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Gelber Papierdrachen

Monster-WG
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07.01.2018
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Gelber Papierdrachen

I. Lange Naht
Die Mine ist wieder abgebrochen, und ich lasse den Bleistift fallen. Die Seite meiner Hand schimmert silbern vom Grafit, Spuren von Buchstaben, die ich mit dem Handrücken verwische, seit ich das letzte Fitzelchen des Radiergummis aufgebraucht habe. Als ich sie strecke, schmerzen meine Finger. Ich blicke auf die Uhr – kurz vor neun.
Barfuß laufe ich zur Tür, klopfe gegen das Holz.
»Mo? Bist du da?«
Stille.
Ich schließe die Augen. Weiße Blitze zucken in der Dunkelheit. Ich kehre zum Schreibtisch zurück und mustere das Papier, die winzigen schwarzen Buchstaben.
Langsam kann ich sie kaum noch lesen. Die Reste von Tageslicht, die durch die Fensterritzen fallen, reichen nicht aus, um weiterzuschreiben. Wieder blicke ich auf die Uhr. Der Sekundenzeiger kriecht im Kreis. Immer, wenn er auf der Zwölf landet, hält er kurz inne. Wie eine Bahnhofsuhr – sagt Mo. Um sieben wird die Zeitschaltung klicken, die Lampe einschalten. Noch mehr als zehn Stunden.
Ich lasse mich auf den Stuhl sinken. An der Tischplatte ist der Anspitzer festgeschraubt, eine Maschine mit Kurbel, mein treuster Freund. Ich stecke den abgebrochenen Bleistift in den Spitzer. Nach ein paar Umdrehungen ist die Mine wieder pieksig. Vor einigen Jahren habe ich einen frisch angespitzten Bleistift an meiner Handfläche getestet: Man sieht immer noch Spuren von Grafit unter der Haut.
Das Klicken des Schlüssels im Türschloss lässt mich zusammenfahren.
Mo erscheint in der Tür, lächelt. Er trägt ein Tablett.
»Hallo, meine Blume«, sagt er. »Tut mir leid, dass es so spät geworden ist.«
Ich erhebe mich, stelle mich zwischen ihn und den Schreibtisch. »Hallo, Mo.«
Er blickt an mir vorbei auf die Zettel, auf den dicken Bleistiftstrich. Ich lecke die Mine beim Schreiben immer an. Mo sagt, das bringe nichts; ich finde, der Strich wird dadurch dunkler, grimmiger. An einer Stelle habe ich so fest aufgedrückt, dass ich ein Loch ins Papier gerissen habe.
»Was schreibst du?«, fragt er.
»Ich schreibe über eine Frau«, sage ich. »Lena.«
»Kein besonders einfallsreicher Name.«
Zittrig hole ich Luft. »Lena wünscht sich, beim Aufwachen jemandem zuzulächeln. Sie steht aber nur auf, geht zur Arbeit, sitzt rum. Neben ihrer Tür wartet eine gepackte Reisetasche.«
Er seufzt. »Du kannst dir den Namen doch aussuchen.«
»Ich schreibe nur, was wahr ist.«
Er lacht, stützt das Tablett auf der Hüfte ab, streicht mit der freigewordenen Hand über mein Haar, zieht daran. »Das ist süß«, sagt er. »Aber nerv mich nicht damit.«
Wir setzen uns an den kleinen Esstisch vor dem Fenster. Licht fällt durch die Ritzen zwischen den Brettern, die Mo davor genagelt hat, zeichnet Streifen auf den kalten Boden. Ich stelle mir oft vor, was dahinter sein mag: ein blühender Garten, eine Asphaltwüste, das Paradies, die Sahara. Eine von Trockenheit braungefleckte Wiese und am Himmel ein gelber Punkt, ein Drachen, zart und frei.
»Hast du ein Gedicht für mich?«, fragt Mo.
»Was willst du hören?«
»Such du aus.«
»Okay«, sage ich.

»Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid,
Seine Naht ist lang wie die Ewigkeit.
Streicht die Sehnsucht um das Haus,
Trocknen die plaudernden Brunnen aus;
Die Tage kommen wie Tiere daher,
Du rufst ihren Namen, sie atmen nur schwer;
Du suchst dich im Spiegel, der Spiegel ist leer,
Hörst nur der Sehnsucht Schritt,
Du selbst bist nicht mehr.

