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Geister
Die Dielenbretter knarren, als sie den Dachboden betritt. „Jan, pass auf, dass die Luke nicht zufällt“, raunt sie ihrem Bruder über die Schulter zu. „Und sei leise!“
Er nickt und zieht sich das letzte Stück über die Kante. „Du, Mia?“
„Hmm?“ Sie zieht einen Karton zu sich und späht hinein.
„Warum riecht es in diesem Haus so komisch?“
„Was meinst du?“ Mias Finger spielen mit einem Seidenschal, sie schnuppert. Es erinnert sie an das Antiquariat, in dem sie während der letzten Sommerferien aushelfen durfte.
„Na überall müffelt es voll.“ Er vergräbt die Hände in den Taschen.
„Ah, der typische Alte-Leute-Geruch. Das ist wohl immer so.“ Schulterzuckend schließt sie den Karton und sieht sich um. Das spärliche Licht der Dachluken reicht kaum, um das Gerümpel zu beleuchten. Schatten aus allen Winkeln lassen den Raum noch unübersichtlicher erscheinen.
Plötzlich rumpelt es unter ihnen. Die Kinder zucken zusammen.
"Was war das?", fragt Jan.
"Ich weiß nicht ... vielleicht Mutter. Sie rückt sicher die Möbel herum. Du weißt doch, sie will gucken, was sie verkaufen kann."
Das Haus gehörte Mutters Großtante. Eine Jugendstil-Villa mitten in einem verwunschenen Fichtenwald. Sogar die Krähen vor dem Haus wirken verzaubert, als kämen sie direkt aus einem Märchen.
„Hey, guck mal!“ Sie weist zum anderen Ende des Raumes. Im Halbdunkel zeichnet sich eine Tür ab. Sie fiel ihr bloß auf, weil durch das Schlüsselloch Licht scheint.
„Ist da noch ein Raum?“ Jan blickt an ihr vorbei. „Man sieht hier gar nichts.“
„Ist bei dir ein Lichtschalter?“
„Nee … hier ist nichts.“
„Mist!“
Die dreckigen Deckenfenster sind die einzigen Lichtquellen. Auf Zehenspitzen reckt sie sich, um an eines heran zu kommen. Zieht an dem Riegel und gibt ihm einen Schubs mit den Fingerspitzen.
Der Wind trägt den Geruch nach feuchtem Waldboden und Fichten zu ihnen hinauf. Es wird heller und Konturen sichtbarer. Die Geschwister schleichen auf die Tür zu.
Jan schiebt seine Hand in Mias und krallt sich fest. „Gibts da drin Geister?“
Mia grinst. „Klar. Hier spukt´s bestimmt überall.“
Doch auch sie zieht ihren Kopf zwischen die Schultern. Es ist so finster. Ihre Augen hängen an dem Schlüsselloch. Mias Grinsen verblasst. Das Loch wird einen Wimpernschlag lang dunkel. Hat sich da was bewegt? Hat Jan mit den Geistern am Ende recht? Es zieht sie zu der Tür. Sie muss wissen, was dahinter ist. Die Härchen an ihren Unterarmen stellen sich auf und die Hände werden feucht.
„Ein ganz normaler Raum“, flüstert sie sich selber zu.
Da! Wieder huscht ein Schatten auf der anderen Seite vorbei. Sie erstarrt. Sekunden vergehen, bis sie sich einen Ruck gibt und durch die winzige Öffnung späht. Das Erste, was sie sieht, ist Stoff. Weiße Tücher, locker über Möbel gehängt. Direkt vor der Tür steht etwas großes, Glänzendes. Das Tuch, das ihn verhüllen sollte, ist zur Hälfte hinabgerutscht und gibt den Blick auf florale Ornamente frei.
Ein Spiegel. Mindestens so groß wie sie selbst. Mit kunstvoll verziertem Rahmen. Blinde Flecken überziehen die Oberfläche wie ein Ausschlag. Sie sieht die Tür verzerrt in der Glasfläche. Mia bewegt den Kopf, die Reflexion verschwimmt und verändert sich leicht. Wie in einem Spiegelkabinett.
„Was siehst du? Lass mich mal!“ Jan zupft an ihrem Ärmel.
„Nur ein paar Möbel. Hier. Guck du.“
Der Junge klammert sich an seiner Schwester fest, als er hindurch sieht. „Der Spiegel ist voll cool. Weißt du, woran er mich erinnert?“
„Der Zauberspiegel aus Schneewittchen?“
„Nee. Dieser Spiegel, der einem immer zeigt, was man sich am allermeisten wünscht.“
„Ach der. Na, du kannst ja mal schauen, ob du den Stein der Weisen in der Tasche hast.“ Sie kichert und knufft ihn in die Seite.
