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Geoffrey
Es war der 21. Februar 2003, als ich ihn kennenlernte. Er saß hinter der Sicherheitssglascheibe im Besucherraum des California State Prison in Sacramento. Ich wusste lediglich seinen Namen, sein Alter und sein Vergehen. Geoffrey Simmons, 37 Jahre alt, wegen dreifachen Mordes zum Tode verurteilt.
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Zwei Jahre lang besuchte ich ihn regelmäßig. Kein Besuch verging ohne seine dreckigen Witze, die er mir meist am Ende erzählte. Er behielt seinen Humor bis zum Schluss.
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Er war mir von Anfang an sympathisch. Ich konnte nie glauben, dass er Owen, Martha und Vanessa Spencer mit einem Beil getötet haben soll. Ich glaube es bis heute nicht. Geoffrey ist ein guter Mensch. Das werde ich mein ganzes Leben lang glauben.
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Mit 15 flog er von der Schule, weil er angeblich eine Mitschülerin sexuell belästigt hatte. Es wurde nie etwas bewiesen, doch der Direktor nahm ihn später nicht mehr wieder auf. Er bestritt den Vorfall die ganze Zeit und sagte, er habe das Mädchen nur gefragt, ob sie mit ihm ausgehen möchte.
Geoffrey Simmons hat bis heute keinen Schulabschluss.
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Fast alles, was er über das Leben weiß, hat er sich auf der Straße angeeignet. Seine Gang war sein Leben, ohne sie konnte er nicht sein.
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Einmal fragte ich ihn, wie er es machte. Wie er in das Haus der Spencers eindrang, wie er sich anschlich. Wie er zuerst Owen Spencer, und dann dessen Ehefrau und Tochter mit einem Holzfällerbeil tötete.
Er schlug die Hände überm Kopf zusammen und brachte kein Wort heraus.
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Gestern war es soweit. Ein letztes Gespräch mit ihm war avisiert, ich musste auf ihn warten, weil er noch etwas lesen wollte. Kant. Vor etwa fünf Jahren fing er an, philosophische Schriften zu lesen. Ich sollte bis zum Schluss bei ihm bleiben, gemeinsam mit seiner Mutter.
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Liz Simmons fand den Weg zurück zu ihrem Sohn vor einem Jahr. Sie kontaktierte mich und fragte mich nach seinem Ergehen. Zwei Tage später besuchte sie ihn und sie sprachen eine Stunde miteinander. Seitdem kam sie, so oft sie konnte.
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Das Gnadengesuch ist abgelehnt worden, er hatte noch drei Stunden. Geoffrey Simmons legte Kant zur Seite und stand auf. Man sah ihm seine Angst an, dennoch war er kein gebrochener Mann. Er begrüßte mich wie immer, mit einem lautstarken „Hi, how are you?“ Dann kam Geoffreys Mutter.
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Wir hörten Smith, den wohl schrecklichsten Schließer im State Prison. Er schrie einen anderen Häftling zusammen. Alle außer Geoffrey hatten Angst vor Smith. Geoffrey dachte an Kant und Rousseau, wenn Smith ihn niedermachte. Er lebte in einer anderen Welt.
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Ich schloss mich auf dem Gäste-WC ein und heulte. Es blieben noch zweieinhalb Stunden.
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Liz Simmons brachte Brownies mit, Geoffreys Lieblingssüßigkeit. Er aß zwei oder drei. Sie fragte ihren Sohn etwas, ich habe die Frage nicht genau verstanden.
Geoffrey stammelte etwas und umarmte sie.
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„Gib mir deine Hand! GIB MIR DEINE HAND, MEIN JUNGE!“ Liz Simmons schrie ihren Sohn an, sie war mit ihren Nerven am Ende.
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„Mein Sohn, du bist hier, weil du schwarz bist. Du wirst sterben, weil wir schwarz sind. Du hast nichts getan... Du hast nichts getan...“
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Carnegie, einer der umgänglicheren Wärter, betrat den Raum.
„Simmons, es ist Zeit.“ Seine Mutter und ich verabschiedeten uns von Geoffrey, er drückte unsere Hände und bedankte sich. Sein Gesichtsausdruck war ernst, sein Atmen schwer.
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Wir setzten uns auf die Zuschauerbänke, in fünf Minuten sollte es beginnen. Ich hielt Liz Simmons‘ Hand. Sie schluchzte von Zeit zu Zeit, blieb aber standhaft.
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Owen Spencers Bruder Carl saß auf der anderen Seite der Zuschauertribüne. Seine Augen funkelten, er schrie: „Gerechtigkeit!“
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Ein Bediensteter, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, hatte die Todesspritze dabei. Geoffrey war der Hauptdarsteller in diesen Minuten, alle starrten ihn an. Wohl etwa 95 % auf der Tribüne waren Befürworter der Todesstrafe.
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Geoffrey Simmons zuckte noch einmal zusammen. Dann war es war zu Ende. Am 13. Februar 2005 um 14:34 Uhr starb Geoffrey Simmons durch eine tödliche Giftinjektion.
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Ich empfinde heute keinen Hass. Nicht gegen den Gouverneur von Kalifornien und auch nicht gegen die Henker des California State Prison. Ich weiß nicht, was ich empfinde. Ich weiß nur, dass ich ihm Kraft geben konnte, Kraft in seinen letzten Jahren, Monaten, Tagen, Stunden und Minuten. Ich war bei ihm. Und werde Geoffrey Simmons nie vergessen.
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