Dauthendey«, sage ich.
»Schön«, sagt Mo.
Wir essen. Spagetti in Öl und Knoblauch.
»Du bist so still in letzter Zeit«, sagt er.
Ich fahre mit dem Finger über meinen Teller, lecke das Öl auf. »Bringst du wieder Kerzen mit?«
»Kann ich machen.« Er wischt sich über den Mund. »Ich muss in einer halben Stunde gehen. Komm ins Bett.«
Wir legen uns hin. Ich schließe die Augen, drücke die Finger in Mos Schultern, in die weichen Stellen zwischen den Knochen.

II. Seide
Als Lena zu schwitzen beginnt, entfaltet sich der Geruch ihres Parfüms. Süß, widerlich. Vorhin fand sie das Fläschchen in einer Schublade, eingeklemmt zwischen vielgetragenen Schweißbändern und gerissenen Schnürsenkeln. Sie ertastete das filigrane Glas und zog es heraus, zögerte, bevor sie einen Tropfen aufs Handgelenk spritzte.
Nun hält sie die Handtasche auf ihrem Schoß umklammert und schwitzt, atmet flach, um das Parfüm nicht riechen zu müssen. Sie studiert die Speisekarte. Zumindest schlägt sie sie auf und blickt hinein. Doch die Zeichen auf dem blassgelben Papier ergeben keinen Sinn.
Als er an ihren Tisch tritt, reißt sie den Kopf hoch, Elektroschocks jagen von ihren Fingerspitzen hinauf in die Ellenbogen.
»Möchten Sie schon etwas trinken?«, fragt er.
Ihre Blicke begegnen sich. Sein Lächeln entblößt weiße Zähne – Raubtierzähne.
»Hi«, sagt sie.
»Hi.« Er blinzelt. »Ach, so ein Zufall.«
»Na ja.«
»Wie geht es dir?«, fragt er.
»Ich nehme ein Wasser. Und ein Eis.« Um ihr Gemüt zu kühlen, die wirbelnden Gedanken unter Kontrolle zu bekommen. Im Restaurant ist es viel zu heiß, die Luft schwer vom Geruch nach Kerzenwachs.
»Was für ein Eis?«, fragt er.
»Egal«, sagt sie, stellt die Speisekarte zurück in den Kartenhalter.
»Okay.« Er macht sich eine Notiz. Dann lässt er sie allein mit dem Kribbeln in den Fingerspitzen.
Sie sitzt auf der Kante des Stuhls, ihr Blick fährt durch den Raum. Das goldene Kerzenlicht erhellt die Gesichter der anderen Restaurantgäste, Menschen beim Abendessen: Pärchen, Familien. Sie ist die einzige, die allein an einem Tisch sitzt. Nebenan lacht eine Frau, beugt sich vor, während ihr Begleiter mit leiser Stimme spricht und die Hände mit Nachdruck im Rhythmus der Wörter bewegt.
An jenem Abend vor acht Monaten gestikulierte Lenas Begleiter auf die gleiche Weise, Raubtierlächeln hinter hochgezogenen Lippen. Ob ihre Augen ebenso leuchteten, bevor er über den Tisch griff, an dem roten Seidenschal zupfte?
Nach einer Weile kehrt er zurück, stellt ein Glas Wasser mit einer Zitronenscheibe auf den Tisch.
»Danke«, sagt sie, hält ihn mit ihren Blicken fest. »Mo.« Sie rollt die Silbe auf der Zunge wie damals. Mit dem Geschmack von Rotwein im Mund fühlte er sich magischer an.
»Bitte, Lena.« Er stößt ein kurzes Lachen aus. »Noch so ein Zufall.«
»Was?«, fragt sie.
»Sorry, aber ich muss noch …« Er deutete vage hinter sich.
»Schade.«
Er verschwindet hinter der Bar, durchquert eine Schwingtür und ist nicht mehr zu sehen.
Ihre Kehle ist so trocken, dass sie das Glas in einem Zug halb austrinkt. Das Wasser schmeckt fantastisch, aufregend.
Am Nachbartisch lacht die Frau. Ihr Begleiter beugt sich über den Tisch, legt eine Hand auf die ihre. Den Seidenschal warf sie einen Tag später in den Altkleidercontainer. Ein Erbstück, rot und leicht. Für immer beschwert.
Als er zurückkehrt und einen Eisbecher mit Früchten serviert, sagt er: »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen.«
»Man sieht sich immer zweimal im Leben.« Sie greift nach dem Löffel, sticht ins Eis. Das Metall ist kalt.
»Das sagt man so.« Er beugt sich zu ihr, lehnt sich an den Tisch. Sie spürt immer noch die Hitze seiner Haut. »Ich habe um eins Feierabend«, sagt er.
»Cool.« Ihre Stimme ist zu leise. Wenn sie sich nicht konzentrierte, würde sie hyperventilieren.
Er hört sie trotzdem. »Guten Appetit!«, sagt er, richtet sich auf.
»Danke.« Sie sticht den Löffel ins Eis, blickt ihm nach. Er lächelt, während er den Nebentisch abräumt, von dem die Frau mit den leuchtenden Augen aufgestanden und mit ihrem Begleiter in der Nacht verschwunden ist.

