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Geschichten aus Be-Erde
»Hanns Martin, Hanns Martin,
Hanns Martin liegt im Kofferraum,
der Kopf ist ab, er atmet kaum ...«
11.11.1977
Gangsterpaares Bonnie und Clyde haben für gut
eine halbe Million [US-]Dollar (393.000 Euro)
den Besitzer gewechselt. Laut CNN handelt es sich um …“
ARDtext Seite 147 vom 1.10.2012, 13:50 MESZ
Die Schreibwerkstatt der Volkshochschule zu O wurde zur Jahresversammlung des Verbandes der Deutschen Schriftsteller in A eingeladen, vor den versammelten städtischen Bediensteten eine Lesung abzuhalten. Während einer nach dem andern der geladenen Gäste der Stadt A einen Text las, wurde der junge Bursche links außen auf der Bühne immer nervöser. Um alles in der Welt säße er zum ersten Male in seinem Leben lieber rechts als hier und hätte seinen Auftritt schon hinter sich. Doch bevor der Kreislauf noch rebellierte, und wär’s nur, um die Lesung abbrechen zu können, ereilte ihn das Schicksal und er las das erste Mal in seinem Leben vor hunderten von Leuten und mit jedem Wort seiner Rede wurde die Stimme fester:
Wir Städter
sind arme Luder.
Wohin wir schauen, autoimmobiler Verkehr potentieller Leichenwagen.
Wir essen, was durch die Hände des Handels gewiss nicht saub’rer wird.
Wir hausen in Schubladen;
jeder ein kleiner Patriarch.
Jeder ist dem ander’n ein and’rer und verhält sich, wie er glaubt, dass der andere glaube, dass jeder sich also verhalten müsse. Und jeder hat nur insofern was gegen den ander’n, als dieser was gegen ihn haben könnte. So ist denn der eine dem ander’n einer zu viel: schutzbedürftig zieht jeder sich in seine Höhle zurück.
Nachbarn lassen einander am Wohlstand teilhaben: Klavier – Musiktruhe – Fernseher.
Wir üben, hören, leiden mit.
Quecksilbrig plärren
Mainzelmänner wider den populären Lungentod. Bleierne Gedanken erdrücken den, der nicht mitmacht beim Eiertanz um Götzen Lebensstandard. Stickige Luft stinkt zum Himmel. Mieten stinken nicht.
In solchem Klima gedeiht Bodenspekulation: lohnende Metaphysik. Preisgegeben dem freien Markt sammeln sich Grund und Boden unterm Finanzstarken: Macht macht Macht. Und wer Macht hat, leistet sich auf dem Lande ein Häuschen mit Garten, Gärtner und andern haushaltsnahen Beschäftigten etc.
Hilflose Alte werden in den Acker getan: dem wertvollen Boden ein preiswerter Dünger.
Lärmend geben Aschenmänner den Städtern geleerte Urnen zurück.
Stickige Luft steigt zum Himmel, dass Gottvater sich die Nase zuhält.
Es füllen sich die Opiumhöhlen und die Taschen des Grashandels.
Leute hüllen -
erstens - ihre Kinder in Cellophan und behaupten, ihre Kinder zu lieben.
Und in der Tat: die lieben Kleinen behaupten nichts Gegenteiliges.
Doch wird ihnen vorher das Maul mit süßlichem Leukoplast verklebt.
Leute fahren -
zwotens - Fettklößchen, die sie Kinder heißen, in feinen Staatskarossen durch Beerde und krähen:
schaut her, wir sind’s!, so sind wir zu unser’n kindern: -
werden sie’s uns jemals danken?
Stolz zeigt –
drittens - eine jugendliche Frau ihr schönes neues Gebiss,
nimmt’s heraus,
reicht’s herum und
lässt’s bewundern.
Fürwahr: da ist kein Makel an ihm.
Die Leute
sind hier arm.
Ihrer sei das Himmelreich!
Blasse Kinder haben comicsüchtige Stielaugen. Großmütter und Enkel bilden eine gleichförmige Masse, die Bild bildet. Darum ist Springer ihr Wohltäter. Ein christlicher Hirt’ unter blökender Herde.
Also ist Gleichheit verwirklicht.
Wer anders fühlt, gehört ins Irrenhaus.
