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Geoffrey

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08.05.2005
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Geoffrey

Es war der 21. Februar 2003, als ich ihn kennenlernte. Er saß hinter der Sicherheitssglascheibe im Besucherraum des California State Prison in Sacramento. Ich wusste lediglich seinen Namen, sein Alter und sein Vergehen. Geoffrey Simmons, 37 Jahre alt, wegen dreifachen Mordes zum Tode verurteilt.

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Zwei Jahre lang besuchte ich ihn regelmäßig. Kein Besuch verging ohne seine dreckigen Witze, die er mir meist am Ende erzählte. Er behielt seinen Humor bis zum Schluss.

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Er war mir von Anfang an sympathisch. Ich konnte nie glauben, dass er Owen, Martha und Vanessa Spencer mit einem Beil getötet haben soll. Ich glaube es bis heute nicht. Geoffrey ist ein guter Mensch. Das werde ich mein ganzes Leben lang glauben.

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Mit 15 flog er von der Schule, weil er angeblich eine Mitschülerin sexuell belästigt hatte. Es wurde nie etwas bewiesen, doch der Direktor nahm ihn später nicht mehr wieder auf. Er bestritt den Vorfall die ganze Zeit und sagte, er habe das Mädchen nur gefragt, ob sie mit ihm ausgehen möchte.

Geoffrey Simmons hat bis heute keinen Schulabschluss.

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Fast alles, was er über das Leben weiß, hat er sich auf der Straße angeeignet. Seine Gang war sein Leben, ohne sie konnte er nicht sein.

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Einmal fragte ich ihn, wie er es machte. Wie er in das Haus der Spencers eindrang, wie er sich anschlich. Wie er zuerst Owen Spencer, und dann dessen Ehefrau und Tochter mit einem Holzfällerbeil tötete.

Er schlug die Hände überm Kopf zusammen und brachte kein Wort heraus.

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Gestern war es soweit. Ein letztes Gespräch mit ihm war avisiert, ich musste auf ihn warten, weil er noch etwas lesen wollte. Kant. Vor etwa fünf Jahren fing er an, philosophische Schriften zu lesen. Ich sollte bis zum Schluss bei ihm bleiben, gemeinsam mit seiner Mutter.

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Liz Simmons fand den Weg zurück zu ihrem Sohn vor einem Jahr. Sie kontaktierte mich und fragte mich nach seinem Ergehen. Zwei Tage später besuchte sie ihn und sie sprachen eine Stunde miteinander. Seitdem kam sie, so oft sie konnte.

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Das Gnadengesuch ist abgelehnt worden, er hatte noch drei Stunden. Geoffrey Simmons legte Kant zur Seite und stand auf. Man sah ihm seine Angst an, dennoch war er kein gebrochener Mann. Er begrüßte mich wie immer, mit einem lautstarken „Hi, how are you?“ Dann kam Geoffreys Mutter.

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Wir hörten Smith, den wohl schrecklichsten Schließer im State Prison. Er schrie einen anderen Häftling zusammen. Alle außer Geoffrey hatten Angst vor Smith. Geoffrey dachte an Kant und Rousseau, wenn Smith ihn niedermachte. Er lebte in einer anderen Welt.

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Ich schloss mich auf dem Gäste-WC ein und heulte. Es blieben noch zweieinhalb Stunden.

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Liz Simmons brachte Brownies mit, Geoffreys Lieblingssüßigkeit. Er aß zwei oder drei. Sie fragte ihren Sohn etwas, ich habe die Frage nicht genau verstanden.
Geoffrey stammelte etwas und umarmte sie.

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„Gib mir deine Hand! GIB MIR DEINE HAND, MEIN JUNGE!“ Liz Simmons schrie ihren Sohn an, sie war mit ihren Nerven am Ende.

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„Mein Sohn, du bist hier, weil du schwarz bist. Du wirst sterben, weil wir schwarz sind. Du hast nichts getan... Du hast nichts getan...“

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Carnegie, einer der umgänglicheren Wärter, betrat den Raum.
„Simmons, es ist Zeit.“ Seine Mutter und ich verabschiedeten uns von Geoffrey, er drückte unsere Hände und bedankte sich. Sein Gesichtsausdruck war ernst, sein Atmen schwer.