III. Kerzenlicht
Meine Augen tränen. Die einzige Lichtquelle im Zimmer ist die Kerze auf dem Schreibtisch, möglichst dicht ans Papier gerückt. Die Hitze brennt auf meinem Gesicht.
Ich nehme mir einen Augenblick, erlaube mir, den Bleistift abzusetzen, den Rücken durchzustrecken. Ich stehe auf, wandere ins Badezimmer, klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht.
Mo hat Sandwiches dagelassen. Sie stehen unangerührt an der Kante des Schreibtisches. Ich ziehe die Folie ab, esse eines. Es schmeckt nach nichts, trocknet meinen Mund aus, trotzdem verschlinge ich es.
Ich räume die vollgeschriebenen Blätter vom Tisch in Mos Reisetasche. Zu den anderen Zetteln, Jahren von Notizen. Zu den Kleidungsstücken, sorgfältig aufgerollt. Zu meiner Zahnbürste und Haarbürste.
Ich stehe auf, stelle die Tasche neben die Tür, ehe ich mich wieder an den Schreibtisch setze, mich über das Blatt beuge und den Bleistift zur Hand nehme. Ich lecke die Mine an.

IV. Gelb
Lena steht auf dem Bürgersteig, Nachtwind in den Haaren. In ihrem Magen rumort das Eis. Sie reibt sich mit kreisenden Bewegungen über den Bauch, kann das Gefühl nicht vertreiben. Die Straße ist leergefegt, dunkel und einsam.
Mo erscheint aus einer Seitengasse. Er schiebt ein Fahrrad. »Hey«, sagt er. »Schön, dass du gewartet hast. Gehen wir zu dir?«
»Nein.« Sie beißt die Zähne aufeinander, bevor sie einen Schritt in seine Richtung macht. »Dieses Mal gehen wir zu dir.«
Seine Lippen kräuseln sich. »Das geht nicht.«
Sie macht einen weiteren Schritt, steht so nah vor ihm, dass sie die Wärme seines Körpers spürt. Er ist einer der wenigen Menschen, die größer sind als sie. »Das geht.«
Er lacht, weicht nicht zurück. »Was soll das? War doch gut letztes Mal. Bei dir.«
Sie greift in die Handtasche und schließt die Finger um den glatten Griff der Waffe, presst ihm den Lauf gegen die Rippen. Seine Augen weiten sich.
»Zu dir«, sagt sie.
»Was …?«
»Sei still! Ich will deine Stimme nicht hören. Geh los! Und mach keinen Scheiß!« Sie atmet ein, die Nachtluft brennt in ihren Lungen. »Sonst töte ich dich sofort.«
Er setzt sich in Bewegung. Sie bleibt so dicht hinter ihm, dass sie mit dem Körper die Waffe abschirmen kann.
Schmerz wallt durch ihren Körper. Die Knochen ächzen bei jeder Bewegung, die Muskeln protestieren gegen jeden Schritt. Die Oberschenkel sind wund, auf der Zunge schmeckt sie Blut. Wie an dem Morgen, an dem sie ohne ihn aufgewachte. Ohne die Naivität, die Unschuld, die Jugend. Die Seide um den Bettpfosten geknotet.
Sie muss kämpfen, um nicht zu weinen, sich auf den Bürgersteig zu legen und die Augen zu schließen. Das wäre einfach. Sie muss kämpfen, um den Kopf oben zu behalten, die Waffe festzuhalten. Immer den nächsten Schritt tun.
Der Weg ist endlos. Das Haus, zu dem Mo endlich das Fahrrad hinaufschiebt, steht einsam in einem verwilderten Garten, die Fenster dunkel, einige vernagelt. Die Dachziegel von Moos bewachsen, der Gartenweg rissig.
Mo lehnt sein Fahrrad neben die Haustür, kramt die Schlüssel hervor. Sie zittert, beobachtet jede seiner Bewegungen. Inzwischen schwitzt sie aus allen Poren und hofft, dass er den Glanz auf ihrem Gesicht nicht sähe.
