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Geschichte aus Otzenrath
Es dämmert. Tom sitzt auf dem Balkon ohne Geländer, lässt seine Beine baumeln, raucht und wirft einen Blick übers Dorf. Alle Türen sind zugemauert, sämtliche Jalousien herabgelassen und die Fensterbuchtungen im Erdgeschoss zusätzlich mit Sperrholzbrettern verbarrikadiert, mit Einschlägen wie von einem Vorschlaghammer, zertretene Fensterläden, Steinwurflöcher, Gerümpel kotzende Garagen und abgerissene Regenrinnen.
Neue fehlende Häuser fallen Tom auf. Die Hagenbauers sind ja nach Berlin gezogen; ihr Haus ist wie niemals da gewesen. Schade, denkt er, da er Sybille gemocht hat. Seine Eltern begrüßen es nicht, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit noch in Otzenrath verweilt; sie warnen vor den Stadtidioten, den Zerstörungssüchtigen, den Plünderern, den Satanisten und den Hunden. Zwar fahren einige Männer mit weißen Pick-ups durch die leeren Straßen, kontrollieren und patrouillieren wie Cheriffs in amerikanischen Vorstädten, doch man hört von betrunkenen Halbstarken, die in einem alten Haus eingebrochen sind, nachdem sie sich in finsteren und grausig leeren Kellergewölben Gruselmärchen erzählt hatten, wie es zu einem Kult geworden ist.
Als hätte eine Bombe eingeschlagen; Tom sieht den Unkrautgarten, den langsam die Dunkelheit frisst, das zerschlagene Gewächshaus, die Rippen des Gartenhäuschens, und steht auf, läuft über den grauen Teppich der ehemaligen Wohnstube, schaut in sein altes Zimmer und ist nicht traurig. Sein Vater Alfred ist nicht mehr derselbe seit dem Umzug, doch Tom ist nicht traurig. Der Junge kann es wohl noch gar nicht so richtig begreifen, erklärt seine Mutter Toms fehlende Trauer. Für sie war es ein Schock, als die Nachricht der Dorfverlegung eintraf. Lange hatte man gekämpft, aber die Bagger waren millionenschwer gewesen. Tom will dabei sein, wenn sie das Haus einreißen, vielleicht empfindet er dann etwas. Deswegen ist er jeden Tag dort, um es nicht zu verpassen, fährt nach der Schule mit dem Fahrrad hin und wartet auf Bagger, die scheinbar nie arbeiten, und wenn er einmal nicht hingesehen hat, fehlt da ein Häuserblock und dann da, und zack ist die Kirche weg, und Tom sieht die Bagger doch nur eingezäunt auf dürren Boden stehen, als würden sie schlafen, sich ausruhen.
Jedenfalls ist er nicht traurig, so leid es ihm tut, aber er kann den Unterschied einfach nicht erkennen: Oft war er mit seinem Kumpel Benedikt nachts draußen gewesen, in Otzenrath, wenn sie aus dem Wald kamen. Man hörte keinen Mucks, sah nur das Operationslicht der Straßenlaternen, Fernseherflackern hinter strammen Lamellen, dunkelen Vorgärten, stillen Straßen. Vereinzelte Katzen fauchten gelegentlich von links nach rechts. So ist es jetzt in Otzenrath (neu) nicht anders; trostlos und trist nennt er, was seine Eltern idyllisch und ruhig nennen. Wie gerne wäre auch er weggezogen, in die Stadt, nach Düsseldorf, wie es einige Familien vorgezogen haben. Doch sein Vater will weiterhin nah am Kraftwerk wohnen, das ihn jeden Tag aufs Neue verschlingt, so wie schon im alten Otzenrath. Nur die Verkehrsanbindung ist besser geworden. Und Toms Schule in Grevenbroich macht auch nicht den Anschein, abgerissen zu werden, wenn es auch so aussehen möge, als würde sie jeden Moment einstürzen. Hätte Gott die Braunkohle doch nur unter dem scheußlichen Schulgelände vergraben.