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Wir setzten uns auf die Zuschauerbänke, in fünf Minuten sollte es beginnen. Ich hielt Liz Simmons‘ Hand. Sie schluchzte von Zeit zu Zeit, blieb aber standhaft.

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Owen Spencers Bruder Carl saß auf der anderen Seite der Zuschauertribüne. Seine Augen funkelten, er schrie: „Gerechtigkeit!“

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Ein Bediensteter, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, hatte die Todesspritze dabei. Geoffrey war der Hauptdarsteller in diesen Minuten, alle starrten ihn an. Wohl etwa 95 % auf der Tribüne waren Befürworter der Todesstrafe.

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Geoffrey Simmons zuckte noch einmal zusammen. Dann war es war zu Ende. Am 13. Februar 2005 um 14:34 Uhr starb Geoffrey Simmons durch eine tödliche Giftinjektion.

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Ich empfinde heute keinen Hass. Nicht gegen den Gouverneur von Kalifornien und auch nicht gegen die Henker des California State Prison. Ich weiß nicht, was ich empfinde. Ich weiß nur, dass ich ihm Kraft geben konnte, Kraft in seinen letzten Jahren, Monaten, Tagen, Stunden und Minuten. Ich war bei ihm. Und werde Geoffrey Simmons nie vergessen.

***​

 

Hallo olimax,

ein bisschen leer finde ich deine Geschichte. Unwillkürlich frage ich mich, wo der Ich-Erzähler seine Sinne hat, wenn er von der Erfahrung erzählt, einen zum Tode verurteilten zu begleiten.
Er spricht vom Weinen, aber die Tränen kommen nicht bei mir an. Eigentlich ist es als hakt er nur Stationen ab, bis die Strafe vollstreckt wird. Es fehltmit ein bisschen das Leben.

Sorry, sim

 

Also den schlichten Stil (das Abhaken der Stationen), den mein Vorredner kritisierte, finde ich gerade gut, zumindest bei dieser Geschichte.

Was mir aber klar fehlt, ist die Frage, woher dein Erzähler Geoffrey Simmons kennt. Ich meine, dass er einfach ins Gefängnis geht und sagt, dass er mal eben nen Todeskandidaten kennenlernen will, ist nicht gerade sehr wahrscheinlich. Da fehlt mir ein bißchen der Anknüpfpunkt.

Bis zum Ende dachte ich mir auch, dass so eine lasche Pointe kommt ala "Todesstrafe ist schlecht" etc.
Keineswegs finde ich die Todesstrafe gut, aber ich finde es so hundertmal besser, wie du auf deine Gefühle bzw. deine Beziehung zu Simmons eingegangen bist und auch, dass dir der Staat Kalifornien etc. egal sind, sondern es für dich auf den Menschen ankommt.

Auch gut finde ich, dass du die Mutter hast sagen lassen, dass er nur ermordert werde, weil er schwarz sei. Das macht das Ganze nicht so stereotyp, dass nur Schwarze ermordet werden, weil die Mutter ja selbst schwarz ist (ist zumindest anzunehmen).
Es ist zwar tatsächlich so, dass der Anteil der ermordeten Schwarzen größer ist (ich sage bewusst "ermordet"!), aber eine Geschichte, die nur Stereotypen beschreibt, naja, findet zumindest bei mir wenig Anklang.

Ebenso gut finde ich, dass du die Schuldfrage außen vorgelassen hast und gar nicht geklärt hast, ob er denn jetzt wirklich Schuld war oder nicht, da es für den Erzähler ja auch keine Rolle spielt, weil für ihn nur zählt, dass er seinen Freund verloren hat.

An deiner Geschichte sieht man gut, dass weniger manchmal wirklich mehr ist.