Ein Stück Verfassungswirklichkeit.
„Mitbürger!
Mitbürgerinnen!
Anarchie ist ausgebrochen. Und wer ist dran schuld? Die vaterlandslosen linken Linken. Darum wählt:
Springer!“
Und die Herde wählt an Kiosken.
Anarchisten
zu jagen wird in.
Jeder ist verdächtig;
jeder verdächtigt jeden;
jedermann ein potentieller Anarchist:
Theorie des Marketing.
Es soll, so hört man, mehr Anarchisten als Einwohner geben.
Ein Hubertusjünger erschießt ein Pferd auf der Weide und entschuldigt sich: er habe das Pferd für ein Wildschwein gehalten.
Erste polizeiliche Erfolgsmeldung:
verdächtiges Schwein erlegt.
Die vorgefundene Hundemarke weist den Erlegten als Verfassungsschützer aus.
Irren ist menschlich.
Le petit Fouché
spielt große Oper:
Ärmel auf- und’s Leben umgekrempelt.
Ouvertüre:
Leichenwagen rollen heran, verbarrikadieren Straßen.
Wachhunde der Nation bellen den Radikalismus aus.
Fouché bläst Blech.
Es wagnert ein wenig.
Horch, man marschiert wieder und geht fremd.
Einige
sterben früher, alle andern später.
Bei einigen wird nachgeholfen.
Fouchés Wachhunde kreisen ein verdächtiges Subjekt ein.
Sie sehen: Bart und Mähne,
hände hoch!
Der Bart gehorcht.
Welch ein Fehler!
Wachtmeister Y reflektiert und ballert.
ich hab’ gedacht ...
Er dachte recht trefflich.
Also ist der liebe Gott den Heldentod gestorben.
Und der Leibhaftige sitzt derzeit ein.
Merke: es stirbt sich schnell auf beerd’schen Straßen.
Die liberale Presse liefert Nachrufe.
Was war
gescheh’n in Beerde?
Der Feineleutegegend entsprungen machten sich auf Bonnie & Kleid, ein großes Werk zu schaffen.
Er war ein ganzer Kerl, Kraft- und Sexprotz und imponierend als Versager, der ihr im Bett nichts versagte.
Gepackt von Lust verwandelten sie’s Mobiliar Beerdes in Brennholz:
und siehe, es brannte einmalig.
Konsequent gingen Bonnie & Kleid daran, gesellschaftliche Maximen zu vollstrecken: warfen ihr Leben weg, um eine bombige Aktion der ander’n folgen zu lassen –
im ganzen also zwo.
Vom Katzenjammer erwischt, reißen die Helden ihre Mäuler auf und schrei’n.
Der Sexprotz entpuppt sich als Schlappschwanz.
Staatsanwälte
haben ein Interesse daran, Beschuldigte hineinzulegen. ’s ist ihr Beruf. Sie machen damit Karriere. Springer aber erhebt sich zum Anwalt des Staats.
Jedermann sein eigener Rechts- wie Staatsanwalt.
Horch: wir leben in einem Rechtsstaat.
Derweil
lebt unauffällig unter seinen Leuten der wahre Revolutionär und spricht:
[vas nytst mi:ɐ ’ɔpo’zitsįo:n?
vas taugt ’ɔfnə ’rebelįo:n?
ɪç hap ’ainən bə’ru:f, klait mɪç ’al’tæglɪç mit dem ’faign’blat de:ɐ ʊn’aʊf’fællɪgkait,
das mɪç ’ni:mant e:ɐ’kɛnə.]
Im Urlaub erwirbt er sich Bräune,
in der Freizeit sieht er fern,
während der Arbeitszeit leistet er Durchschnittliches gleich den meisten Leuten,
die um ihn herum leben.
So lebt unter Seinesgleichen der Revolutionär und denkt:
[’di:zɐ ʃtɑ:t ɪst nɪçt main ʃtɑ:t.
kain ʃtɑ:t ɪst ’ybɐhaupt main ʃtɑ:t.
mɪt mi:ɐ ɪst kain ʃtɑ:t tsu ’maxn.
ɪç lep ɪn ’ainɐ ’ʃup’lɑ;də,
di: mi:ɐ nɪçt gə’hœrt.
