"Geregeltes Leben"
Heute war es in der Direktion besonders hektisch gewesen!
Nur noch die Übergabe an meinen Stellvertrter, dann würde ich für ein paar Tage beim Skiurlaub die Uni vergessen!
Wo blieb nur Dr. Hannsmann?
Plötzlich stand da diese alte Frau in meinem Büro. Wahrscheinlich war sie von der telefonierenden Sekretärin nicht bemerkt worden.
Noch bevor ich eine Frage an die Dame richten konnte, stürzte diese auf mich zu und stammelte glücklich: "Erika, mein Kind! Endlich habe ich meine kleine Erika wieder!"
Ich war peinlich berührt, zumal gerade Dr. Hannsmann durch die Tür schaute.
Ich fühlte mich von dieser Situation überfordert, schickte meinen Stellvertreter wieder hinaus. Ich glaubte, dass sich das Ganze in wenigen Minuten als ein großer Irrtum aufklären würde.
Schon ein flüchtiger Blick hatte genügt, um festzustellen, dass diese zierliche Frau, die höchsten die Hälfte von meinem Gewicht auf die Waage brachte, nichts mit mir zutun haben konnte.
Nachdem sie abermals mit weinerlicher Stimme "Meine kleine Erika!" hervor-gebracht hatte, verlor ich die Fassung gänzlich.
"Was soll das Theater? Meine Eltern sind seit Jahren tot! Ich habe keine Mutter mehr!"
Unbeeindruckt kramte die alte Dame aus ihrer Tasche eine Geburtsurkunde und ihren Ausweis hervor und ich mußte zur Kenntnis nehmen, sie hatte Recht!
Völlig verstört fuhr es aus mir heraus: "Und was soll das jetzt noch, nach über 40 Jahren? Mein Leben ist geregelt! Jetzt brauche ich keine Mutter mehr!"
Zutiefst verletzt wollte die Frau mein Büro verlassen.
In diesem Augenblick begriff ich erst, dass es ja die Stimme m e i n e r Mutter war, die noch etwas von langer Geschichte, Zwangsadoption und DDR murmelte. Ich lief ihr nach und legte meine Hand auf ihre Schulter.
Der Winterurlaub war inzwischen in weite Ferne gerückt.