„Haha! Witzig. Aber komisch sieht der schon aus, oder? Der ist sicher ver... Hey!“ Er springt einen guten Meter zurück und poltert über einen Koffer. Im letzten Moment fängt Mia ihn auf. Seine Augen sind starr auf die Tür gerichtet.
„Was war los?“ Sie hockt sich nieder und streichelt seine Arme.
Mit bebender Unterlippe schmiegt er sich an sie. „Ich weiß nicht. Da war was. Im Spiegel. Da hat sich was bewegt.“
„Was denn?“
Bevor er antworten kann, erscheint Mutter in der Öffnung. „Was macht ihr hier?“ Sogar aus dieser Entfernung kann Mia die Zornesfalten auf ihrer Stirn sehen.
„Äh, wir wollten uns hier nur mal umsehen."
„Ihr spinnt wohl! Das ist ein sehr altes Haus. Ihr hättet durch den Boden brechen können.“
„Aber Mutter. Guck mal. Hier ist noch ein Raum. Ist aber abgeschlossen.“
„Und verzaubert ist der auch. Ich hab nen Geist gesehen.“
"Verzaubert? Oh Mann, ihr habt ja eine blühende Fantasie.“
„Es stimmt!“, beharrt Mia. „Ich hab auch was gesehen.“
„Sicher ein verirrtes Tier.“ Mutter schüttelt den Kopf. „Kommt. Es wird bald dunkel. Zeit zum Abendessen.“
Das Mädchen zeigt auf die Tür. „Aber der Schlüssel ...“
„Den suchen wir morgen. Es reicht jetzt. Kommt!“ Die Geschwister wissen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist und folgen mit gesenkten Köpfen.
Mia spürt die Tür hinter sich. Sie wird das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Hinter sich hört sie ein Kratzen und fährt herum. Doch da ist nichts. Jan und Mutter sind weitergegangen. Haben die gar nichts bemerkt?
Mia stößt an einen kleinen Bücherkarton. Randvoll mit Märchenbüchern.
„Darf ich die mit runter nehmen?“
Nach einem Seitenblick nickt Mutter und hilft Jan die Treppe hinunter.
Am nächsten Morgen sitzen die drei um den alten Eichentisch in der Küche. Mia hält sich an einer dampfenden Tasse Kakao fest und starrt durch das meterhohe Fenster zum Wald. Die Morgensonne hat die regennassen Erde erwärmt und lässt Dunst aufsteigen, der über dem Boden hängt. Hin und wieder steigen Krähen aus dem Nebel auf und drehen schimpfend ihre Runden.
Jan sieht genauso müde aus wie sie. Die halbe Nacht haben sie über den Raum und den Spiegel geredet und die Bücher gewälzt. Die restliche Nacht war unruhig. Voller wilder Träume, in denen der Spiegel ihr Dinge ins Ohr flüsterte. Furchtbare Dinge.
„Was ist los mit euch beiden?“ Mutter beäugt sie misstrauisch und nippt an ihrem Kaffee.
„Müde“, murmelt Mia.
„Das Haus hat die ganze Zeit Geräusche gemacht. Das war furchtbar!“ Jan reibt sich die Augen.
„Das waren die Geister aus dem Spiegel.“ Mia grinst und wird sofort von Mutter mit einem strengen Blick getadelt.
„Lass den Blödsinn, Mia! Jan, mein Liebling. Das Haus ist alt. Da knarrt eben das Gebälk. Vor allem bei Wind.“ Sie streicht ihrem Sohn über den Kopf und zeigt auf die Bücherkiste neben Mia. „Hast du etwas Interessantes gefunden?“
„Hmm. Hauptsächlich Bücher mit Legenden über die Gegend hier. Sag mal. War deine Tante `n Nazi oder so?“
„Mia! Wie sprichst du bitte über meine Großtante? Aber du hast nicht ganz unrecht. Ihr Vater war ein hoher Offizier bei der NSDAP. Warum?“
Mia holt ein kleines schlichtes Messingkästchen und ein Buch heraus. Beides mit einem Seidenband zusammengebunden. Sie löst die Schleife und hält es ihrer Mutter geöffnet hin. Mit spitzen Fingern nimmt sie einen der Orden heraus und betrachtet ihn eingehend.
Schulterzuckend legt sie ihn zurück. „So etwas wirst du in den meisten alten Haushalten finden.“
„Auch so was?“ Mia platziert das Buch vor Mutter auf den Tisch und tippt drauf.
