte einen Ton angenommen, den ich ihn selten hatte benutzen hören. Dieser eisige Klang passte so gar nicht zu dem jungen Mann. „Wenn Sie der Meinung sind, diese Expedition nicht mehr zu ihrem Ziel leiten zu können, dann lassen Sie mich ohne Umschweife an Ihrer Meinung teilhaben!“
Als der Deutsche ihm nicht antwortete, sondern nur stumm von seiner Trage zu ihm aufblickte, setzte er hinzu: „Dann werde ich sie nämlich abbrechen und lasse unverzüglich kehrt machen.“
Hofmeister erblickte mich, fasste aber sofort wieder Krömsson ins Auge. Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit. „Ich bin klar bei Verstand, Krömsson. Wenn Sie das meinen, mir geht es gut. Der einzige, der dort ist, wo er eigentlich nicht sein sollte, ist der Fluss.“
Krömsson starrte ihn an und man sah genau, wie er versuchte, diese Aussage einzuordnen. Der Blick ging glatt durch den Deutschen hindurch, durch die Bahre, durch den heißen, feuchten Dschungelboden.
Erst als ich von hinten fragte: „Wie ist das zu verstehen?“ wandte er sich kurz zu mir um, nur um sich sofort wieder seinem kranken Führer zu widmen.
Der Deutsche antwortete ihm, ohne mich zu beachten: „Das soll das heißen, was ich gesagt habe. Der Fluss dürfte nicht hier sein!“
„Blödsinn.“ Krömsson stand auf und ging ohne ein weiteres Wort davon. Man sah, wie er mit dem Kopf schüttelte, als er fortstakste.
Ich kniete mich vor den Deutschen hinunter und fixierte ihn. Er war gerade dabei, sich mühevoll aufzurichten. Ein Laut war von ihm zu vernehmen, das einem unterdrückten Stöhnen glich.
„Geht’s Ihnen gut?“, fragte ich, als er sich gesetzt hatte und auf meiner Augenhöhe war. Er antwortete nicht, sondern tastete an seine Seite und griff schließlich eine Trinkflasche.
Er trank in hastigen Schlucken, während ich sagte: „Sie müssen sich elend vorkommen. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“
Er setzte die Trinkflasche ab, verschloss sie sorgfältig und legte sie neben sich ab. Das eine ausgestreckte Bein und daneben der dick bandagierte Stumpf, das war ein widernatürliches Bild, das unsere derzeitige Situation irgendwie perfekt charakterisierte.
Er sah mich wilden Auges an und spie mir ins Gesicht: „Was wissen Sie schon! Haben Sie ein Bein verloren durch so einen...Scheiß? Oder einen Arm? Was wissen Sie schon?“
Ich schreckte zurück, weil ich derartige Ausbrüche von unserem Führer nicht gewöhnt war. Er funkelte mich an, doch urplötzlich verschwand der wilde Ausdruck aus seinem Gesicht und er hatte sich wieder vollständig im Griff.
„Entschuldigen Sie“, murmelte er. „Die Situation ist auch für mich ungewöhnlich.“
Ich schob eine Verpflegungskiste so zurecht, dass er sich dagegen lehnen konnte und fragte ihn noch einmal: „Was meinten Sie damit, als Sie sagten, der Fluss dürfte nicht hier sein?“
Er schloss die Augen, als er antwortete. „Ich habe drei Mal versucht, die verwunschene Stadt zu finden. Einmal waren wir kurz davor, bis zu den Bergen schafften wir es jedes Mal. Zweimal führte uns der Weg genau an dieser Stelle vorbei.“ Er öffnete die Augen, als müsse er sich vergewissern, dass es tatsächlich dieser Ort gewesen war.
„Beide Male verlief der Fluss so, dass er unseren Weg nicht kreuzte.“
„Aber das ist doch nicht möglich“, erwiderte ich. „Ein Fluss verändert nicht so mir nichts dir nichts seine Richtung. Schon gar nicht einer dieser Größe.“
„Das weiß ich! Und doch ist es so. Der Lauf des Wassers verlief parallel zu unserem Weg, jetzt kreuzt er ihn.“
Ich vermag nicht zu sagen, ob ich Hofmeister damals Glauben schenkte. Vielleicht schob ich seine Ansicht auf seinen Zustand. In jedem Falle keimte ein Fünkchen des Misstrauens gegenüber unserer bekannten Welt in mir und ich öffnete mich ein klein wenig der Welt der Maya.
„Was sollen wir tun?“, fragte ich noch in Gedanken versunken.
„Wir müssen uns mit der Situation arrangieren. Krömsson muss jeweils zwei Indios in jede Richtung des Flusses schicken, um herauszufinden, an welcher Seite sich eine günstige Stelle findet, an der wir übersetzen können.“

Wir schlugen unser Lager am Fluss auf, weil abzusehen war, dass die Späher, die Krömsson schließlich auf Hofmeisters Anraten losgeschickt hatte, nicht vor dem Morgengrauen zurücksein würden. Wir errichteten zwei Zelte, versorgten die Tiere notdürftig und legten uns zur Ruhe, nachdem wir die Zeltwände ausgiebig mit Wasser aus dem Fluss besprüht hatten. An Schlaf war nicht zu denken, aber Carter neben mir schnarchte.
Noch bevor die Sonne unterging, verließ ich leise das Zelt und fand draußen eine angenehm frische Atmosphäre vor. Die Luft hatte sich abgekühlt und fühlte sich draußen deutlich angenehmer an, als drinnen.
Hofmeister saß an einen Baum gelehnt, das Bein angewinkelt und starrte auf den Fluss hinab. Er bewegte sich nicht, selbst als er mich gehört haben musste, zeigte er mit keiner Regung, dass er Notiz von mir nahm. Ich meinte, er wäre eingeschlafen.
Still stellte ich mich hinter ihn, genoss die Ruhe und beobachtete die Wasseroberfläche. Es war weit und breit kein Mensch zu sehen, selbst die Indios hielten sich noch in ihrem Zelt auf. Der Dschungel mit seinem unentwirrbaren Pflanzengewirr und den nie verstummenden Geräuschen lag in unserem Rücken, vor uns der Fluss – bedrohlich und lauernd. Es begann zu dämmern.
„Es scheint, als verhöhne er uns, nicht wahr?“
Er drehte sich zu mir um und schaute mich fragend an. „Der Fluss, meine ich.“
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und so schwieg ich weiter. Er wandte sich wieder um und war wohl der Meinung, ich hätte ihn nicht recht verstanden, denn er fuhr fort in ruhigem Ton: „Es ist so, als sei er ausgeschickt, sich uns in den Weg zu legen.“
Der Fluss machte tatsächlich den Eindruck eines lebendigen, trägen Wesens, das sich seinen Verlauf selbst auswählen kann. Im Dschungel ist vieles möglich, allerdings beruht die Mehrzahl der Zwischenfälle auf die Anfälligkeit des menschlichen Geistes. Es spiegelt einem die unsinnigsten Bilder vor.
„Sie sind wirklich der Meinung, dass der Fluss noch nicht da war, als Sie das letzte Mal hier durchzogen?“, fragte ich.
Er nickte gedankenverloren und starrte weiter nach unten.
„Es könnte nicht zufällig sein, dass Sie einen anderen Weg genommen haben und sich schlicht irren?“
„Nein. Ich habe ein Bein verloren, nicht das Gehirn. Verstehen Sie, ich bin mir hundertprozentig sicher.“