ɪç lep ɪn ’ainɐ vɛlt,
di: mi:ɐ nɪçt gə’hœrt.
’mainə vɛlt gə’hœrt ’fɛtn ’gɛlt’zækn.
nu:ɐ main laip ɪst main ’aigənɐ.
also bɪn ɪç ’laip’aignɐ.]
Eigentumspolitik.
Aschenmänner
kommen und räumen den Müll weg.
Für Sekunden herrscht das Klappern der Abfalleimer.
„Welch ein gutes Publikum“, dachte der Vorleser ob der gespannten Ruhe, um dann die Furcht aufkommen zu lassen in der alternierenden Frage, „oder schläft es?“, als ein ebenso junger Mann wie der Vorleser selbst inmitten der Leute aufstand und rief: „Versteh ich nicht!“, was vom vielstimmigen Gemurmel um ihn herum verstärkt wurde – als der Vorleser seinerseits schnoddrig murmelte „Man muss auch nicht alles verstehn …“, was die Leute von A deutlich verstanden und den Leuten aus O die Leviten lasen.
***
Die aber soeben lauthals zur Ordnung gerufen haben und nun Anweisungen geben, sind gleichermaßen Repräsentanten des gastgebenden A wie Vorgesetzte des Publikums, das anderthalb Stunden vorm regulären Ende der Dienstzeit seinen Arbeitsplatz verlassen durfte, sofern es an dieser kulturellen Veranstaltung teilnehme. Allein die Aussicht eines vorzeitigen Feierabends hat das Publikum in den Saal gelockt, das sich nun mit der Wortmeldung seines jungen Kollegen um diese Hoffnung gebracht sieht. So schlägt das Murmeln um in Murren, dass der Levitikus der Bosse unerhört im orkanartig aufbrausenden Getöse verhallt.
Im Radau wird beiden Helden flau: Dräu’n dem im Publikum Harndrangsale, rutscht dem auf der Bühne das Herz in die Hose und bevor die Wutwelle auf die Bühne überschwappt, um volkstümlich wie handfeste die paar Leutchen aus O zu feiern, türmen der Vorleser da oben wie der Zurufer da unten mit einem solidarischen „Ach leck(t) mich doch …!“ allsogleich im Duett, wenn auch wortlos, die Treppe hinab in den Keller, galoppieren zu den Wasch- und Aborträumen der mannhaft Bediensteten der Stadt A und verschwinden: der Vorleser in einer Kabine, der Rufer an einem Becken.
Kurz: ein jeglicher an seinem Ort!
Da sitzt nun der verstummte Vorleser und hat sich eingeschlossen, als wäre nicht in unserer strahlend hellen Zeit ein offener Stuhlgang wie der öffentliche Fick ebenso demokratisch-chic wie eine öffentliche Hinrichtung in finstersten Zeiten! Das Häufchen Elend verflucht sein eigenes, lockeres Mundwerk und fragt sich, ob es wieder so weit wäre, dass um des lieben Friedens willen Verhältnisse hingenommen würden, die nur wenige Nutznießer fänden, denen Missbrauch und Nießbrauch nicht nur ähnlich klängen, sondern ein und dasselbe bedeuteten. Da wäre es nur konsequent, dass die Kunde über die Verhältnisse Empörung auslöste, die sich gegen den Überbringer schlechter Nachricht richtete – und wäre es wegen des Verstoßes wider Rechtschreibung und guten Geschmack, wenn schon eine Klage wider die poetische Gefährdung einer allzu prosaischen Welt keine Aussicht auf Erfolg nach der Sprachprozessordnung wie dem Infotainment verspräche.
Wie ihm also jammert, pocht’s heftig am Kämmerlein und eine Stimme schnarrt: „Autor wie Vorleser der Kakophonie aus b’Ärde stelle sich der hohen Sprachgerichtsbarkeit zu A!“, als auch schon die Klotür ausgehebelt wird durch ein gertenschlankes, zackiges t und ein dickarschiges, wenn auch nur wenig behäbiges d. Ein o, das für gewöhnlich zwischen den beiden als Reifen hin und her gerollt wird, wird von d als Halsschmuck getragen.