Und hier noch die üblichen paar Kleinigkeiten, die jeder in seiner ersten Fassung irgendwo drinnen hat:

olimax schrieb:
Er war mir von Anfang an sympathisch. Ich konnte nie glauben, dass er Owen, Martha und Vanessa Spencer mit einem Beil umgebracht haben soll.
{/quote]
Umgebracht klingt etwas umgangssprachlich, ich würde stattdessen "getötet" schreiben.

Ich glaube es bis heute nicht. Geoffrey ist ein guter Mensch. Das glaube ich mein ganzes Leben lang.
werde ich mein ganzes Leben lang glauben.

Er bestritt den Vorfall die ganze Zeit und sagte, er hatte das Mädchen nur gefragt, ob sie mit ihm ausgehen möchte.
er habe das Mädchen nur gefragt (Konjunktiv I bei indirekter Rede.)


Einmal fragte ich ihn, wie er es machte.
Statt machte vielleicht eher "fertig bringen konnte"

eindrung
eindrang

Man sah ihm seine Angst an, dennoch war ein kein gebrochener Mann.
war er kein gebrochener....


Du hast nichts getan.. Du hast nichts getan..“
Ich würde entweder einen oder drei Punkte machen.

Ich hielt Liz Simmons‘ Hand. Sie schluchzte von Zeit zu Zeit, blieb aber fest.
Die Mutter blieb fest? ;) Tapfer oder besonnen vielleicht....


Owen Spencer’s Bruder,Carl, saß
Ohne den Apostroph. Im Deutschen kommt beim Genitiv der Apostroph nur, wenn ein Wort auf "s" endet. Die Kommata auch weg:
Owen Spencers Bruder Carl saß....

Ein Bediensteter, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte, hatte die Todesspritze dabei. Geoffrey war der Hauptdarsteller in diesen Minuten, alle starrten ihn an. Wohl etwa 95 % auf der Tribüne waren Befürworter der Todesstrafe. Geoffrey Simmons zuckte noch einmal zusammen. Dann war es war zu Ende. Am 13. Februar 2005 um 14:34 Uhr starb Geoffrey Simmons durch eine tödliche Giftinjektion.

Vielleicht solltest du die Prozedur der Hinrichtung ein wenig näher beschreiben.
In Texas kostet das Gift für solch eine Spritze übrigens 86,06 Dollar. ;)
(habe ich nur heute morgen irgendwo gelesen.... ;D)


Ich empfinde heute keinen Hass. Nicht gegen den Gouverneur von Kalifornien und auch nicht gegen die Henker des California State Prison.
Für mich ist es ein Widerspruch, wenn du schreibst, dass du keinen Hass empfindest, das Gefängnispersonal dann aber als Henker "beschimpfst". Schreibe doch einfach Wärter an Stelle von Henker.

 

Hallo Sim, hallo Sebastian,

vielen Dank für die Kritik.

Ihr beiden kritisiert, dass nicht klar ist, woher der Ich-Erzähler Geoffrey kennt. Nun, ich habe es zu einem Teil dieses schlichten Erzählstils gemacht, dies dem Leser nicht zu offenbaren. Es könnte z.B. sein Anwalt oder aber auch ein Seelsorger sein. Es soll jedoch hier nur klar werden, dass der Ich-Erzähler jemand ist, der in den letzten zwei Lebensjahren des Todeskandidaten diesen kennen- und schätzen gelernt hat und diesen in seinen letzten Stunden begleitet.

Falls deshalb bei Dir, sim, die "Tränen nicht angekommen sind", tut mir das leid, aber mehr "Leben" wollte ich dieser Geschichte und diesem Erzählstil nicht zumuten..

Zu Sebastian:

Ich benutzte zuerst den Begriff "Wärter", habe mich dann jedoch bewusst für "Henker" entschieden. Der Ich-Erzähler macht so dem Leser bewusst, dass Geoffrey Simmons ermordet wurde und dass er, obgleich er keinen Hass empfindet, durchaus ( zumindest in dieser Situation ) über die Tötung seines Freundes bestürzt ist und dieses Strafmaß verurteilt ( Der Ich-Erzähler schrieb diesen Satz kurz nach der Vollstreckung ).