Als wir nachts vor den Zelten saßen, rauchten und Carters billigen Fusel tranken, dabei auf die Späher warteten, um endlich weiterziehen zu können, saß Hofmeister abseits der Runde, außerhalb des Feuerscheins, und rauchte stumm seine eigenen Zigaretten. Alkohol lehnte er kopfschüttelnd ab.
„Wir verlieren Stunde um Stunde“, knurrte Krömsson, als Carter ihm nachschenkte, und auch wenn es nicht so gemeint war, hörte es sich doch an wie ein Vorwurf an Hofmeister. Dessen Gesicht war nicht zu erkennen, man spürte aber, dass die Gestalt im Hintergrund sich anspannte.
„Die Späher müssten doch längst wieder zurück sein“, wandte der Doktor ein.
Carter erwiderte: „Wer weiß, in welches Gelände sie kommen. Es kann noch Stunden dauern, bis einer von ihnen hier wieder auftaucht.“
Krömsson machte eine unwirsche Bewegung. „Ich hatte sie angewiesen, maximal 30 Meilen zu laufen und dann umzukehren. Das Gelände sollten andere besser kennen, sie werden dafür bezahlt.“
Wir alle blickten zu Hofmeister hinüber, doch der bewegte sich nicht. Einzig die Glut seiner Zigarette leuchtete auf.
Die Stille, die plötzlich herrschte, war drückend. Es war klar, dass der Deutsche reagieren musste; die ganze Runde blickte ihn erwartungsvoll an. Doch Hofmeister schwieg.
Ich sah, wie sein Bein unruhig zitterte, er war nervös.
Dann endlich – es war wie eine Befreiung – lehnte er sich nach vorn und sein Gesicht tauchte in den Lichtschein.
Er sah Krömsson an und sagte: „Sie wollen in die verwunschene Stadt geführt werden. Sie sind begierig, etwas über die N’gonk zu erfahren. Krömsson, hüten Sie sich, der Stamm ist nicht das Volk der Maya. Nicht umsonst wurden die N’gonk von allen anderen Maya-Völkern gemieden. Die N’gonk waren immer bestrebt, die verwunschene Stadt abzuschirmen. Waren Sie wirklich der Meinung, das würde ein Spaziergang werden?“
„Wollen Sie damit sagen, dass die N’gonk noch existieren?“, blaffte Krömsson.
Der Deutsche schwieg. Stattdessen antwortete Carter.
„Man spricht von einem Fluch, mit dem die N’gonk die Umgebung um die verwunschene Stadt herum belegt haben sollen“, sagte er.
Krömsson starrte ihn an.
„Das ist nicht Ihr Ernst“, erwiderte er tonlos. „Diese Expedition kostet Hunderttausende Dollar, eine ganze Menge reicher Leute sind daran interessiert. Dutzende Universitäten blicken auf uns und Sie erzählen mir, Sie glaubten an diesen Mumpitz?“
Ein Scheit im Feuer knackte und es klang, als wäre eine Pistole abgefeuert worden. Krömsson blinzelte feindselig.
„Mister Krömsson“, sagte Hofmeister ruhig. „Haben Sie sich eigentlich schon einmal gefragt, warum so viele Leute ein so großes Interesse am Gelingen dieser Expedition haben?“
Krömsson machte eine genervte Handbewegung.
„Hören Sie“, sagte er. „Ich bin kein Wissenschaftler, mich interessiert nicht das Objekt der Expedition, sondern nur die Durchführung. Ich habe einen Auftrag und den will ich ausführen.“
„Vielleicht sollten Sie sich aber für das Objekt interessieren, wenn Ihnen an der Durchführung liegt.“
Er schaute nach oben und betrachtete das Dunkel, in dem man das undurchdringliche Buschwerk vermuten konnte.
„Der Dschungel ist voller Geheimnisse. Menschen, die das Leben hier nicht kennen, werden sie nicht lösen. Selbst die Indios akzeptieren das.“ Er sah Krömsson an. „Sagen Sie mir, in welchem Staat wir uns befinden, Mister Krömsson!“
Krömsson lachte.
„Hofmeister, was soll das? Guatemala, das wissen Sie.“
„Ja, Guatemala. Aber was ist, wenn ich Ihnen sage, das ist nicht Guatemala hier?“
„Reden Sie keinen Scheiß! Das hier ist Guatemala...“
„So?“ Der deutsche lächelte spöttisch. Er zog das Bein an und hievte sich mit verzerrtem Gesicht auf. Wir hatten ihm zwei notdürftige Krücken gemacht, auf diese stützte er sich jetzt und schaute sich noch einmal um.
„Was wäre, wenn ich sagte, dass dies nicht der Fall ist?“, fragte er rau, drehte sich ab und hinkte unbeholfen und ohne jegliche Hast in den Wald.
Zurück ließ er Schweigen und Ratlosigkeit.

