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Gekämpft, gesiegt und doch verloren
Gekämpft, gesiegt und doch verloren
Ich bin auf dem Weg zur Schule. Dieselben Menschen zu sehen, wie jeden Tag beruhigt mich. Es verleiht diesem Tag etwas Normales. Es nimmt mir die Aufregung. Heute wird es sich entscheiden. Wenn ich den Mathetest bestehe, werde ich versetzt. Die letzten Tage habe ich damit verbracht mit meiner Mutter die Aufgaben zu üben. Aber wird es reichen?
Für sie muss ich es einfach schaffen. Ich kann an nichts anderes denken. Sie hat sich so viel Mühe gegeben und ich darf sie nicht enttäuschen. Müsste ich die Klasse wiederholen, würde das nichts an ihrer Liebe zu mir ändern, aber ich weiß, sie wäre stolz auf mich. Das würde sie aufmuntern. Durch die Chemotherapie hatte sie sehr viel Kraft verloren. Sie hat sehr viel geschlafen und hatte kaum Kraft aufzustehen. Da mein Vater sich zu der Zeit noch mehr in seine Arbeit stürzte, um sich von dem Leid abzulenken, war sie auf mich angewiesen. Ich machte ihr das Essen und kümmerte mich ums Haus. Ohne sie konnte ich mir mein Leben nicht vorstellen. Ich hatte Angst sie zu verlieren und mir wurde erst in dieser Zeit richtig bewusst, wie sehr ich sie brauche und wie schnell das Leben zu Ende sein kann.
Vor einigen Monaten dann, als sie von dem Arztbesuch nach Hause kam, war alles anders. Sie hatte den Brustkrebs besiegt.
Ich werde mich nie wieder schämen, wenn sie mich von der Schule abholt und mir über die Straße zuruft, damit ich sie sehe. Heute bin ich glücklich, wenn sie dies tut, und ich winke ihr zu. Sie ist zu meiner besten Freundin geworden.
Endlich geschafft. Ich habe alle Aufgaben gewusst. Obwohl ich ein sehr gutes Gefühl habe, gehe ich die Aufgaben noch einmal durch. Ich habe noch etwas Zeit. Ich bin aufgeregt und kann es nicht erwarten meiner Mutter davon zu erzählen.
Endlich läutet es. Ich packe meine Schulsachen zusammen, während die Lehrerin die Arbeiten einsammelt. Dann renne ich aus dem Flur hinaus auf den Schulhof. Gerade durch die Tür nach draußen gerannt kann ich sie schon sehen. Auf der anderen Straßenseite steht sie. Ihr kurzes Haar mit einer Spange nach hinten gesteckt. Sie winkt mir zu und lächelt, als sie meinen nach oben gestreckten Daumen sieht. Ihre Beine sind von dem Auto verdeckt, aber ihren Oberkörper kann ich sehen, als sie beide Arme in die Luft streckt, als würde sie jubeln. Sie hat den ganzen Morgen die Daumen gedrückt und mit mir gelitten. Ich kann es in ihrem Gesicht sehen.
Auch wenn sie nicht da gewesen ist, habe ich die ganze Zeit ihre Anwesenheit gespürt. Sie hat mir Mut und Kraft gegeben.
Ich renne die Treppe hinunter und der Rucksack in meiner Hand fliegt mir nach. Jetzt kann ich die Freude in ihrem Gesicht erkennen.
Die vielen Autos lassen mich nicht sofort über die Straße kommen. Also sehen wir uns zwischen den Fahrzeugen hindurch an.
Doch dann höre ich einenlauten Knall und sie ist plötzlich verschwunden. Sekunden später sehe ich ihr Auto vor einem Straßenschild. Da hat es gerade noch nicht gestanden. Aber das Heck ist völlig zerdrückt.
Aus dem LKW der vor meinem Gesicht hielt, steigt ein Mann. Er ist weiß im Gesicht und sieht verängstigt aus. Was war gerade passiert?
Ich stehe wie angewurzelt da. Kann nicht glauben was ich sehe. Auf der Straße vor dem LKW erkenne ich den Schuh meiner Mutter. Ein Fetzen ihres Kleides am Kühlergrill. Die Haarspange, die jetzt von der Motorhaube rutscht, als würde sie von meinem Blick erschüttert.
Langsam gehe ich über die Straße auf die Menschenmenge zu, die sich um irgendetwas angesammelt hatte. Mit Mühe komme ich durch die Masse in die Mitte des Kreises. Und dort liegt sie.
Ihr blondes Haar verwühlt und an einer Seite rot verfärbt. Unter ihren Nasenlöchern sind, wie aufgemalt, zwei rote Striche, die über ihre Wangen hinunter laufen. Der blutrote Teppich unter ihrem Kopf wird größer. Ich sehe sie ungläubig an. Ihre Augen sind offen, doch es ist kein Blick darin. Die Freude aus ihren Augen war in derselben Sekunde weggewischt worden, wie aus meinen. Das Lächeln wurde aus ihrem Gesicht gerissen, genauso wie das Leben aus ihrem Körper.
Als ich aufsehe bemerke ich, dass die Welt plötzlich ganz still ist. Keine Motorgeräusche, keine Kinderstimmen vom Schulhof sind zu hören. Niemand von all den Menschen, die wie versteinert da stehen, gibt ein Wort von sich. Es ist, als würden selbst die Vögel sich weigern zu singen.
Doch dann, als hätte mich jemand geweckt, höre ich die Sirenen der Krankenwagen näher kommen. Aber es war zu spät, auf einen Arzt brauche ich nicht warten. Nur auf einen Engel.
Für mich ist klar, mit meiner Mutter starb heute auch ein großer Teil von mir.
Sie hatte gegen den Krebs gesiegt und doch gegen den Tod verloren.