Im Haus ist es kühl. Hinter dem engen, vollgestellten Flur ist die Küche, schmutziges Geschirr stapelt sich in der Spüle. Mo steht mit hängenden Schultern auf den ockerfarbenen Fliesen, blickt in den Lauf der Pistole.
»Was willst du? «, fragt er.
Sie stellt sich breitbeinig hin und spannt den Finger am Abzug, die Waffe auf seinen Schädel gerichtet. Ruhig atmen. Ruhig atmen, zielen, atmen. »Es dir heimzahlen«, sagt sie. »Hast du auch Angst?«
»Warte.« Er hebt die Hände. »Das kannst du nicht machen. Es gibt jemanden, um den ich mich kümmern muss.«
»Sei still.« Sogar ihre Finger sind nass vom Schweiß, glitschig am Abzug.
Er macht einen Schritt zur Seite, wendet sich dann ab. Dreht den Kopf weg und stürmt durch eine Tür zu seiner Linken.
»Hey!« Hitze schlägt über ihr zusammen wie eine Welle. Sie drückt ab, das Krachen erschüttert ihr Trommelfell, der Türrahmen splittert. »Hey!« Sie rennt durch die Tür in die Dunkelheit, schlägt in dem engen Flur mit dem Ellenbogen gegen eine Wand und stürzt beinahe. Am Ende des Flurs dringt goldenes Licht unter einer Tür hindurch.
»Huang!« Sie hört Mos Schluchzen, hört das Geräusch eines Schlüssels in einem Türschloss. »Huang, pass auf!«
Sie drückt noch einmal ab, der Schuss hallt durch den Flur, und Mo schreit auf, angenehm schrill in ihren Ohren. Sie stürmt ihm nach, die Tür wird geöffnet. Sie sieht eine Silhouette vor dem Kerzenlicht, die Waffe bebt in ihrer Hand, doch sie verfehlt ihn wieder.
Sie taumelt durch die Tür in das Zimmer, spärlich eingerichtet – Bett, Schrank, Schreibtisch, Regal, Mikrowelle – das Fenster vernagelt, eine Frau, die von einem Schreibtisch aufgesprungen ist. Ihr Haar gelb wie eine Butterblume, ihre Haut dünn wie Papier.
Mo klammert sich an sie wie ein Kind an die Mutter, Blut läuft seinen Arm hinab.
Lena starrt die Frau an, ein Kreiseln in der Magengrube. Der Boden scheint näherzukommen, dabei steht sie immer noch aufrecht. Sie kennt diese Gestalt, alles an ihr ist vertraut, obwohl sie sie noch nie gesehen hat. Ein Wiedersehen mit jemandem, der ein Teil ihres eigenen Selbst ist, der Blick in ein Gesicht, das sie besser kennt als ihr eigenes.
»Du kannst mich nicht töten«, sagt Mo, hält die Hände der Frau umklammert.
Sie blickt Lena an, dabei blinzelt sie nicht einmal.
»Ohne mich wird Huang sterben.«
»Lena?«, sagt die Frau, ihre Stimme flüchtig wie eine Brise.
Lena lässt die Waffe sinken, blickt in die hellen Augen. Der Finger am Abzug lockert sich.
Mo springt auf. Lautlos stürzt er sich auf sie. Sie reißt die Pistole hoch, doch er schlägt gegen sie, rammt sie zu Boden. Die Waffe entgleitet ihren schwitzigen Fingern. Mos Faust trifft sie im Gesicht – sie sieht das Universum, eine sternengesprenkelte Schwärze. Knurrend krallt sie sich in seine Schultern, drückt die Finger in die weichen Stellen zwischen seinen Knochen.
Sie wuchtet ihren Oberkörper hoch, schlägt mit der Stirn gegen seinen Kiefer. Ihr Blut verwandelt sich in Lava, verbrennt ihren Körper von innen heraus. Er legt die Hände um ihre Kehle und drückt zu, sein Lächeln purpurrot.
Sie hält den Atem an, schlingt die Beine um seine Hüften und wirft sich herum. Sein Daumen drückt gegen ihren Kehlkopf, doch sie ist jetzt über ihm. Sie krallt die Finger um seine Hand, kämpft gegen den Druck.
»Lena.« Ein Flüstern, eine Brise. Die Waffe wird in ihre Hand gedrückt.
Mos rotes Lächeln erlischt.