Einer der Spähtrupps kehrte kurz vor Mitternacht ins Lager zurück. Er war unverrichteter Dinge umgekehrt, als er den Eindruck gehabt hatte, dass er 30 Meilen zurückgelegt hatte. Der Fluss war stoisch und ohne Veränderung in dieselbe Richtung geflossen – keine Möglichkeit, ihn halbwegs sicher zu überqueren.
Die Stimmung im Lager verschlechterte sich, Hofmeister war nirgends zu sehen. Er war nicht wieder aufgetaucht, nachdem er Krömsson düpiert hatte und im Wald verschwunden war.
Knapp zwei Stunden später traf der zweite Spähtrupp von der anderen Seite ein. Der hatte definitiv bessere Nachrichten zu überbringen.
Die Beiden waren weiter gelaufen als erlaubt und waren dafür belohnt worden. Schätzungsweise 33, 34 Meilen voraus machte der Fluss eine scharfe Biegung und floss nachgerade zurück und war so leicht zu umgehen.
Als die Indios dies erzählten, standen fast alle Teilnehmer der Expedition herum und lauschten. Selbst Hofmeister war zurückgekehrt und stand etwas abseits auf seine Krücken gestützt. Ich kann es nicht beschwören, aber ich meinte einen zufriedenen Zug in seinem Gesicht zu sehen.
Gegen vier in der Früh marschierten wir endlich weiter; die Erleichterung darüber war zu spüren, die Männer schnatterten aufgeregt wie Schulkinder vor einem Klassenausflug.
Die Indios hatten für Hofmeister einen tragbaren Sitz gebaut und als sie ihn drängten, Platz zu nehmen, zierte er sich eine ganze Weile, bis er schließlich widerwillig aufstieg und sich setzte. Nun machte er erst recht den Eindruck eines Herrschers auf Reisen, denn die Trage erinnerte fatal an eine Sänfte.
„So was hab’ ich noch nie geseh’n“, raunte mir Carter zu, als wir die Flussbiegung erreichten und ansonsten schweigend darum herummarschierten. Das große Wasser lag still wie ein besiegtes Tier.
Hofmeister sollte zufrieden sein, er machte aber nicht den Eindruck. Vielmehr verzog er das Gesicht, als hätte er zu leiden. Als wir endlich gegen Mittag Rast machten und der Großteil der Mannschaft sich zur Ruhe begeben hatte, sprach ich ihn deshalb an, als er wieder abseits des Lagers an einem Baum gelehnt saß und stumm in den Dschungel starrte. Sein Verband war gewechselt und der frische, saubere Mull stand in merkwürdigem Kontrast zu seiner schmutzigen Kleidung.
„Es machte den Eindruck, als könnten Sie Ihren Triumph in dieser Flusssache nicht recht auskosten, Mister Hofmeister“, sagte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken. Doch offensichtlich hatte er mich kommen hören.
Es dauerte einige Momente, ehe er antwortete: „Es gibt keinen Triumph in dieser Sache.“
Und schien mich wieder vergessen zu haben, denn er schwieg und bewegte sich weiterhin kein bisschen.
Als ich mich eben abwenden wollte, weil die Situation für mich peinlich zu werden drohte, flüsterte er: „Ich habe wahnsinnige Schmerzen.“ Dann drehte er den Kopf zu mir und schaute mich von unten herauf an. Ich sah, dass Tränen in seinen Augen standen und aus seinem Blick jede Überheblichkeit verschwunden war.
Ich war schockiert von diesem Geständnis, denn am allerwenigsten hatte ich solche Worte von unserem Führer erwartet.
„Was sagt Doktor Marx dazu?“, fragte ich ihn. „Er wird Ihnen sicher ein Mittel verschreiben können.“
„Haben Sie ihn gefragt?“
Er funkelte mich an. „Der Arzt ist machtlos!“, zischte er. „Diese Schmerzen kann er nicht bekämpfen.“
Ich ahnte Schlimmes. Unser Erlebnis mit dem Fluss vor Augen, fragte ich: „Was sind das für Schmerzen?“
Nun bekam sein Gesicht einen weicheren Ausdruck. Ich meinte fast etwas Wehmut in seiner Stimme zu hören, als er antwortete: „Phantomschmerzen.“
Ich schluckte, meine Hand suchte den Baum, Hofmeister wandte seinen Blick ab.
„Das Bein“, fuhr er fort und ich spürte, dass ich einen besonderen Moment bei ihm abgepasst hatte. „Das Bein ist immer noch dran. Ich fühle es, kann es spüren und manchmal muss ich mich zurückhalten, weil ich merke, dass ich das Bein zum Laufen nutzen will.“
Es war Nachmittag, die Sonne stand am Höchsten und versuchte unablässige Hitze und gleißendes Licht durch das grüne Dach des Dschungels zu schicken. Gut zwei, drei Stunden würden wir noch rasten, bevor an Aufbruch zu denken war.
„Und ständig diese Schmerzen in dem Bein.“ Er deutete auf den Stumpf. „Diese Schmerzen, die scheinbar von nirgendwo kommen. Verstehen Sie, das ist das Schlimmste, diese Diskrepanz. Man sieht kein Bein und doch spürt man es.“ Er schluchzte auf. „Und man kann nichts dagegen tun!“
„Das geht vorbei, denke ich. Sie haben den Unfall vor sechs Tagen gehabt, Hofmeister. Da ist es vollkommen normal, dass sich Ihr Gehirn noch uneins ist. Es muss mit der Situation klarkommen. Was sagt der Arzt dazu?“
Er hatte sich wieder im Griff, seine Stimme klang fest, als er antwortete: „Der sagt dasselbe wie Sie.“
„Es geht vorbei.“
Er lachte.
„Ich bin überzeugt davon“, versicherte ich. „Nach und nach werden Sie sich daran gewöhnen.“
„Sie klingen wie der Doktor“, sagte er. „Doch eines unterscheidet Sie beide von mir.“ Er schaute mich noch einmal an und lächelte dabei. „Sie haben noch alle Ihre Beine.“

Ich war mit Carter beschäftigt, die einzelnen Namen der Indios zusammen zu bekommen, als am nächsten frühen Morgen der Zug schon wieder stoppte. Wir hatten uns gerade vor einer halben Stunde in Bewegung gesetzt, und diese Unterbrechung kam uns beiden ungewöhnlich vor.
Die Träger standen geduldig neben den beiden Maultieren, und als wir an ihnen vorbeigingen um zur Spitze zu gelangen und herauszufinden, was uns aufhielt, hörten wir Krömsson toben.
Wir sahen uns beide an und in Carters Augen blitzte Ironie. Er nahm die ganze Sache hier sehr gelassen.
Krömsson schrie auf Hofmeister ein, der geduckt in seinem Tragestuhl saß und uns mit vollkommener Verwunderung und Bestürzung anschaute, als wir die Spitze erreichten.
Krömsson tanzte während seines Wutanfalls am Rande einer Schlucht entlang, die sich sowohl in die Tiefe als auch in Breite kilometerweit hinzog.
Der Expeditionsleiter war sauer, dass seine Expedition schon wieder ins Stocken geraten war, und Hofmeister, der gerade das hatte verhindern sollen, konnte offensichtlich nicht verstehen, was hier geschehen war.
„Ich habe es satt“, brüllte Krömsson und ich hatte ein wenig Angst, er könne hinabstürzen. „Ich soll diese Gruppe an ihr Ziel führen, verdammt. Ich bin dafür verantwortlich, ich muss geradestehen dafür, wenn sie scheitert. Und, Gott im Himmel, ich werde geleitet von einem Kasper! Mein Führer glaubt an Außerirdische, die uns Steine in den Weg legen!“
Er wurde sich seiner Umgebung bewusst und sah uns an. Dann wandte er sich wieder an Hofmeister. „Ist es nicht so?“
Der schien ihn und seinen Ausbruch gar nicht bemerkt zu haben. Er starrte an Krömsson vorbei auf diese verdammte Schlucht. Und, ich schwöre, ich wusste vorher, was er sagen würde.
„Diese Schlucht“, stammelte er und er sagte es nicht zu uns. „Diese Schlucht sollte nicht hier sein!“