Er trampelt die schuttbeladene Treppe hinunter und tritt auf die Straße, die vor Stille zu beben scheint. Nur das leise aber grausige und grässliche Dröhnen der Pumpen, die Wasser aus der Erde schlürfen, ist zu vernehmen, verlässt die Ohren nicht. Alles ist dürr und trocken, kaum wächst noch etwas, auser Dornenbüsche und Hagebutte. Egal, wo man sich befindet, mag es auf dem alten Apfelhof sein, den Tom hastig überquert, wo immer die Älteren saßen und geraucht, gespuckt und mit Kastanien geworfen haben, mag es auf der Dorfserpentine sein, wo es nicht mehr nach Most riecht, sondern nach Bauschutt und Lehm, oder auf der Hauptstraße, die sich schweigend die Ebene entlangwirft, Ruinen und offene Keller zu beiden Seiten. Das Dröhnen scheint durch die Beständigkeit lauter zu werden, auffälliger jedenfalls. Mitten im Häuserfriedhof ist jeder zu vernehmende Klang ein Ereignis, schon fast ein Schreckensgefühl, da man stets den Sender zu lokalisieren versucht, wenn man es selbst nicht gewesen sein kann.
Tom beschließt, den Heimweg anzutreten, zur zerfallenen Bäckerei zu laufen, vielleicht sogar zu rennen, vor der sein Fahrrad lehnt, so wie vor einem halben Jahr noch, als er sich dort immer sein Nougatcroissant nach der Schule gekauft hat.
Im Haus der alten Frau Orbs drückt Licht durch Vorhänge; die garstige Witwe weigert sich zu gehen, will und kann sich die letzten Jahre ihres Lebens nicht an ein neues Haus gewöhnen, welches Straßenname, Hausnummer und Hausrat übernehmen würde, nur woanders, da, wo kein braunes Gold unter dem Haus liegt, einige wenige Kilometer weiter in einer Neubausiedlung. Ihr Haus trägt kein Schild „Betreten des Gebäudes verboten“, wie es die verlassenen Häuser tun. Tom steht still und versucht, etwas zu hören, ein Lebenszeichen der alten Frau, um die man sich in Otzenrath (neu) gründlich Sorgen macht. Er erschreckt, ist aber sehr schnell wieder beruhigt, als
klingelt. Verfolgt vom kontinuierlichen, schrillen Klingeln geht Tom die Straße hinunter. Es klingelt schon das achte Mal. Neun Mal. Zehn Mal. Tom geht langsamer. Elf Mal. Zwölf Mal. Er bleibt stehen. Dreizehn Mal. Nur noch wenige Schritte zur Bäckerei. Er dreht sich um und betrachtet das eine erleuchtete Fenster in dem einzigen belebten Haus. Kein weiteres Klingeln ertönt. Die Pumpen dröhnen wieder. Tom geht weiter, will sich gerade sein Rad schnappen, da klingelt es wieder, einmal, zweimal, dreimal. Er will es ignorieren, einfach fahren, nach Hause, schnell, sich nicht umdrehen, nichts von der alten Frau wissen, einfach fahren. Doch er kann nicht. Es klingelt immer noch, verstummt erneut und erklingt aufs Nächste. Jeden Schritt, den er die Straße wieder zurückgeht, wird es kräftiger, dringender, ruppiger. Das Lichtfenster stets im Blick, zündet er sich eine Zigarette an und greift sich eine handliche Holzlatte, die aus einem Zaun gebrochen ist. Jetzt steht er vor dem Haus, das Telefon hat schon weitere drei Male eingesetzt. Er klingelt und Türschelle und Telefon wechseln sich ab, dann vermischt, dann die Türschelle permanent, das Telefon im Intervall dazu, das Telefon alleine, nichts passiert. Nichts passiert, da kann er klingeln, solange er will, nichts passiert. Die Haustür lässt sich nicht aufdrücken, doch ein Fenster steht offen. Tom steigt ein. Sein Handy hat er in der Tasche, den Knüppel fest in der Hand, das Sturmfeuerzeug ist verlässlich und unauffälliger als eine Taschenlampe. Die Treppe knarrt, das Telefon wie schon gewohnt, Schritt für Schritt, hinauf in den ersten Stock, zum beleuchteten Zimmer, die Hand streckt sich zum Lichtschalter, betätigt diesen rasch. Er sieht sich um, sputet sich jetzt, sieht das Telefon mit der Wahlscheibe auf der Kommode, zögert kurz, greift dann entschlossen nach dem Hörer und hört schon das Tuten, legt wieder auf. Soll es noch einmal klingeln, wie schon die ganze Zeit. Doch nichts passiert. Er sieht sich um. Zum belebten Zimmer geht es geradeaus, am Ende vom Flur noch eine Etage höher. Fotos an der Wand zeigen eine üppige Familie. Tom ist sich nicht sicher, aber er glaubt, die alte Frau Orbs zu erkennen, inmitten der Familienriege, lächelnd, die ganze Bande lächelnd, als würden sie gerade „Käsekuchen“ sagen.