V. Abreise
»Ich bin wieder da.«
Die Arme legen sich von hinten um meine Schultern, ein Kuss auf den Hals.
Ich blicke vom Papier hoch, die Buchstaben voller Grimm, sehe Mos Gesicht im Kerzenlicht.
»Du sollst doch nicht schreiben bei dem Licht«, sagt er.
»Ich bin jetzt fertig. Wir können ins Bett gehen.«
»Die Geschichte über Lena?«, fragt er.
Mein Blick wandert zu der Tasche neben der Tür. »Ja.«
»Darf ich sie lesen?«
Das Lächeln wärmt mein Gesicht wie lang vermisste Sonnenstrahlen. »Es ist eine wahre Geschichte.«
»Das klingt langweilig«, sagt er.
Ich hole tief Luft.

»Was du erschaffst und was du bist,
Bewahre ich als der Chronist:
Buchstabe, tot, unwandelbar,
Wird alles, was einst Leben war.
Willst du zu mir nun streben,
Es wird ein Unheil geben!
Hier endet, was durch dich beginnt.
Du wirst nie alt sein, Kaiserkind.
Ich Alter war nie jung wie du.
Was du erregst, bring ich zur Ruh.
Dem Leben ist verboten
Sich selbst zu sehen im Toten.«


»Was soll das?«, fragt er.
»Noch ein Gedicht. Michael Ende.«
Bald, Liebste, bald.

 
Quellenangaben
"Sehnsucht gab mir ihr weites Kleid" von Max Dauthendey
"Die unendliche Geschichte" von Michael Ende (1979)
Zuletzt bearbeitet:

Hey @TeddyMaria,

ja, mein Gehirn war zwischendurch echt am Ende. Es hat Stunden gedauert, bis es sich wieder in ein fluffiges, leicht zu handhabendes Wollknäuel verwandelt hat. Leicht zu handhaben für mich, versteht sich - nicht für die Außenwelt. Es hat aber sehr viel Spaß gemacht und ich bin froh, dass du mir so ausführlich geantwortet hast. Gerne lese ich auch Halbes Herz. Eigentlich wollte ich mich Bindung als nächstes widmen, da wusste ich aber noch nicht, dass Halbes Herz und Gelber Papierdrachen miteinander zu tun haben ... oder vielleicht sogar ergänzen? Ich bin gespannt!

Natürlich ist Huang Mos Gefangene und das nicht nur metaphorisch. Davon gehe ich in meiner Interpretation auch aus, keine Sorge. Komisch, dass ich das nicht explizit erwähnt habe. Auch finde ich das nicht unwichtig, das ist schließlich ein Stück weit Kern der Sache.

Und da sie glaubt, dass alles, was sie schreibt, war wird, schmiedet sie einen Fluchtplan, der darin besteht, eine andere gepeinigte Frau auf Mo zu hetzen, zum Haus zu locken und sich befreien zu lassen.
Das ist sehr interessant, daran habe ich gar nicht gedacht. Aber es ist vollkommen logisch: Wenn Huang davon überzeugt ist, alles, was sie schreibt, sei wahr, dann ist doch klar, dass sie das für ihre Freiheit ausnutzen will. Ich dachte, Lena hätte ein eigenes Bewusstsein entwickelt und wollte aus ihrer Realität, also Huangs Fantasie, ausbrechen.

Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich allmählich, wie Huang überhaupt darauf kam, solche Fähigkeiten zu haben? Hast du darauf Hinweise hinterlassen? Deshalb schreibe ich von Therapie, damit meine ich Bewältigung. Denn irgendetwas muss ja vorgefallen sein in ihrer Vergangenheit und es muss mit ihrer Kunst zu tun gehabt haben.

Huang hält sich selbst für die Chronistin, die fantasielose, automatisch gesteuerte Aufschreiberin von dem, was wirklich passiert ist, was nämlich durch Lenas Handeln und Lenas Fantasie zur Wahrheit geworden ist. Nicht Huang ist das Leben, sondern Lena. Denn Lena handelt, Huang schreibt nur auf, was Lena tut. Und der/die Leser/in kommt hier ins Spiel, denn als die beiden sich begegnen, kann nur die Fantasie des/der Leser/in Huang noch retten. Denn wenn Du jetzt glaubst, dass sie einfach nur verrückt ist, dann ist es aus. Sie wurde nicht gerettet und ist für immer mit Mo eingesperrt.
Achso, verstehe. Ein wenig Widerspruch steckt da allerdings schon drin: Vorhin meintest du, alles was sie schreibt, werde wahr. Hier heißt es allerdings, alles, was sie schreibt, sei wahr und sie bloß diejenige, die das festhält. Also die Realität war zuerst da, sie schreibt bloß mit. Und wenn letzteres stimmt, kann sie gar nicht an die Fähigkeit glauben, alles was sie schreibt, werde wahr. Findest du das haarspalterisch?

