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gefangen
Es war dunkel und so verdammt kalt. Ihre Finger und Zehen fühlten sich schon lange nicht mehr an als ob sie zu ihrem Körper gehören würden. Da war nur dieser beißende Schmerz. Wie lange mochte sie schon in diesem Loch gefangen sein? Das Gefühl für Zeit hatte sie verloren. Sie sehnte die Ohnmacht herbei, die sie seit langem in sich aufkommen spürte und hatte gleichzeitig Angst davor zu sterben, wenn sie tatsächlich das Bewusstsein verlieren würde. Martha versuchte ihre steifen Finger zu bewegen und krallte dabei ihre linke Hand in die gefrorene Erde. Ein dumpfes Stöhnen drängte sich aus ihrem Mund, ein Keuchen. Die Schmerzen waren furchtbar und die Geräusche, die Martha machte, konnte sie nicht mehr kontrollieren.
Bewegen, bewegen, setz dich anders hin. Auf die Knie, nein, oh meine Beine! Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
„Bitte...“, keuchte Martha, „Hilfe... bitte!“ flüsterte sie und schluchzte laut auf.
Frank wachte auf dem Sofa im Wohnzimmer auf. Die Digitaluhr des Videorekorders zeigte 4:56 Uhr. Martha war bestimmt schon im Bett. Er erinnerte sich daran, dass sie sich gestritten hatten. Natürlich war es wieder seine Schuld gewesen. Es tat ihm leid, doch das konnte er nicht zugeben, nicht ihr gegenüber. Das war schon immer sein Problem gewesen, aber so war er nun mal, dachte er. Er liebte Martha, weil sie ihn immer noch liebte. Er bewunderte sie dafür, dass sie immer noch mit ihm zusammen war. Ohne Martha wäre er schon längst völlig zugrunde gegangen. Er mochte sich nicht und hatte schreckliche Schuldgefühle, weil er die Frau, die alles für ihn tat, die sich die größte Mühe gab ihm das Leben lebenswerter zu machen, immer so verletzte. Es war ein Teufelskreis, weil er seine Schuldgefühle und seinen Hass auf sich selbst immer auf sie projizierte, an ihr ausließ. Frank griff nach der Flasche. Als er merkte, dass sie leer war brummte er mürrisch und drehte sich zum Weiterschlafen wieder um.
Sie musste tatsächlich ohnmächtig geworden sein. Martha kam wieder zu sich als sie die kalte Erde roch. Sie lag mit dem Gesicht auf dem Boden, die Arme seltsam verdreht. Ihre Beine spürte sie nicht mehr, an deren Stelle waren nur zwei schwere Klumpen. Es gelang ihr, kurz den Kopf zu heben. Wie lange hatte sie geschlafen?
Es war nicht mehr völlig dunkel. Geräusche klangen an ihr Ohr, halluzinierte sie? Sie konnte nicht erkennen welcher Art die Geräusche waren. Stimmen, Vogelgezwitscher, ein vorbeifahrendes Auto? Martha konzentrierte sich auf die Geräusche und bemerkte, dass diese ganz in der Nähe sein mussten. Sie versuchte um Hilfe zu rufen, doch nur ein heißeres Krächzen kroch aus ihrer Kehle. Sie erkannte das Geräusch. Es war nur ihr eigenes lautes Atmen gewesen, das sie gehört hatte und das sie hoffen ließ bald befreit zu werden. Sie schloss die Augen.
Noch ein weiteres unangenehmes Gefühl war dazugekommen. Martha musste mal ganz dringend. Doch sie war nicht in der Lage sich zu bewegen.
Um 9:28 wachte Frank wieder auf und torkelte zur Toilette. Sein Kopf brummte und er vermisste seine Frau. Im Badezimmer duschte er und putzte sich die Zähne. Er wollte wenigstens gut riechen, wenn er sich jetzt zu Martha ins Bett legen und sich an sie kuscheln würde. Vielleicht könnte er ihr sagen, dass es ihm leid tat und dass er sie liebe. Aber wahrscheinlich würde er das kleine Wort „Entschuldigung“ wieder nicht über die Lippen bringen. Es fiel ihm so schwer. Gut, dass Martha das nicht von ihm verlangte. Sie schien seine Gedanken lesen zu können. Sie wusste was er fühlte, auch ohne Worte.
Bestimmt hatte er längst vergessen, dass er sie in das Erdloch im Garten gesperrt hatte. Im Sommer, in seiner guten Zeit, hatten sie die Grube gemeinsam ausgehoben, um darin Kartoffeln und anderes Gemüse frisch zu halten.
Sie war ihm nicht böse, er konnte nichts dafür. Es war der Alkohol. Ja ja, viele sagen, dass der Alkohol keine Entschuldigung sei, aber die waren nie in einer Situation wie der ihren gewesen. Frank war ein wunderbarer Mensch, dann wenn er eine gute Zeit hatte. In den letzten Wochen war es aber nicht leicht für ihn gewesen. Er hatte seine Arbeit verloren und sich mit seinen besten Freunden verkracht. Martha war seit einiger Zeit in einer AlAnon Gruppe, eine Art Selbsthilfegruppe von Angehörigen und Freunden von Alkoholikern. Die Geschichten, die sie dort hörte, hätten alle von ihr stammen können. Dort fühlte sie sich verstanden. Keiner von den meist weiblichen Gruppenmitgliedern hatte ihr jemals gesagt, dass sie sich doch von ihrem Mann trennen sollte. Martha liebte ihn und sie wusste, dass er alles was er ihr antat und was er zu ihr sagte, um sie zu verletzen, nicht so meinte und dass er selber noch mehr darunter litt als sie.
Er öffnete die Tür zum Schlafzimmer und erstarrte. Das Bett war leer. Er ging zurück ins Wohnzimmer, dann in die Küche, nirgends war ein Zettel oder irgendetwas woraus er schließen konnte wohin sie gegangen war. Wahrscheinlich war sie nur zum Bäcker gegangen um frische Brötchen fürs Frühstück zu holen, beruhigte er sich, aber das ungute Gefühl ging dabei nicht weg. Er setzte Wasser für den Kaffee auf, holte die Butter aus dem Kühlschrank und stellte zwei Teller auf den Tisch. Dann machte er ein Feuer im Kamin. Es war ziemlich kalt im Esszimmer, über Nacht war die Tür zum Garten aufgeblieben. Frank holte die Zeitung ins Haus und setzte sich an den Tisch um auf Martha zu warten.
Es ist schon hell, bestimmt wird es bald wärmer und ich kann mich wieder bewegen, ich kann mich aufrichten und Frank um Hilfe rufen. Bestimmt wird er mich hören. Vielleicht schläft er noch. Wenn er aufwacht erinnert er sich vielleicht an das was heute Nacht passiert ist und befreit mich sofort. Bestimmt wird er das. Nur noch ein bisschen schlafen. Ich darf nicht sterben. Ich darf ihn nicht alleine lassen. Nur noch ein bisschen schlafen. Ich darf nicht sterben, darf nicht sterben. Nur noch schlafen. Nur noch... schlafen.