„Was hat es mit den N’gonk auf sich?“
Krömsson hatte einen Moment der Ruhe abgewartet, um diese Frage Carter zu stellen. Der dürfte die größte Kapazität auf diesem Gebiet sein, es war nur zu natürlich, sich an ihn zu wenden.
Wir hatten sehr schnell eine Umgehungsmöglichkeit der Schlucht gefunden, Krömsson hatte sich beruhigt und wir waren weitergezogen. Einzig Hofmeister schien wirklich verstört und machte einen beunruhigten Eindruck an der Spitze des Zuges. Er war offensichtlich nicht mit der Erklärung zufrieden, er hätte sich geirrt.
Carter warf mir einen triumphierenden Blick zu, bevor er antwortete.
„Was ist los, Krömsson?“, fragte er und zwinkerte mir zu. Er wich einem Ast aus und musste sich bücken. „Kalte Füße bekommen? Ich denke, Sie glauben nicht an Außerirdische und solchen Mumpitz.“
Krömsson starrte ihn solange an, wie er weitergehen konnte, ohne auf den Weg zu achten. Dann wandte er sich ab und knurrte „Ich will mir ein Bild machen über unser Forschungsziel.“
„Das hätten Sie vielleicht tun sollen, bevor Sie die Leitung der Expedition übernahmen.“
„Ich glaubte, das hätte ich auch. Jedenfalls hilft es, alle Meinungen zu hören. Und ich hoffe für Sie, Carter, dass Sie Realist genug sind, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben. Ansonsten wären Sie genauso fehl am Platze wie unser verdammter Führer.“
Carter lachte aus vollem Halse.
„Das ist gut“, prustete er. Die Träger vorn sahen sich nach uns um. „Sie lehnen unseren Führer ab“, fuhr er leiser fort. „Aber Sie verlassen sich trotzdem auf ihn. Das ist stark, glauben Sie mir. Sie würden einen Preis für Originalität gewinnen.“
„Habe ich eine Wahl“, zischte Krömsson. „Bleibt mir etwas anderes übrig, als diesem verrückten Deutschen zu glauben und seine Ansichten soweit wie möglich zu ignorieren?“
„So verrückt ist er gar nicht, der Deutsche.“
„Meinen Sie?“ Wir mussten über einen umgestürzten Mammutbaum klettern. Riesig und verwittert lag er in unserem Weg. Krömsson sprang hinauf und half Carter beim Aufstieg. „Sagen Sie nur, Sie teilen seine Ansichten!“
„Nun“, stöhnte Carter und ließ sich auf der anderen Seite hinab gleiten. „Zumindest hat er Respekt vor den N’gonk. Er hat Ehrfurcht vor dem Dschungel.“
„Das Volk ist seit über dreihundert Jahren ausgestorben. Wie kommen Sie darauf, dass man Angst vor ihnen haben sollte?“
Ich war außen vor bei diesem Gespräch; die wenigen Informationen, die ich über die N’gonk besaß, reichten gerade einmal für einen Schülervortrag aus. Ich war, sobald wir in der verwunschenen Stadt angekommen wären, für die technische Ausrüstung verantwortlich.
„Die Phönizier sind viel länger ausgestorben“, schnauzte Carter. „Und immer noch wirken sie nach. Sie sind alle verdammt gierig auf deren Erfindung.“
Krömsson sagte in beherrschtem Ton: „Erzählen Sie mir etwas über die N’gonk, Carter. Und versuchen Sie, weniger zu trinken.“
Ich konnte spüren, wie der knorrige alte Mann sich zurücknahm, wie er einige Sekunden verstreichen ließ, ehe er antwortete. Es war Krömssons Verdienst, dass die beiden sich nicht schon wieder in die Haare bekamen.
„Eigentlich sind die N’gonk gar keine Mayas mehr“, begann Carter. „Wann sie sich abspalteten ist unklar. Einige meinen, das sei schon vor zweitausend Jahren geschehen. Einerlei. Ich habe mich nie drum gekümmert, für mich waren sie immer ein eigenständiges Volk.“
„Wie lange forschen Sie auf dem Gebiet?“, fragte ich.
„Ich schätze, mein ganzes Leben.“ Ich sah, wie seine Hand zur Innentasche seiner Jacke zuckte; er ließ sie wieder sinken und schaute mich an. Dann grinste er und zog den Flachmann heraus und nahm einen tiefen Schluck. Ich lehnte ab, als er sie mir anbot und Krömsson tat so, als hätte er die Flasche nicht gesehen.
„Die N’gonk waren vollkommen unabhängig. Sie hatten sich ihre Stadt erbaut im tiefsten Dschungel und schotteten sich ab, ohne sich um irgendjemanden zu kümmern. Die Mayas unter sich waren ein zänkisches Volk, sie waren verfehdet und bekriegten sich ständig um irgendetwas. Man sagt, dies sein ein Teil ihres Unterganges gewesen.“
„Die N’gonk sind nicht mit den übrigen Mayas gemeinsam untergegangen?“, fragte ich.
Carter verzog das Gesicht. „Alles was wir über sie wissen, haben wir aus den Aufzeichnungen der Mayas erfahren. Wir haben nicht einmal einen direkten Beweis ihrer Existenz.“
„Märchen“, hörte ich Krömsson zischen, als er nach vorne an uns vorbei hastete. Der Zug war wieder einmal zum Stocken gekommen.
„Was ist schon wieder los?“ Er verlor langsam die Geduld. Er stand vor Hofmeister, der auf zwei Krücken gestützt, versuchte, eine ebenso gerade Figur zu machen wie der Expeditionsleiter.
Doch Krömsson verstummte sofort – alle waren verstummt – im gesamten Dschungel schien Totenstille zu herrschen. Direkt unter Hofmeister, an der Stelle, an der sein rechter Fuß stehen sollte, lag eine Schlange, zusammengerollt, aggressiv und zum Angriff bereit. Sie ringelte sich unter dem Deutschen, der krampfhaft bemüht war, still zu stehen.
Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, er versuchte Krömsson im Blick zu behalten und dabei nur die Augen zu bewegen.
Wir standen um die Beiden herum, abwartend, ohne eine Regung verursachend und atemlos vor Spannung.
„Eine Lanzenotter“, zischte Carter. „Jararaca! Verdammt giftig und verdammt tödlich.“
Auch Krömsson stand wie erstarrt in seiner Position, direkt Hofmeister gegenüber und schielte nach unten zu der Schlange hinab.
Die Zeit schien eingefroren.
Plötzlich machte der Deutsche eine ruckartige Bewegung und die Schlange wurde in hohem Bogen fortgeschleudert. Sie flog in Richtung Dschungel, klatschte vielleicht zehn Meter von den beiden entfernt auf den Boden und schlängelte sich mit einigen hastigen Bewegungen ins Gestrüpp. Es dauerte keine Sekunde, bis sie verschwunden war.
Sofort hob sich ein Stimmengewirr, als hätte man eine Tür geöffnet. Alle redeten durcheinander, ein Jeder lief hin und her und Krömsson und Hofmeister schienen sich erst jetzt bewusst zu werden, wie knapp sie dem Tode entronnen waren.
Mit einiger Verzögerung setzten wir den Treck fort.

Es brannte mir im Gehirn und ich konnte es schlecht abwarten. Als wir die nächste Rast einlegten, fand ich endlich Gelegenheit, Hofmeister ungestört zu sprechen.
Ich stellte ihm leise die Frage, als er sich wieder abseits der Mannschaften unter einen Baum gelegt hatte und sich langsam seinen Stumpf rieb.
„Wie haben Sie die Schlange unter Ihrem Körper wegbekommen?“
Er schaute auf und antwortete in erstauntem Ton: „Ich habe sie mit dem Fuß weggekickt.“
Er zog ein Päckchen Zigaretten hervor und bot mir eine an. Stumm rauchten wir nebeneinander und ich grübelte über die Frage nach, wie der Deutsche wohl die giftige Natter mit dem Fuß wegkicken konnte, der ihm längst abgenommen worden war.