Ich muss sagen, die Frau am Nachbartisch habe ich erst später eingeführt, weil ich dachte, es wäre besser, wenn Lena ihre Umgebung beobachtet und sich darin auch ihre eigene Anspannung und ihre eigenen Ängste ausdrücken würden. Das heißt, die Frau wäre in diesem Falle nur eine Projektionsfläche. Nur weil Lena allen Männern misstraut, fürchtet sie um diese Frau. Andererseits ist Deine Deutung extrem interessant.
Das finde ich doof. Das kann gar nicht sein, denn Huang entwickelt doch Lena, die groß und stark ist, um zu flüchten. Jetzt schreibst du hier so, als hätte Lena doch ein eigenes Bewusstsein. In meiner Interpretation habe ich geschrieben, dass das Restaurant Huang in vielen Punkten ähnelt, weil es ihrer Fantasie entspringt und man beim Schreiben seine eigene Persönlichkeit (und Emotionen) unweigerlich mit einbezieht. Wie können das Restaurant und die Menschen von Lena abhängig sein, Lena selbst auch nur ein Produkt von Huangs Fantasie ist? Das müsste doch eher sein wie eine Einbahnstraße, meiner Meinung nach.

Mo sieht sich als den Guten, den Eindruck hatte ich auch. Interessant ist, dass die Bösen sich selten für den Bösen halten. Für solche Leute heiligt der Zweck gerne die Mittel. Mo hat in seinem Kopf vermutlich keine andere Wahl, als Huang vor der Außenwelt zu schützen. Was kann er denn auch dafür, wenn sie das nicht selbst versteht? Dann muss er es halt tun.

Die unendliche Geschichte habe ich nicht gelesen - ich mag Geschichten mit Ende lieber. :lol: Aber mir gefällt, wie sorgfältig du auch diesen Schmöker eingebaut hast. Je mehr Deutungsebenen, desto besser, finde ich.

Das ist widerlich. Aber auch ein bisschen der Punkt. Letztes Jahr wurde ja viel darüber diskutiert, was eigentlich einvernehmlicher Sex ist. Und über diese Frage könnte man hier auch diskutieren. Wenn ich schicksalsergeben mit einem Typen schlafe, der mich einsperrt, mir Essen gibt, für mich sorgt (ergo, von dem ich hundertprozentig abhängig bin), ist das dann einvernehmlich? Hier hast Du nämlich recht: Huang ist apatisch – schicksalsergeben.
Ein interessantes Thema. Ich dachte, du wolltest einen klaren Kontrast setzen, indem er sie am Anfang auf den Sex anspricht, welcher ja auch, wenn ich das richtig verstanden habe, die Szene im Restaurant anstösst und zum Schluss sie ihn. Aber scheinbar habe ich das missverstanden. Ich dachte nur, dass ich aus dem letzten Teil so viel rausholen muss wie möglich, bevor mir noch was durch die Lappen geht. Meiner Meinung nach kann man das übrigens nicht als einvernehmlichen Sex bezeichnen. Zwar wehrt sie sich nicht, sie hat aber auch keine Wahl. Am Ende fragt sie ihn nur, damit er nicht danach fragen muss. Pure Untergebenheit. Aber ich will hier keine Diskussion entfachen.

Und sie ist fest davon überzeugt, dass Mos Ende nahe ist. Deshalb ihre Duldsamkeit. Ich wurde auch gefragt, ob es für sie nicht total gefährlich ist, ihre Sachen zu packen und diese Geschichte offen rumliegen zu lassen. Die Antwort: Nur, wenn sie zweifeln würde, dass Lena sie rettet. Aber sie zweifelt nicht an ihrer „Zauberkraft“, nämlich der Kraft ihrer Geschichte.
Du hast was ganz ähnliches schonmal als Antwort auf einem der Beiträge hier geschrieben. Jetzt verstehe ich, was du damit gemeint hast. Ich habe bei Mo nämlich keinerlei Anzeichen für eine Krankheit entdecken können oder einen anderen Grund für sein baldiges Ableben. Du meinst aber, dass für Huang Mos Ende nah ist, weil Lena unterwegs ist. Verstehe! Aber hier nochmal die Frage: Schreibt Huang bloß mit oder erfindet sie aktiv? Beides geht nicht! :lol:

Mo boshafter machen, um das wahre Verhältnis darzustellen. Aber das werde ich nicht tun. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, dass er nicht als reines Monstrum auftritt.
Nö, lass das. Ich hab das schon verstanden und dasselbe traue ich den anderen Lesern auch zu.