ciao,

olimax

 

nein, ich habe nicht kritisiert, dass nicht klar wäre, warum die Besuche. Mir ist bekannt, dass es Begleitprogramme für Todeskandidaten gibt, die zum Beispiel von den örtlichen Kirchen organisiert werden.
Nein, was mich stört ist, dass diese Erfahrung nicht vermittelt wird.
Die Frage für mich ist, warum dieses Thema in diesem reduziertem Stil. Was möchtest du damit erreichen, welche neue Einsichten soll ich als Leser dadurch bekommen?
Todesstrafe ist grässlich, das weiß jeder von uns. Wozu also nur die nüchternen Stationen noch einmal aufzählen, wenn dir der Plot doch die Möglichkeit gibt, ganz andere Einblicke zu bekommen und weiter zu geben?

 

sim,

ich habe mich bewusst für diesen nüchternen Erzählstil entschieden, weil ich das Thema derart reduziert darstellen wollte.
Die einzelnen Episoden sollten so nüchtern und reduziert wie möglich dargestellt werden, ich habe mich bewusst gegen übermäßige "Gefühlsduselei" entschieden.

Ich weiß jedoch auch, dass ein lebendigerer Erzählstil durchaus mit dem Thema vereinbar ist, doch ich hatte hier nicht die Absicht, lebendiger zu erzählen.

 

*g* ist nicht böse gemeint, aber das habe ich verstanden und gleichzeitig beantwortet es meine Frage nicht, nämlich, welche Intention mit der reduzierten Darstellung verbunden ist, welchen Gedanken erhoffst du dir in mir als Leser durch die Nüchternheit? Was wolltest du mit dem Verzicht bezwecken?
"Ich wollte es nun mal so darstellen" ist doch darauf keine Antwort. ;)

Lieben Gruß, sim

 

Die Intention ist, dass der Leser eben nüchtern mit den einzelnen beschriebenen Stationen konfrontiert wird, ohne diese ( Stationen/Episoden ) durch übermäßige Emotionen verabreicht zu bekommen.

Ich kann das Wort "nüchtern" bald nicht mehr sehen :)

Gruß,

olimax

 

aber du weichst mir noch einmal aus. ;) Ich komme mir schon vor wie ein Kleinkind, das immer weiter fragt. Warum sollte der Leser nüchtern mit dem Episoden konfrontiert sein.
Der Effekt auf mich war gerade dadurch ein Schulterzucken. Ja, das gibts. Der Text glitt für mich gleich ins Vergessen. Er konnte mich nicht packen sondern wiederholte nur Bekanntes. Er regte mich dadurch nicht zum Weiterdenken an. Ich nehme nicht an, dass das der von dir beansichtigte Effekt war.

Lieben Gruß, sim

 

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole und dass wir weiter aneinander vorbei reden: Meine Absicht war es, die letzten Stationen eines Todeskandidaten episodenhaft darzustellen, ohne besondere Ausschweifungen.

Es tut mir leid, wenn der Text aufgrund des fehlenden "Lebens" nicht bei dir ankommt und nur Schulterzucken auslöst.

 

Ich möchte noch hinzufügen, dass hier das Hauptaugenmerk nicht auf die Personen als solche, sondern auf die drastische Folge und Beschleunigung der einzelnen Episoden gerichtet werden soll.

Daher auch der letzte Satz in der ersten Episode:

Ich wusste lediglich seinen Namen, sein Alter und sein Vergehen. Geoffrey Simmons, 37 Jahre alt, wegen dreifachen Mordes zum Tode verurteilt.

Auch wird ja bewusst offen gelassen, ob der Ich-Erzähler in den folgenden zwei Jahren viel über das ( frühere ) Leben erfährt. Herausgestellt werden soll aber die entstandene Freundschaft und gegenseitige Zuneigung der Protagonisten, so unterschiedlich sie auch sein mögen.

Es bleibt (bis auf einige Hinweise auf das Leben Geoffreys) ja unklar, was genau den Ich-Erzähler zu dem Todeskandidaten geführt hat und welchen Hintergrund dieser hat und auch, was genau Geoffrey (falls er denn schuldig ist) zu seiner Tat veranlasste.