„Sie waren elitär, sie ließen niemanden an sich heran und standen in dem Ruf, Magie zu beherrschen.“
Carter hatte ganz von allein mit dem Thema begonnen. Offensichtlich gab es da noch etwas, das er erzählen wollte.
„Und es war das einzige Volk“, fuhr er fort, „das einzige Volk, das ich kenne, das sich in solch einer Weise und so intensiv auf die Spinne fixierte.“
Er machte eine Kunstpause, während der Dschungel seine Geräusche absonderte.
In diese Pause hinein schnarrte Krömsson: „Was darf ich darunter verstehen?“
„Der oberste Gott der N’gonk war eine Spinne.“
„Eine Spinne?“ Ich war mir sofort der Dummheit meines Ausspruchs bewusst.
„Um genau zu sein“, fuhr Carter fort. „Eine Vogelspinne. Die N’gonk beteten die Vogelspinne an. Sie war ihnen heilig, nichts stand darüber. Ich kann es nicht genau sagen, aber man nimmt an, dass die Schöpfungsgeschichte der N’gonk aussagt, die Spinne hätte die Welt erschaffen und hält sie mit ihren Beinen in der Bewegung.“
„Sie wissen es nicht?“
„Wie gesagt, alles was wir über dieses Volk wissen, haben wir von anderen Völkern. Solange wir die verwunschene Stadt nicht gefunden haben, werden wir keine genauen Aussagen treffen können.“
„Alles nur Hörensagen?“
„Ja. Wir wissen von Zeremonien, in denen die Vogelspinne eine entscheidende Rolle gespielt hat.“
„Da kommt Ihr Geldgeber ins Spiel, Mr. Krömsson“, warf ich ein. „Die N’gonk konnten gut mit Spinnen. Sie waren sozusagen Partner. Es gibt Pharmafirmen, die ziemlich scharf auf das Wissen sind.“
Carter sagte: „Was man verstehen kann, wenn man die Fähigkeiten kennt, die ihnen zugeschrieben werden. Ich kann mir nicht viel Schönes daran vorstellen, das Bewusstsein mit solch einem Krabbelvieh zu tauschen, aber für die N’gonk und ihre Götterbeschwörungen scheint das elementar wichtig gewesen zu sein.“
„Was macht es für einen Sinn, das Bewusstsein zu tauschen mit einer Vogelspinne?“
Carter zuckte mit den Schultern. „Was fragen Sie mich? Ich bin mit Ihnen unterwegs, um Erkenntnisse über dieses Volk zu sammeln. Wir wissen nicht viel über sie. Im Übrigen war das nur ein Beispiel, man schreibt den N’gonk noch ganz andere Fähigkeiten zu. Der Spinnengott war angeblich in der Lage, Kinder mit den N’gonk zu zeugen, die dann in jeder Generation den Thron bestiegen. Also, wie gesagt, alles vage und schwammig. Nichts ist gesichert.“
Krömsson wandte sich den Trägern zu, die irgendein Problem hatten.
Carter verfiel nach einem tiefen Schluck in erneutes Schweigen. Und für mich war somit die Sache erledigt.

Es war in der folgenden Nacht – es herrschte tropischer Regen, so dass an ein Weiterwandern nicht zu denken war – als Hofmeister in mein Zelt gerobbt kam und mich weckte. Er gab mir durch ein Zeichen zu verstehen, dass ich mich erheben und ihm folgen sollte. So schlichen wir aus dem Zelt heraus, in dem der Arzt und Carter schliefen und hasteten durch den trommelnden Regen hinüber zu der Unterkunft, in der Hofmeister allein hauste. Ein Privileg an den Führer und ein Zugeständnis an einen kranken Mann.
Die Gasleuchte verströmte unruhiges Licht. Ich setzte mich in einen Stuhl und schaute Hofmeister erwartungsvoll an, der damit beschäftigt war, zwei Gläser mit Whisky zu füllen.
„Hier“, sagte er und reichte mir ein Glas. „Das ist etwas besser, als das Gebräu, das der alte Alkoholiker herumreicht.“
Wir tranken schweigend, dann setzte Hofmeister sich mir gegenüber.
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so unsanft zu diesem Treffen überreden musste. Es gibt einige Dinge, die ich klären muss.“
„Mit mir?“
Er schaute in Gedanken versunken in sein Glas. „Mir scheint“, antwortete er, „Sie sind der Vernünftigste auf dieser Expedition.“
Ich musste lachen, verstummte aber, als ich an Carter denken musste, an den Doktor und Krömsson. Ich wurde ernst, blickte ihm in die Augen und fragte: „Was wollen Sie mir sagen, Mr. Hofmeister?“
Der Deutsche verzog plötzlich das Gesicht. „Ich habe Schmerzen“, zischte er.
„Das Thema hatten wir schon. Ich hatte Ihnen geraten, sich an Doktor Marx zu wenden.“
„Aber er versteht mich nicht!“ Es war fast ein Aufschrei, als flehte er mich um Hilfe an. Er fasste sich wieder, trank einen Schluck und behielt ihn eine Weile im Mund.
„Dies ist meine dritte Expedition zur verwunschenen Stadt“, fuhr er gefasster fort. „Mein halbes Leben schon beschäftige ich mich mit diesem Volk. Was früher meine Familie war, das sind jetzt diese Menschen, die schon seit Jahrhunderten tot sind. Von denen wir nicht einmal wissen, ob es sie überhaupt gab.“
Er schenkte nach. Der Whisky war tatsächlich um Längen besser als Carters Gesöff.
„Dreimal versuchte ich, zur verwunschenen Stadt zu finden, zweimal bin ich jämmerlich gescheitert, das dritte Mal scheint sich ebenfalls zu einem Fiasko zu entwickeln.“
Er schaute mich hilflos an.
„Woran liegt es?“, fragte ich.
„An den N’gonk“, erwiderte er fast ohne Atem. „Es scheint, als wollten sie nicht, dass wir sie finden.“
Ich sprang auf. Mit einem Knall setzte ich das Glas auf den Tisch.
„Hofmeister!“, fuhr ich ihn an. „Ich bin nicht gekommen, mir Ihre Märchen anzuhören.“
„Setzen Sie sich bitte wieder!“
Er war ebenfalls aufgesprungen und stand mir gegenüber. Ohne Krücken und gar nicht wackelig.
Widerstrebend ließ ich mich zurück auf den Stuhl pressen.
„Meine Schmerzen sind schlimmer geworden“, flüsterte der Deutsche, nachdem er sich ebenfalls niedergelassen hatte. „Aber nicht nur das. Sie haben sich ausgeweitet. Das ist unter anderem Grund dafür, dass der Arzt mich nicht ernst nehmen wird.“
„Er wird Verständnis haben“, brummte ich. „Er ist Arzt, er hat viel gesehen.“
„Das mag sein. Ich habe auch viel gesehen. Aber das, was ich ihm erzählen müsste, davon hätte er noch nie gehört. Und er würde mich auslachen.“
„Was denn?“, fragte ich ungehalten. „Was müssten Sie ihm denn erzählen?“
„Die Phantomschmerzen.“ Plötzlich wurde der Deutsche ganz ruhig. „Schmerzen, die ich bis jetzt in dem Bein spürte, das ich nicht mehr habe, diese Schmerzen habe ich plötzlich in Gliedern, die ich niemals besaß.“