Ich glaube, die Restaurantszene werde ich nochmal überarbeiten. Mir gefällt die Sache mit der Sitznachbarin nicht wirklich. Wenn man es so stark interpretiert wie Du, wirft das zahlreiche Fragen auf, die spätere Interpretationen erschweren. Das ist nicht gut.
Ich bitte drum! Oder du machst explizit eine zuschauende Huang draus!

EDIT: Hier noch ein kurzer, interpretierender Vergleich zwischen Gelber Papierdrachen und Halbes Herz. Als kleiner Anhang, sozusagen. Den Rest können wir gerne übermorgen besprechen. :lol:

Halbes Herz handelt von einem Mädchen namens Alena, welches sich mit ihrer anderen Hälfte, einem Drachen, vielmehr Drachenei, vereinen muss, um wieder ganz sein zu können. Als halbes Wesen leidet sie an einer Leere, die sie versucht, mit Sex zu füllen. Auffallend ist, wie sie Männer instrumentalisiert. Es lässt sich eine Paralle zwischen deiner Huang und Alena, erkennen, denn beide sind unglücklich, Huang aufgrund der durch Mo herbeigeführten Isolation und Alena, weil sie ein unvollständiges Wesen ist. Genau genommen fehlt beiden ein Drache, denn Huangs gelber Drache(n) ist ein Symbol für Freiheit, somit ihre größte Sehnsucht. Ein großer Unterschied ist, dass Huang apathisch, Alena hingegen psychopathisch ist. Außerdem halten sie sich beide davon ab, ihren jeweiligen Sehnsüchten nachzugehen: Huang fühlt sich dazu physisch nicht in der Lage, weil sie in ihrer Rolle als Untergebene Mos gefangen ist und deswegen lieber Lena, eine größere, starke und bewaffnete Version ihrer Selbst, schickt. Alena hingegen lenkt sich über den Sex mit fremden Männern ab. Also sind in beiden Fällen die Männer ausschlaggebend für das jeweilige Unglück der jungen Frauen und beide Geschichten haben mit Sex zu tun. Als letztes Detail fällt mir noch auf, dass Huang Lenas Drache(n) gelb ist, die Drachenschale in Halbes Herz gold.

Liebe Grüße,
Dein Niklas

 

Hi, @N. Ostrich

Endlich komme ich dazu, Dir zu antworten. Ich glaube, Du machst da ein interessantes Thema auf, und jetzt muss ich selbst aufpassen, dass ich mich nicht verheddere.

Ein wenig Widerspruch steckt da allerdings schon drin: Vorhin meintest du, alles was sie schreibt, werde wahr. Hier heißt es allerdings, alles, was sie schreibt, sei wahr und sie bloß diejenige, die das festhält. Also die Realität war zuerst da, sie schreibt bloß mit. Und wenn letzteres stimmt, kann sie gar nicht an die Fähigkeit glauben, alles was sie schreibt, werde wahr. Findest du das haarspalterisch?

Du wirfst hier die Frage auf, beziehungsweise, eigentlich habe ich die Frage aufgeworfen, ob Huang Lena erfindet oder ob sie nur dokumentiert, was Lena tut. Und Du sagst: Beides geht nicht. Ich glaube aber, das ist eben keine Einbahnstraße.

Kurzer Exkurs, wie das Ganze entstanden ist. Wenn Huang nämlich tatsächlich die Superkraft hätte, dass alles, was sie schreibt, war wird, warum schreibt sie dann nicht: Mo löst sich in Nichts auf, und die Tür öffnet sich. An dieser Stelle habe ich die Geschichte wie eine Fantasy-Geschichte entwickelt. Wenn es Magie gibt, dann muss sie gewissen Regeln unterliegen. Und diese entscheidende Regel nennt Huang ganz am Anfang:

»Ich schreibe nur, was wahr ist

Sie sieht sich selbst als die Chronistin. Das ist die Einschränkung ihrer Superkraft. Möglicherweise kann sie nur lenken, was schon da ist. Ich persönlich bin deshalb immer davon ausgegangen, dass Mo quasi ein Serientäter ist, dass Lena durchaus als eigenständige Person zu handhaben ist. Eine Art Spiegelbild, aber trotzdem eigenständig mit einem eigenen Schicksal.

Ich glaube, das Ganze ergibt insofern Sinn, wenn wir uns klarmachen, dass das alles Huangs Überzeugung ist. Nichts in der Geschichte weist darauf hin, dass diese Überzeugung stimmt. Nichts in der Geschichte weist darauf hin, dass sie nicht stimmt. Huang sitzt in ihrem Zimmer und dreht durch. Sie kann die Geschehnisse in der Außenwelt nicht beurteilen. Und da wir nur wissen, was sie weiß, können auch wir das nicht beurteilen. Das ist die Grenze zwischen Fantasy und Wahnsinn, von der ich zuvor geschrieben habe. Und Du kannst jetzt in der Wahnwelt mitmachen oder aussteigen.