Nächstenliebe soll hier die Hauptbotschaft sein. Vielleicht, gerade weil ja unklar bleibt, ob Geoffrey die Tat wirklich begangen hat, sollte sich jeder nach der Lektüre dieser Geschichte einmal fragen, ob er zu einer solchen Form der Nächstenliebe bereit wäre, wenn es zumindest wahrscheinlich ist, dass der Häftling die Tat wirklich begangen haben könnte.

 

Hi olimax,

langsam kommen wir ja näher zum Punkt. Mir geht es um Formbewusstsein, das heißt: Warum erzähle ich was auf welche Art?

Meine Absicht war es, die letzten Stationen eines Todeskandidaten episodenhaft darzustellen, ohne besondere Ausschweifungen.
Als du das Thema im Kopf hattest, was hat dich überzeugt, dass dies die beste Art wäre, es zu erzählen?
Ich möchte noch hinzufügen, dass hier das Hauptaugenmerk nicht auf die Personen als solche, sondern auf die drastische Folge und Beschleunigung der einzelnen Episoden gerichtet werden soll
Das könnte den Eindruck erwecken, die Personen sind Nebensache, obwohl sie doch Hauptakteure sind.
Herausgestellt werden soll aber die entstandene Freundschaft und gegenseitige Zuneigung der Protagonisten, so unterschiedlich sie auch sein mögen.
Die einzigen Indizien für die aktuelle Freundschaft sind die dreckigen Witze, die Geoffrey bei jedem Besuch erzählt und die Tatsache, dass er Erzähler immer wieder kommt. Man erfährt kaum, was die Männer einander bedeuten, vielleicht sogar unabhängig von der Situation.
Auch wird ja bewusst offen gelassen, ob der Ich-Erzähler in den folgenden zwei Jahren viel über das ( frühere ) Leben erfährt.
Aber immer noch sehr viel mehr als über die Gegenwart.
Nächstenliebe soll hier die Hauptbotschaft sein. Vielleicht, gerade weil ja unklar bleibt, ob Geoffrey die Tat wirklich begangen hat, sollte sich jeder nach der Lektüre dieser Geschichte einmal fragen, ob er zu einer solchen Form der Nächstenliebe bereit wäre, wenn es zumindest wahrscheinlich ist, dass der Häftling die Tat wirklich begangen haben könnte.
Wäre es dann nicht konsequenter gewesen, erst gar keine Frage nach der Schuld aufkommen zu lassen? Dein Erzähler glaubt nicht an die Schuld. Damit macht er sich fähig zu dieser Nächstenliebe. Spannend bliebe also die Frage, ob er auch dazu bereit gewesen wäre, hätte er diese Möglichkeit nicht gehabt, weil Simmons die Tat zugibt, sie vielleicht sogar rechtfertigt ohne sie zu bereuen. Dann erst wird doch die Fähigkeit zur Nächstenliebe auf einer ernsthafte Probe gestellt und die Frage, ob man selbst dazu bereit wäre, würde greifen.

Verstehe mich nicht falsch, es geht mir nicht darum, deine Geschichte zu zerreißen, sondern darum, das Bewusstsein für die Einheit von Begebenheit, Absicht und Form zu schaffen.
Du hast dir etwas schweres vorgenommen, nämlich ein Setting, in dem du sicher keine Erfahrungen hast und das wohl auch kaum Recherchemöglichkeiten bietet. Ich weiß nicht, ob du mal mit Menschen gesprochen hast, die solche Begleitungen tatsächlich durchgeführt haben. Du bist also rein auf deine Vorstellungskraft angewiesen und vor allem darauf, diese Vorstellungskraft im Leser wachzurufen, erst recht, wenn du möchtest, dass er sich die Frage nach seiner eigenen Fähigkeit zur Nächstenliebe stellt.
Du bist auf die Vorstellung davon angewiesen, wie gehen Menschen in solcher Situation mit einander um, wie gestaltet sich Freundschaft, welche Rituale der Freundschaft entwickeln sich für sie?
Wenn du es dann so knapp hältst, läufst du Gefahr, dass es so wirkt, als könntest du es dir näher nicht vorstellen, als wäre da außer dem Text nichts mehr in dir, worauf er basiert. Und damit machst du es mir als Leser auch schwer, mich in diese Freundschaft zu versetzen, sie mir vorzustellen.