Als das Telefon schreit, bleibt Tom kurz das Herz stehen. Langsam greift er den Hörer und drückt ihn sich ans Ohr. „Hallo?“, fistelt er.
„Hallo? Hallo?“, fragt eine aufgeregte Frauenstimme. Tom spürt, dass am anderen Ende die Telefonschnur nervös um Finger gewickelt wird, vielleicht hört er es auch, so still ist es, um ihn und auch am anderen Ende.
wiederholt sich, etwas energischer: „Hallo?“
„Ja, hallo“, stottert Tom, die Familienfotos im Auge behaltend.
„Wer ist da?“, will das andere, unbekannte Ende wissen.
„Ich heiße Tom. Ich war noch einmal bei mir zuhause, dann wollte ich fahren, und dann hat das Telefon geklingelt, ich bin durchs Fenster gestiegen, und …“
„Tom Matschuk?“ Seinen eigenen Namen zu hören, ist beunruhigend.
„Jaaahaa“, sagt er langsam.
„Tom, wir kennen uns. Das heißt, ich kenne deine Eltern, Alfred und Hanna. Hier ist Renate Schling. Irmgard, also die Frau Orbs, ist meine Mutter. Tom, gut, dass du da bist. Aber … was ist mit meiner Mutter?“
„Ich weiß es nicht. Ich bin, wie gesagt, noch mal bei unserem alten Haus im Lilienweg gewesen, wollte sehen, ob es noch da ist, und wollte gerade wieder in die Siedlung fahren, als ich das Telefon klingeln gehört hab, und es hat nicht aufgehört zu klingeln, und da ist keiner rangegangen, obwohl das Licht doch leuchtet, und da bin ich durchs Fenster rein“, erläutert Tom, als würde er mit der Polizei telefonieren. Die Frau am anderen Ende weint.
„Mein Mann ist schon unterwegs, er dürfte bald da sein. Ich hab versucht, weiter anzurufen. Oh Gott, hoffentlich hat sie sich nichts getan. Du musst wissen, ich und mein Mann, wir haben einfach keine Zeit, ständig bei ihr zu sein. Wir müssen doch beide arbeiten. Wir fahren ja schon so oft wie möglich runter. Und andere Verwandte haben wir ja auch nicht. Tom?“
„Ja?“
„Bleib bitte ganz ruhig. Kannst du bitte mal schauen, wo sie ist, obs ihr gut geht? Zu dieser Zeit badet sie meistens noch ihre Füße im Fernsehzimmer. Die Tür direkt vor dir.“
…
…
…
„Ich nehm das Telefon mit!“
„Ja. Ja, nimm das Telefon mit, ich bin da!“
„Ich mache jetzt die Tür auf.“
„Ja, gut. Sie muss weiter hinter, um die Ecke sitzen. Was siehst du?“
„Es ist hell, alles beleuchtet. Kein Fernseher.
Ich gehe jetzt um die Ecke.
…
…
Ich kann niemanden sehen.“
„Im Sessel vor dem Fernseher. Sitzt sie da nicht?“
…
…
„Doch. Doch, ich glaube, da sitzt wer. Ich sehe eine Wanne. Und Füße drin.“
„Hab keine Angst, Tom! Ruf sie mal, vielleicht ist sie eingeschlafen.“
Tom ruft den Namen. Nichts regt sich. Sein Rufen scheint durch den Raum zu zittern. Auch Tom selbst zittert am ganzen Leib. Die Wohnung sieht wie die einer jeder Oma aus, mit Obstschalen und alten Möbeln, beigen Teppich, hässlichen Lampen und übermäßig vielen Sofas. Er erkennt schrumpelige Füße, fette Waden, die in den Sessel laufen. Sie bewegen sich nicht, liegen ruhig in einem gelben Bottich, der Wasserstrich schimmert durch. Auch das Wasser ist still, bewegt sich keinen Millimeter. Weiter kann er nicht herumsehen. Er müsste näher rangehen. Das Telefon hat er fest gegriffen, den Hörer in der einen Hand, die Station in der anderen. Seine Hände schwitzen. Jetzt fällt Tom auf, dass er, um das Telefon mit sich nehmen zu können, den Holzschlägel auf dem Telefonschränkchen liegengelassen hat, was vielleicht auch besser so ist, schließlich soll sich die alte Frau ja nicht zu tode erschrecken.