Huang glaubt, dass sie deshalb von Lena schreiben kann, weil es Lena wirklich gibt, und dass das wiederum bedeutet, dass sie wirklich gerettet wird. Also eine umgekehrte Kausalität. Es gibt Lena wirklich --> Huang kann von ihr schreiben --> darum muss es Lena wirklich geben. Unter dieser Prämisse entsteht Huangs Wahngebilde. Und hält sich selbst aufrecht.

Wenn ich darüber nachdenke, frage ich mich allmählich, wie Huang überhaupt darauf kam, solche Fähigkeiten zu haben? Hast du darauf Hinweise hinterlassen?

Nein, darauf bin ich nicht näher eingegangen. :) Du hast Realitätsflucht genannt, und ich denke, das ist es. Sie hat einfach keine andere Möglichkeit, als sich in diese Überzeugungen zu fliehen, in diese Geschichten. Das ist auch die einzige Stelle, wo sie sich gegen Mo wehrt.

Zwar wehrt sie sich nicht, sie hat aber auch keine Wahl. Am Ende fragt sie ihn nur, damit er nicht danach fragen muss. Pure Untergebenheit. Aber ich will hier keine Diskussion entfachen.

Denn sie ist ja vollkommen abhängig von ihm. Und in der Realität unterwirft sie sich halt. Da habe ich aber auch suggestiv gefragt. :p

Interessant ist, dass die Bösen sich selten für den Bösen halten.

Ich finde das eigentlich gar nicht interessant. ;) Sondern ziemlich natürlich. Wer wollte sich selbst für böse halten? Das hat mich schon als Kind beim Gucken von "Kim Possible" gestört, dass der Böse unbedingt böse sein wollte. Und ich war immer so: Warum denn eigentlich?

Die unendliche Geschichte habe ich nicht gelesen - ich mag Geschichten mit Ende lieber.

Meine Fresse, ich habe es ja woanders schon geschrieben: MEINE FRESSE! Ich habe das dicke Buch extra von Braunschweig nach Hamburg geschleppt, um diese Bildungslücke zu füllen. Es geht um die Macht der Fantasie, und was der/die Leser/in für eine Rolle in diesem ganzen Geschehen einnimmt. Als Leser/in und Schreiber/in ist es echt erleuchtend, sich damit auseinanderzusetzen. Es geht um "Tu, was Du willst" und was das bedeutet. Mehr dazu morgen.

Wahnsinnige Grüße,
Maria

Edit: Liebes @Nichtgeburtstagskind

Ich habe mal eine Interpretation von Halbes Herz rangeschafft (siehe Beitrag hier drüber). Vielleicht interessiert Dich das ja. ;)

Lieber Niklas,

Tatsächlich habe ich Gelber Papierdrachen als Antwort geschrieben, weil ich die Sehnsucht als Essenz von Alenas Leiden vermisst habe. Aber da das nur meine Sicht der Sache war, habe ich das eben so umgesetzt, wie es mir gefällt. Und tatsächlich ist Huang ja mehr der Drache, und Lena ist ... wuah ... Alena. :D

 

:D

Sehr cool. Vielen Dank @TeddyMaria für den Verweis zu meiner Geschichte. Es freut mich immer wieder, dass sie der Auslöser für deine Geschichte war.

Und danke für deine Sichtweise auf meine Geschichte @N. Ostrich und die Verknüpfung mit Marias. Sehr interessant. :)

 

Liebes @Nichtgeburtstagskind

Tja, inzwischen weiß ich auch, was das für ein nettes Gefühl ist, wenn man eine andere Person inspirieren konnte. Und habe ich mich für die Inspiration eigentlich schon bedankt? Danke!

Lieber @N. Ostrich

Wir haben ja gestern über Unendlichkeit gesprochen, und da war ich ein wenig überrumpelt. Jetzt aber habe ich eine Idee, wie ich den Eindruck, dass die Geschichte sich ewig wiederholt (was nicht meine Intention war) abfedern kann. Steht auf der To-do-Liste.

Leider habe ich meinen Haustürschlüssel im Haus vergessen und muss jetzt noch eine Weile draußen rumlaufen. Hoffe aber, dass ich heute Abend wieder zum Schreiben komme. Dass ich nicht tausend leere Versprechungen abgeben muss.

Euch noch einen sonnigen Tag,
Maria

 

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