Gesammelte Menschlichkeit
Der alte Mann blickte auf. Seine Augen schmerzten.
Draußen war es bereits Nacht geworden. Das Mädchen saß reglos auf der Bank neben dem Fenster und sah ihm zu. Ihre blauen Haare schimmerten im Licht des Vollmonds, das von draußen hereinfiel.
"Er wird es nicht tun", sagte er.
"Mach weiter" sagte sie", wenn er zurückkommt muss es fertig sein."
"Er wird es nicht tun!", wiederholte er, diesmal mit fester Stimme.
"Ich weiß, dass er es tun wird", entgegnete sie. "Stell Dir nur vor, er kommt zurück, und Du bist nicht fertig. ...Was für eine Enttäuschung. ...was für ein Verlust! Er vertraut auf dich."
Der Alte wusste nichts darauf zu erwidern. Er seufzte schwer und schnitzte weiter an dem winzigen Stück Pinienholz. Immer wieder legte er es auf die Skizzen, um die Umrisse zu überprüfen. Je kleiner die Teile wurden, desto mehr Schwierigkeiten bereiteten sie ihm.
Er legte das fertige Holzstück auf den Tisch. Das Mädchen nahm es und befestigte mit kleinen Stiften zwei dünne Lederriemen daran, dann verband sie es auf die selbe Weise mit den restlichen Teilen. Das Gebilde klapperte leise während sie das neue Stück daran festmachte.
Inzwischen war der alte Mann aufgestanden um sich eine weitere Kerze zu holen.
Auf dem Fensterbrett sah er die tote Grille liegen. Das Mädchen, bemerkte seinen Blick und schnippte sie einfach weg. "Beeil Dich! Er wird bald zurück sein".
"Gibt es wirklich keinen anderen Weg?" fragte er, als er das letzte Stückchen vor sie hinlegte.
Sie nahm es ohne ihm zu antworten.
"Wie kannst Du wissen, dass es nicht misslingt?"
"Wie kannst Du daran zweifeln?", entgegnete sie. Du weißt wie kein anderer, dass er ihm Leben geben kann.
Sie legte das fertige Stück auf den Tisch.
Sechzig Knochen aus Pinienholz geschnitzt formten die Nachbildung des Skeletts eines menschlichen Arms. Perfekt bis in die kleinste Fingerspitze.
Der alte Mann sah aus dem Fenster. Unten im Dorf waren Lichter in den Häusern angegangen. Er konnte Leute mit Fackeln auf dem Marktplatz erkennen. Ihn beunruhigte der Gedanke, was diese Geschäftigkeit ausgelöst haben könnte, aber ihm blieb keine Zeit darüber nachzudenken. Die Tür zur Stube öffnete sich mit einem vertrauten Knarren.
Sein Sohn war zurückgekommen.
Er wirkte aufgeregt, fast fröhlich.
In seinen Händen hielt er den Arm eines Kindes, die Haut bis zum Halsansatz erhalten, genau wie sie es verlangt hatte.
Mit klappernden Schritten lief er zu dem Mädchen. "Ist es so richtig? Hab ich es richtig gemacht?" wollte er wissen und streckte ihr das blutige Körperteil hin. Sie nahm es entgegen und legte es auf das hölzerne Skelett. "Perfekt, mein Lieber, Dein erster richtiger Arm", sagte sie und lächelte ihm zu. Ich werde ihm gleich die Haut abziehen und die Knochen einsetzen die dein Vater gemacht hat." Sie nickte dem alten Mann zu.
"Leg dich auf den Tisch, mein Junge", sagte dieser und sein Sohn gehorchte ohne zu fragen. Dann nahm er die Säge zur Hand und trennte den linken Arm des Jungen ab.
Während er mit dem Stemmeisen seine Schulter bearbeitete um eine geeignete Pfanne für das Gelenk herauszuarbeiten fragte sein Sohn: "Du, Geppetto? Wann werde ich ein echter Junge sein?"
"Schon bald, Pinocchio, schon bald" antwortete der und Tränen liefen über sein Gesicht.