„Oh!“ Sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr. Berührt den blauen Einband, fährt über den goldenen Prägestempel und die altdeutsche Schrift. Nimmt es in die Hand und blättert darin. Ihr Mund verzieht sich, als hätte sie ein Insekt verschluckt.
„Ich dachte, das ist verboten?“
Mutter schüttelt geistesabwesend den Kopf. „Hmm, nein. Das stimmt nicht so ganz.“
„Was is´n das für ein Buch?“ Jan grapscht danach, doch Mutter entzieht es ihm und legt es weg.
„Das erkläre ich dir später mal“, winkt sie ab und widmet sich ihrem Kaffee, als wäre es das Normalste der Welt, solche Bücher zu finden.
Mia schließt die Augen, sammelt ihren ganzen Mut zusammen und fragt: „Können wir auf den Dachboden gehen? Da sind sicher ein paar Dinge, die du verkaufen kannst.“ Dann fällt ihr noch ein: „Du, ich glaub, der Spiegel ist ziemlich wertvoll.“
Mutter wiegt den Kopf hin und her.
„Also gut. Ihr gebt ja doch keine Ruhe", sagt sie widerstrebend und lässt sich nach dem Frühstück hinauf ziehen.
Zu dritt stehen sie vor der Tür. Mutter nestelt an dem riesigen Schlüsselbund, bis sie den Richtigen findet. Sie schließt auf und gibt ihr einen Stoß.
„Pass auf! Wenn der Spiegel zerbricht, haben wir sieben Jahre Pech!“
„Erzähl keinen Unsinn! Sonst träumt dein Bruder schlecht.“
Mia beißt sich auf die Unterlippe, bleibt auf der Türschwelle stehen und betrachtet das Rauminnere. Mutter ist schon dabei, die Tücher von den Gegenständen zu ziehen. Familiengemälde mit vergoldeten Rahmen kommen zum Vorschein.
Unter einem großem Tuch verbergen sich drei Überseekoffer aus Leder, die sogar Jan überragen. Er hat von einem die Verschlüsse geöffnet und zieht ein hellblaues Kinderjäckchen heraus.
„Wer die Leute auf den Bildern sind?“, murmelt er.
Mia nimmt ihn kaum wahr. Sie steht vor dem Spiegel. Von Angesicht zu Angesicht steht sie dem Monstrum gegenüber. Starrt ihm direkt in die Augen. Ganz so gruselig wie gestern Abend, durch ein Schlüsselloch betrachtet, wirkt er nicht mehr. Dennoch geht von ihm etwas Düsteres aus. Ihr Bild verzerrt sich bei jeder Bewegung.
Sie fährt den mit bunten Blüten verzierten Rahmen entlang. Umrundet ihn und besieht sich die mit braunem Packpapier verkleidete Rückseite. Sie stutzt. An einer Ecke steht das Papier ab und etwas Weißes blitzt hervor. Behutsam löst Mia die Verkleidung, bis ein Päckchen aus zusammengeschnürten Papieren zu Boden fällt. Sie bückt sich danach und blättert es durch. Ein Name taucht immer wieder auf: Goldenthal.
„Was hast du da?“, fragt Mutter
„Weiß nicht genau. Das war im Spiegel.“ Sie reicht ihr die Blätter und beobachtet ihre gerunzelte Stirn. Mutters Blicke wandern von den Papieren zu den Sachen im Raum. Zu den Bildern, Möbeln und den Koffern.
Auf den Boden sinkend, zieht sie die Kinder auf ihren Schoß und drückt sie an sich. Mia verkrampft sich unter der Geste.
„Wisst ihr “, seufzt sie. „Damals während des Zweiten Weltkrieges passierten schlimme Dinge. Viele Juden wurden enteignet und die Sachen gingen an hochrangige Mitglieder der Partei. Ich denke, hier ist das auch passiert.“ Sie wedelt mit den Blättern. „Das sind Besitzurkunden und Wertpapiere.“
Mia ballt die Fäuste. „Aber die Sachen wurden den Leuten doch später wiedergegeben, oder? Warum denn die nicht?“
„Mia ...“, beginnt Mutter, stockt dann und schweigt.
Irgendwann hält das Mädchen es nicht mehr aus. „Sie sind tot, oder? Deportiert oder so was?“, flüstert sie und betrachtet das blaue Jäckchen, das Jan noch immer in der Hand hält. Letztlich waren also doch Geister im Spiegel.
„Kommt, wir reden bei einem Kakao über alles.“ Mutter drückt die beiden noch mal und zieht sie aus dem Raum.