Doktor Marx starrte mich entgeistert an. Wir waren weitergezogen, obwohl die Expeditionsmitglieder allesamt erschöpft waren. Hofmeister hatte die Atmosphäre vergiftet und der einzige, der wirklich dagegen ankämpfte, war der junge Krömsson.
„Er hat Schmerzen, wo er überhaupt keine Glieder hat?“
Ich nickte.
Wir schleppten uns die Berge hinauf. Nach den Worten des Deutschen war er noch niemals soweit gekommen, in Richtung der verwunschenen Stadt. Langsam begann ich mich zu fragen, ob es überhaupt jemanden gab, der den Weg dorthin schon soweit gegangen war. Die Landschaft jedenfalls machte den Eindruck, als hätte es hierher nie zuvor ein zivilisierter Fuß geschafft.
Der Arzt lachte und ich fühlte mich ihm verbunden.
„Allmählich verstehe ich, warum wir noch nicht am Ziel sind“, sagte er. „Erzählen Sie davon bloß nicht Krömsson, der erleidet einen Anfall, von dem er sich nie mehr erholen wird.“
„Heißt das, es ist Unsinn?“
„Natürlich.“
„Aber was bewegt ihn, mir so etwas zu erzählen? Er sah so…leidend aus.“
Er kramte ein schmutziges Tuch aus der Hosentasche hervor und wischte sich damit über die Stirn.
„Der Wissenschaft sind genügend Phänomene bekannt, die in Bezug auf amputierte Glieder auftreten. Die bekannten Phantomschmerzen sind dabei noch das normalste. Sie treten häufiger auf, als man annimmt. Wenn Sie wüssten, wie man diese Symptome behandelt, unter denen man ja wirklich leiden kann, würden Sie es nicht glauben. Man geht hier mit einfachen Spiegeln vor und hat damit vielfach Erfolg.“
„Aber das ist nicht das, was Hofmeister bewegt.“
„Nein, sicher nicht. Wenn Sie sagen, er hätte über Schmerzen in nicht weniger als vier Gliedern geklagt, die er noch nie hatte, dann hat das sicher nichts damit zu tun.“
Einen kurzen Moment bekamen wir den Gipfel ins Sichtfeld. Nebelverhangen schien er abweisend und geheimnisvoll. Irgendwo da oben sollte ein Plateau existieren, über das die N’gonk geherrscht hatten. Ich starrte hinauf bis mir die Augen tränten.
„Was können wir tun?“, fragte ich.
Der Arzt lachte, doch es klang wie ein Stöhnen. „Wir können nur hoffen, dass der Deutsche uns nicht in den Abgrund führt.“
„Aber was können wir für ihn tun? Es klang, als meine er es wirklich ernst.“
„Lassen Sie den Deutschen! Der hat sich bis jetzt aus jeder verzwickten Lage befreit. Ich habe Angst um uns, nicht um ihn.“

Der Aufstieg war ungleich schwerer, als der Marsch durch die Ebene. Zu der Steigung kamen die Hitze und die unglaubliche Luftfeuchtigkeit.
Niemand sprach ein Wort, es herrschte nur noch Verbissenheit. Hofmeister war von der Trage gestiegen und schleppte sich nun mit den Behelfskrücken bergan. Die Träger hätten es ohnehin nicht geschafft, ihn den Hang hinaufzuwuchten.
Und so hinkte er einsam und entschlossen voran und die Gruppe der Forscher und Träger wankte ihm hinterher, weniger aus Vertrauen in seine Fähigkeiten als mangels irgendwelcher Alternativen. Die Stimmung war trübe.
Zwei oder drei Male konnte ich einen Blick auf Hofmeisters Gesicht bekommen. Es war verzerrt vor Schmerzen, abgemagert und vollständig in sich gekehrt.
Irgendwann, ich hatte jegliches Gefühl für die Zeit verloren, gab Krömsson die Order, zu rasten. Und nachdem er sich mit Marx und Carter kurz beraten hatte, entschied er, die Zelte aufbauen zu lassen, damit wir – bevor wir zum letzten Tagesmarsch würden aufbrechen – ausgeruht und neuer Kräfte wären.
Hofmeister schien dagegen zu sein. Er gestikulierte wild, als er mit Krömsson diskutierte, und ich hatte den Eindruck, ihn nicht mehr zu erkennen, so sehr war er verwandelt.
Schließlich gab er kraftlos auf, fügte sich und half so gut es ging dabei, die Zelte aufzubauen.
Als wir beide uns bei den Arbeiten kurz begegneten, flüsterte er mir zu: „Wir werden unser Ziel nicht mehr erreichen! Wir werden alle sterben, noch bevor wir weiterziehen.“
Ich starrte ihn an und sah das erste Mal wirklich bewusst, wie tief seine Augen lagen. Sein Gesicht wirkte wie ein Totenschädel. Dann erinnerte ich mich daran, was Doktor Marx gesagt hatte und ich wandte mich ab von ihm.
Er stöhnte auf und ich meinte zu hören, wie er ausstieß: „Nicht Sie auch!“
Als wir das Lager errichtet hatten, legten wir uns nieder und zumindest ich fiel in einen albtraumgetränkten Schlaf. Ich glaube, niemand war zur Wache eingeteilt worden; nur Hofmeister schlich ruhelos zwischen den Zelten umher.

Ich wurde wach von einem viehischen Schrei. Marx saß auf seiner Pritsche neben mir und die Ölfunzel über seinem Kopf flackerte.
„Was war das?“ Mir stand der blanke Schweiß auf der Stirn.
Der Arzt zuckte mit den Schultern und stierte weiter vor sich hin.
„Das ist Ihr komischer Freund“, sagte er dann.
„Hofmeister? Aber was hat er? Man muss ihm helfen.“
„Vergessen Sie’s!“
Ich sprang auf und tastete mich durchs Halbdunkel ins Freie. Niemand war draußen zu sehen, das Feuer war erloschen und für einen Augenblick fürchtete ich, dass ich noch gar nicht erwacht und immer noch in einem Traum gefangen war.
Dann sah ich Hofmeister. Er saß auf der Erde vor seinem Zelt, die Krücken lagen wenigstens zehn Meter von ihm entfernt, ganz so, als hätte er sie fortgeschleudert.
Er sah auf zu mir. „Gehen Sie“, keuchte er. „Um Himmels Willen, gehen Sie fort von hier!“
Heute bin ich mir sicher, er meinte die gesamte Expedition und er meinte die Gegend, aus der wir verschwinden sollten.
„Geht es Ihnen gut, Hofmeister?“, krächzte ich. „Wir haben Sie schreien hören.“
„Es geht nicht um mich.“ Er starrte mich an, mir schien, er wusste selbst nicht recht, wo er sich befand. „Es geht um Sie!“
„Aber Sie sind genauso Mitglied dieser Expedition wie ich.“
„Nein, das bin ich nicht.“ Er erhob sich mit Stöhnen und setzte leise hinzu: „Ich bin es nie gewesen.“
„Das verstehe wer will, was soll das bedeuten?“
Aber er hatte sich schon umgewandt und humpelte stoisch davon.