Geoffrey ist ein guter Mensch. Das werde ich mein ganzes Leben lang glauben.
Was macht ihn für deinen Prot dazu? Welche Mimik, welche Geste, welche Sätze sind es, die ihn das glauben lassen und ihm diese Überzeugung geben?
Ich halte soetwas nicht für überflüssig.
Darum hake ich so sehr bei der Frage nach, warum diese Reduzierung. Und darum möchte ich gern eine Antwort darauf, die mehr ist als "weil ich es so wollte".
Denn erst, wenn ich in der Form um deine Absicht dahinter weiß, dann kann das Feedback auch konstruktiv dahingehen, wie du diese Absicht erreichen kannst.

Lieben Gruß, sim

 

Hi sim,

vielen Dank für die guten "Denkvorschläge", die du mir mitgegeben hast.

Du hast recht mit deiner Vermutung, dass ich persönlich keine Erfahrungen in diesem Themenbereich habe und dass Recherchen schwierig sind, bzw. nur durch andere, indirekte Quellen durchzuführen sind.

Nun zum Text:
Trotz der Tatsache, dass der Erzähler laut Text nicht an Geoffreys Schuld glaubt, bleiben natürlich auch bei ihm Zweifel. Ich lege das Glauben an Geoffreys Unschuld eher als eine Art Wunschdenken aus, das sich eben durch die schnell entstandene Freundschaft der beiden entwickelt hat.
Der Erzähler hat ja keinerlei Indizien für die Unschuld Geoffreys und je näher sich die Protagonisten kennenlernen und je stärker die gegenseitige Freundschaft der beiden wird, desto stärker wird auch das Wunschdenken des Erzählers, desto mehr tritt die Freundschaft zu Geoffrey in den Vordergrund, desto mehr tritt die Schuldfrage in den Hintergrund. Dies lässt sich ja auch ohne weiteres auf andere, nicht derart dramatische Themenbereiche projizieren.

Die Schuldfrage stellt sich für den Erzähler am Ende nicht mehr, es zählt nur noch die Freundschaft, die als Nächstenliebe (hier: die Bereitschaft, sich mit einem Todeskandidaten zu befassen) begonnen hat. Dies sollte in der letzten Episode besonders klar werden.

Ich war bei ihm. Und werde Geoffrey Simmons nie vergessen.

Was hat mich nun dazu veranlasst, in diesem reduzierten Stil zu erzählen?

Es soll das Hauptaugenmerk auf die Freundschaft bzw. Nächstenliebe gerichtet werden. Es wird in einigen Textstellen (die dreckigen Witze, das Heulen auf dem WC, Geoffreys Interesse an der Philosophie, das, so sollte es auf jeden Fall so rüberkommen, durch Gespräche mit dem Erzähler entstanden ist) darauf hingewiesen, dass die Protagonisten einander nahe stehen. Der reduzierte Erzählstil hat die Absicht, diese Freundschaft darzustellen, parallel zur der eigentlichen Handlung in den Episoden. Jede (Zwischen-)handlung habe ich versucht kurz und nüchtern wiederzugeben. Gleichzeitig soll der rote Faden "Freundschaft & Nächstenliebe" ständig sichtbar sein.

Die Geschichte hätte durchaus länger sein können, meiner Meinung nach war dies aber überhaupt nicht nötig, da es ja meine Intention war, episodenhaft die letzten Stationen Geoffreys unter Berücksichtigung der "Begleitung" durch den Erzähler darzustellen. Wie nahe die Protagonisten einander standen, sollte durch diverse Textstellen klar werden, auch wenn das Entstehen der Freundschaft nicht detailliert beschrieben wird. Bei detaillierteren Beschreibungen und Ausschweifungen hätte auch mein favorisiertes Konzept, in kurzen Episoden zu erzählen, nicht mehr gepasst.

 

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