„Was ist? Bewegt sie sich nicht?“, auch die Stimme aus dem Telefon wird hektischer.
„Vielleicht hat sie ihr Hörgerät ausgestellt. Geh einmal herum! Sie wird’s ausgestellt haben, und ist dann eingeschlafen, so wird’s gewesen sein.“
Jetzt hat Tom soviel Angst, wie noch nie zuvor in seinem Leben.
„Aber erschreck sie bitte nicht. Geh ganz sachte, so, dass sie dich sieht.“
Der Raum scheint zu wackeln. Langsam geht Tom links von der Seite hin zum Sessel, sieht Beine, einen ganzen Körper.
„Ich bin gleich da. Ich hoffe, sie erschreckt sich nicht,“ sagt er, als hätte er keine Angst.
„Ja, ganz vorsichtig. Kannst du sie sehen?“
„Ja, ich kann sie jetzt sehen. Sie sitzt da, hat die Augen zu. Was soll ich tun?“
„Ich weiß nicht. Sie kennt dich nicht. Vielleicht warten wir besser auf meinen Mann. Er dürfte gleich da sein.“
„Wird wohl besser sein.“ Und schon hört Tom ein Auto bremsen, eine Tür zuschlagen.
„Ich glaube, das ist er“, sagt Tom erleichtert und blickt zurück, die Telefonschnur entlang, die gestrafft um die Ecke verläuft. Er hört die Haustür, beruhigt sich langsam, dreht sich wieder um, sieht an der alten Frau Orbs hoch und ihre Augen sind groß und angsterfüllt. Sie krallt ihre Hände in die Sessellehnen und stammelt etwas.
„Hallo?! Hallo?! Sie ist gerade aufgewacht, sieht mich an, könnten Sie ihr bitte …“
Dann hält er das Telefon zum Sessel hin. Die alte Frau starrt entgeistert, erst zum Hörer, dann wieder zu Tom.
Plötzlich steht ein rüstiger, beleibter Mann im Zimmer und schwingt mit Toms Holzlatte.
„Findest es wohl lustig, alte Omas zu erschrecken, wie?“
Tom verschlägt es die Sprache. Hörer zurück ans Ohr: „Ihr Mann ist da. Er denkt wohl, ich wollte …“
„Spiel keine Spielchen!“, schreit der Mann und rückt näher. Tom geht zurück, deutet auf den Mann, die Oma soll sich umdrehen, ihren Schwiegersohn erkennen.
„Kannst mir das Telefon gleich hergeben, damit ich die Polizei rufen kann. Glaub mir, is besser für dich!“
„Erklären Sie Ihrem Mann bitte, dass ich nichts gemacht hab,“ stammelt Tom etwas lauter in den Hörer.
„Ja, ja. Werd ich tun. Gib ihn mir. Er kennt dich ja nicht.“ Tom rückt einen weiteren Schritt zurück, während der Mann immer näher kommt. „Vielleicht …“
Tom spürt einen Ruck und hört aus dem Hörer nur noch Tuten. Die Telefonschnur liegt lasch im Raum.
„Gnade dir Gott!“, schreit der Mann und hebt den Prügel, bereit, auf Tom einzuschlagen. Da erhebt sich die Oma aus dem Sessel und steht auf, wie man es ihr nicht mehr zugetraut hätte. Wider Toms Erwartung rutscht sie nicht im Bottich aus und nimmt einen Finger zum Ohr. Tom kann ihr Hörgerät sehen und spürt gleichzeitig einen heftigen Schlag auf dem Kopf. Bewusstlos sackt er zu Boden, während Oma Irmi das Zeitliche durch einen Herzstillstand segnet und das unglückliche
der Otzenrather Geschichte besiegelt. Frau Orbs wurde auf dem Friedhof in Otzenrath (neu) neben ihrem Mann beerdigt, den man, wie alle anderen Gräberinsassen, bereits in die neue Heimat verlegt hatte. Herr Schling konnte sich mit Toms Familie und deren Anwalt auf eine Abfindung einigen. Tom selbst ist nach einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt wohlauf und randaliert mit seinem Kumpel Benne jeden Freitagabend in Otzenrath (neu). Ins leerstehende Otzenrath hat er sich nicht mehr gewagt.