Krömsson hatte zum Rat getrommelt. Offensichtlich hatte er die gedrückte Stimmung bemerkt und wollte jetzt, kurz vor dem erhofften Ziel der Expedition noch einmal für Motivation und gute Laune sorgen.
So hatten wir uns alle im größten Zelt versammelt, Carter war dabei, Doktor Marx schaute sorgenvoll, nur Hofmeister fehlte. Er war nirgends aufzutreiben.
Selbst ein Vertreter der Träger saß mit anderen am Tisch, den wir notdürftig aus einigen Kisten und schäbigen Decken gefertigt hatten.
„Wir müssen umkehren“, sagte ich und registrierte sofort die eisige Atmosphäre, die sich breit machte.
„Kommt gar nicht in Frage“, entgegnete Krömsson. „Warum sollten wir das tun?“
„Sie sehen es nicht, was. Sind Sie wirklich so blind?“ Ich sah mich um. „Es gibt eine Macht, die mit allen Mitteln verhindern will, dass wir die verwunschene Stadt erreichen. Wir sollten dort niemals ankommen. Und diese Macht ist tausendmal stärker als wir.“
Totenstille. Krömsson sog scharf die Luft ein. Er fixierte mich und ich sah, wie sein linkes Augenlid flatterte.
Mitten in die Stille hinein hörte man Hofmeister draußen wieder schreien. Es klang ganz so, als hätte er unfassbare Schmerzen.
Krömsson ignorierte das. „Sie also auch?“, sagte er. „Hat dieser deutsche Spinner Sie mit seinen Fantastereien angesteckt?“
„Aber sehen sie es denn nicht? Das ist doch…“
„Schweigen Sie!“ Krömsson sah nicht mehr aus wie ein junger Mann, zornig blickte er mich an und ließ keinen Widerspruch zu. „Wir werden abstimmen. Und das nur, um zu zeigen, dass ich Ihnen entgegenkomme.“
Hofmeister brüllte wieder draußen in der Nacht, doch dieses Mal hatte seine Stimme jeden menschlichen Zug verloren. Der Indio mir gegenüber wurde unruhig.
„Nun?“ Krömsson schaute in die Runde. „Wer ist dafür, dass wir umkehren?“
„Jemand muss hinausgehen und ihm helfen“, flüsterte Doktor Marx.
„Unterstehen Sie sich“, fauchte Krömsson. „Zuerst stimmen wir ab. Wer ist dafür, dass wir die Expedition abbrechen?“
Carter beugte sich zu dem Indio hinüber und übersetzte ihm leise. Er hatte noch nicht geendet, da schoss der Arm des Eingeborenen in die Höhe.
Ich hob ebenfalls die Hand, doch damit war es schon genug. Carter, Marx und Krömsson starrten uns an.
„Damit wäre das klar“, meinte Krömsson.
Ein Zischen war draußen zu vernehmen, so laut, dass sich die Quelle direkt an der Zeltwand befinden musste. Ein garstiges, feindliches Geräusch, tödlich.
Krömsson sprach weiter. Er redete lauter und wurde hektischer, um dieses Geräusch zu übertönen. „Wir werden uns erholen und morgen früh packen wir das Nötigste zusammen und machen uns an den letzten Teil des Aufstieges. Morgen Abend dann…“
Den Rest seiner Rede konnte man nicht mehr verstehen. Das Zischen wurde unerträglich laut, dazu hatte sich ein Wind erhoben, der sich zu einem Sturm auswuchs hatte und nun mit aller Macht an den Zeltwänden rüttelte.
„Was, zum Teufel, ist das?“, brüllte Marx durch den ohrenbetäubenden Lärm hindurch. Er war aufgesprungen und blickte sich panisch um. Auch Krömsson hat sich erhoben und wusste offensichtlich nicht, was vor sich ging.
Nur Carter saß noch ruhig an seinem Platz, und es schien mir sogar, als lächelte er. Er bildete den ruhigen Pol in dem sich aufbauenden Chaos.
Der Sturm wütete und schien das ganze Zelt abreißen zu wollen, der Indio und Doktor Marx schnatterten aufgeregt durcheinander und Krömsson bemühte sich, die Lage zu erfassen und unter Kontrolle zu bringen.
Plötzlich schlug der Eingang des Zeltes beiseite und es trat gespenstische Ruhe ein.
Hofmeister kam herein. Das heißt, er betrat es nicht auf herkömmliche Weise.
Er kroch herein.
Er lag auf dem Rücken, stützte sich mit seinen Armen und dem einen Bein ab und stakste so kopfüber auf uns zu. Er schaute von unten zu uns herauf und der Geifer, der aus seinen Mundwinkeln tropfte, lief ihm in die Augen.
Er war die Quelle dieses bösartigen Zischens; es schien aus seiner Brust zu kommen.
„Guter Gott, was ist das?“, stöhnte Doktor Marx.
Hofmeister, oder das Ding, das aus ihm geworden war, krabbelte langsam und bedrohlich auf uns zu. Dabei sah ich, dass er sich abstützte mit Gliedmaßen, die er nicht besaß!
Wo sein amputiertes Bein hätte sein sollen, da hielt es den Körper über dem Boden, als besäße er das Glied noch.
Und mit drei anderen nicht vorhandenen Gliedmaßen hielt er sich ebenfalls über der Erde, so dass er wie er auf uns zukrabbelte, einem giftigen Insekt glich.
„Eine Spinne!“, stieß Marx aus und starrte angewidert auf den Deutschen herab. „Er gebärdet sich wie eine verdammte Spinne.“
Hofmeister schaute Marx von unten an und ließ ein leises, fremdartiges Knurren hören.
Krömsson löste sich aus seiner Starre. „Hofmeister! Was sollen diese Albernheiten?“, fluchte er.
Der Deutsche achtete nicht auf ihn. Wie ein fettes Ungeziefer sprang er Marx plötzlich an, wohlgemerkt mit dem Rücken voran, denn das war das Widernatürliche daran – er bewegte sich verkehrt herum.
Marx war völlig überrascht von dem Angriff, ebenso wie wir anderen. So stürzte er mitsamt Hofmeister zu Boden. Der Arzt schrie und versuchte sich zu wehren, doch der Deutsche hatte es irgendwie fertiggebracht, seinen Kopf zu wenden und so biss er ihm jetzt in das Gesicht.
Marx brüllte vor Schmerzen, das Blut quoll unter Hofmeisters Kopf hervor, doch er ließ nicht mehr los.
Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass der Indio floh. Auch Carter war keine Hilfe, er saß bleich an seinem Platz und rührte sich nicht.
Endlich gelang es uns, den Deutschen von Marx fortzuziehen; er löste sich von seinem Opfer mit einem schrecklichen Knirschen. Der Arzt kippte zur Seite, Blut strömte heraus, wo vordem seine Nase gewesen war.
Als ich den Deutschen gepackt hatte, konnte ich deutlich spüren, dass da Gliedmaßen waren, die ich nicht sehen konnte. Und ich fühlte Haare daran...
Krömsson brüllte Hofmeister an. Doch dieser stürzte in bekannter Manier auf ihn und riss ihn ohne Mühe zu Boden. Ohne zu Zögern versuchte er auch ihm ins Gesicht zu beißen.
Hilfesuchend schaute ich mich um und sah, dass Carter eine Machete am Bund zu hängen hatte.
„Geben Sie mir das Messer!“, schrie ich ihn an, doch er reagierte nicht.
„Die verdammte Machete!“
Damit sprang ich zu ihm und riss sie ihm vom Gürtel.
Krömsson war es gelungen, den rasenden Hofmeister auf Abstand zu halten. Der grotesk verdrehte Kopf des Deutschen schwebte nur wenige Zentimeter über seinem Gesicht und schnappte blindwütig immer wieder zu.
Ich lief zu den Beiden und wollte Hofmeister einen Hieb verpassen. Doch der wandte plötzlich seinen Kopf zu mir und starrte mich mit seinen toten Augen von unten herauf an.
„Hofmeister“, keuchte ich. „Was ist in Sie gefahren?“
Für einen Moment herrschte gespenstische Stille. Er verharrte in seinen Bewegungen und ich hatte den Eindruck, er überlege. Doch dann zischelte er wieder und es hörte sich beinahe so an wie „Zu spät!“
Dann plötzlich – flink und beinahe ohne Bewegungen – ließ er vollständig von Krömsson ab und glitt davon, in eine Ecke des Zeltes.
Krömsson ging in die Knie, hielt sich die Kehle und röchelte.
Marx, der neben ihm lag, gab überhaupt kein Lebenszeichen von sich und Carter schien der völligen Katatonie verfallen.
Krömsson wollte etwas sagen, verschluckte sich und musste husten. Hofmeister saß in der äußersten Ecke und wartete ab.
„Das Ende“, krächzte Krömsson mühsam. Blut lief aus seinen Mundwinkeln. „Das ist das...“
Eine plötzliche Regung ließ mich herumschnellen, flink kam Hofmeister auf mich zugekrabbelt. Abwehrend hab ich die Machete und schlug blind zu.
Ich traf ihn an der Schulter, das Blatt trat tief ins Fleisch ein. Er stöhnte auf und bewegte sich umso hektischer.
Ich schlug noch einmal zu und noch einmal. Doch Hofmeister war nicht zu bändigen. Jeder Schlag schien ihn nur noch mehr zu reizen. Er zappelte wie aufgezogen, er fuchtelte mit den Gliedern, als sei er elektrifiziert.
Und dann zog er sich endlich zurück. Mit hektischen Bewegungen wuselte er davon, schneller als es seine Verletzungen hätten zulassen dürfen. Er stürzte aus dem Zelt hinaus in die Wildnis. Zurück ließ er eine Spur aus Blut.
Carter war erwacht und sagte in bleiernem Ton: „Der kommt nicht weit. Und was Sie nicht geschafft haben, erledigt der Dschungel.“
Ich sah mich um. Das Innere des Zeltes wirkte wie ein Schlachtfeld; Krömsson verletzt, Marx nicht weniger lädiert. Meine Kleidung war getränkt mit dem Blut Hofmeisters.
Carter stand langsam auf und nahm mir die Machete aus der Hand. Er drehte sich ohne ein Wort um und verließ das Zelt.
Krömsson krächzte hinter ihm her: „Wo wollen Sie hin?“
Da drehte sich der alte Mann um und schaute ihn fest an. „Ich packe die Sachen“, sagte er. „Und dann machen wir, dass wir diesen unheiligen Ort verlassen.“

Niemals hat einer der Expeditionsteilnehmer über die Art und Weise gesprochen, wie Hofmeister sich in dieser Nacht bewegte. Keiner verlor ein Wort über die seltsamen Laute, die er von sich gegeben hatte noch über die Gliedmaßen, auf die er sich stützte.
Wir verließen den Ort und seither hat niemand mehr versucht, den Weg in die verwunschene Stadt zu finden.
Hofmeisters Leiche wurde nicht entdeckt. Wenn ich ehrlich sein soll, hat auch niemand danach gesucht.
Ich kann nur hoffen, dass er wirklich gestorben ist; wenn nicht, hat er vielleicht seine Familie gefunden.

 

Hallo Hannibal,
klassisch, spannend, gerne gelesen. Warum erinnert sich der Erzähler gerde jetzt an die Geschichte, die so lange zurück liegt? Ich hatte erwartet, dass es da plötzlich etwas gäbe, was einen gruselig realen Bezug zum damaligen Geschehen herstellen würde. Der Schluß war mir ein wenig zu simpel, vielleicht, weil meine Nerven noch so vibrierten...
LG,
Jutta

 

Hallo Jutta!

Sorry, dass ich erst jetzt antworte, bin momentan internettechnisch sehr schwach aufgestellt. War noch niemals in einem Internetcafe, ist 'ne ganz neue Erfahrung für mich.

Danke dir für deine Kritik und die Mühe, da durchzukommen, ist schließlich etwas länger das Teil.

Ich glaube schon, dass ich an der Datierung etwas ändern muss, wie gesagt, war das eher aus der Not geboren, weil ich keinerlei neumodische Technik erwähnt hatte. Beim gesamten Schreiben (war übrigens reines Vergnügen, ich hatte niemals daran gedacht, dies hier zu veröffentlichen), war ich allerdings auch in einer Zeit, die schon lange zurückliegt.

Ich war bei Conrads "Herz der Finsternis" zum Beispiel. Na ja, vom Gefühl her zumindest.

Der Schluss war dir zu simpel? Inwiefern? Von der Schreibweise her oder vom Inhalt? Ich hatte allerdings niemals daran gedacht, das Geheimnis der N'gonk zu lüften. Wäre vielleicht Stoff für einen zweiten Teil.:D Na ja, wohl eher für einen dritten.

Danke dir also und
Schöne Grüße von meiner Seite!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball,

ich habe deine Geschichte gern gelesen und sie hat mich gut unterhalten, das schon mal vorweg. Das ist ein Stoff, aus dem Jack Arnold in den 50er Jahren einen Film gemacht hätte. Er huldigt eindeutig dem klassischen Muster und verzettelt sich nicht in irgendwelchen Wischiwaschi. Du ziehst den Stoff ziemlich straight durch, das ist ein großer Pluspunkt.

Dennoch habe ich an manchen Stellen das Gefühl gehabt, du könntest noch etwas mehr straffen und deine Worte noch etwas präziser wählen. Ein softes Lektorat könnte die Geschichte ganz sicher noch optimieren.

Ein paar (pingelige) Beispiele aus der Anfangssequenz, um zu verdeutlichen, was ich meine - mehr Zeit habe ich leider nicht.

Dein Satz: So kam es, dass wir die Detonation kaum hörten, obwohl Adrian Hofmeister nur vielleicht zwanzig Schritte vor der Gruppe ging.

Mein Vorschlag: So kam es, dass wir die Detonation kaum hörten, obwohl Adrian Hofmeister höchstens zwanzig Schritte vor der Gruppe ging.

Dein Satz: Seit er zur Expedition gestoßen war, hatte er sich abgesondert von uns, mal war er vorgelaufen, dass wir ihn kaum mehr sahen, dann wieder ließ er sich soweit zurückfallen, dass Krömsson sich genötigt sah, selbst nach dem Rechten zu schauen, weil er befürchten musste, Hofmeister sei etwas zugestoßen.

Mein Vorschlag: Von Anfang an hatte er sich von uns abgesondert, mal lief er meilenweit voraus, dann wieder ließ er sich soweit zurückfallen, dass Krömsson befürchtete, ihm sei etwas zugestoßen.

usw. usw.

Das sind nur Kleinigkeiten. Ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine.

Alles in allem bietet die Story wirklich gute Unterhaltung und ich finde auch, dass sie zu Recht empfohlen wurde.

Rick

 

Hi Rick!

Hat ein wenig länger gedauert, nichtsdestotrotz freut es mich, dass auch dir die Story gefallen hat.
Ich denke, dass sie funktioniert, ist wohl eine Mischung aus guter Laune (die ich beim Schreiben hatte) und eben dem einen guten Einfall, den ich vorher hatte und auf den ich zugeschrieben habe.
Aber wie gesagt, der Spaß am Schreiben, der macht sich bemerkbar, glaube ich.

Jack Arnold, das ist ein ziemlicher Vergleich. Ich glaube, von ihm selbst kam mal der Ausspruch, wenn er mit den heutigen technischen Möglichkeiten gefilmt hätte, wäre er wohl ebenso berühmt geworden wie heutzutage Steven Spielberg.
Ja, Arnold war schon cool. Und ich muss zugeben, dass die Story was von seinen Filmen hat. Gefällt mir der Gedanke.:D

Und natürlich ist die Story nicht fertig und ja, sie wird demnächst eine Überarbeitung bekommen.


Schönen Dank also, für die Mühe, das Kritisieren und das Lob

Schöne Grüße von meiner Seite!

 

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