Wie das t bellt: „Stehn S’e auf, Mann!-
Woll’n wer sein und bleiben doch ein Niemand!“,
säuselt das o-geschmückte d: „Mein lieber Herr Gesangverein –
wie sehn Sie denn aus? –
Würden Sie bitte den Lümmel abtrocknen und Ihr Allerwertestes putzen?“
Doch die Lautstärke des t übertönt das säuselnde d: „Wie sehn S’e überhaupt aus! -
Schämen S’e sich nich’?! –
Wär’n solcher Aufzug der Würde eines Gerichts angemessen? –
Nee, sag ich! –
Is’ dat der Aufzug, in dem man heut ungestraft vor Gericht erscheinen darf? –
Nee!, schleuder ich Ihnen entgegen. –
Unwürdig wie Ihr Vergehen“, während es gleichzeitig aus dem andern Munde beschwichtigt: „Nun aber rasch, mein Lieber! –
Geben Sie sich keine Blöße und lassen Sie sich nicht vom Kollegen t allzu sehr einschüchtern! –
Jeder tut nur seine Pflicht, so gut er kann.“
Und als der Kollege t einmal still ist, flüstert’s: „Würden Sie bitte Ihre Blöße bedecken!?“, als t wieder bellt: „Hose hoch!, oder mein’S’e, dat’n ordentlich’ Gericht nix gegen Pornografiker oder Exhibitionisten hätt?“
Aber unser junger Freund scheint nichts gelernt zu haben, denn abermals reitet ihn der schnoddrige Teufel, wenn er den Kunzelmann gibt mit einem „Wenn’s denn der Wahrheitsfindung dient!“
Und also geschehe, was geschehen muss!, denkt sich der weniger allmächtige, denn beschissene Schöpfer dieser Zeilen und unser Antiheld wird von t und d in die Mitte genommen und vor der Haute-Cleauture aufgestellt.
Im mittleren Pinkelbecken sitzt im Talare ihrer Verbeamtung die Liebe seiner pubertären Jahre – er erkennt sie an dem Teleskophals, wie ihn der begnadete John Tenniel verewigt hat. Zu drei Seiten wird der Giraffenhals durch eine mehr als barocke Allongeperücke aus Pferdehaar verdeckt. Keiner merkt, wie’s Herz bibbert, wie heiß dem Jüngling wird und wie schwach im Knie und weitaus schlimmer noch im Kopf … Dazu köchelt’s da vorn vor Arbeit.
Das kann dauern!
Das wird dauern!
Es dauert mich. –
Was aber Leser wie Hörer schaudern lässt: Drei – oder wären’s vier?, ein Problem für einen, der gerade eben nur noch bis drei zählen kann – Fälle drängeln sich vor unserm Trio in den bis zum letzten Platz gefüllten Wasch- und Aborträumen der manniglich Bediensteten der Stadt A - nur freigehalten durch einige Schüsseln mit Buchstabensuppe der freundlichen Tafel zu A für die armen Leute vor Ort.
Unser junger Freund ist noch zu weit weg, um den laufenden Verfahren folgen oder gar Rückschlüsse auf sein eigenes künftiges Verhalten ziehen zu können. Vor ihm stehen, von vier Vertretern der Familie Kreuz (Andreas, Anton, Schächer und der immer auf dem Kopf stehende Peter) bewacht ein großes kurvenreiches S, ein eckiges und zugleich zackiges Z – zackiger als ein t je sein könnte! - und, direkt vor unserm Helden - er riecht es, und es riecht ihm gut, dass er weiter an ihm schnuppern muss - ein kleines, offensichtlich eingeschüchtertes und – erkennt man nicht das Bäuchlein? - schwangeres ß! Unser Held empfindet es als den schönsten Buchstaben, den er je gesehen hätt’, nur noch vergleichbar dem jüngeren @ und dem uralten Þ, das schnöde schon vor Zeiten mit dem th einem schlichteren Formwillen angepasst wurde und verkommen ist und in seiner Muttersprache als ausgestorben gilt.
’s duftet appetitlich, dass ihm nach dem ß hungert. Wie er aber gerade zu träumen beginnt, rückt der Zug einen Fall vorwärts und ein Kreuz stößt ihn an, so dass er stolpert, sich am ß festhält und mit zu Boden reißt. Das ß flüstert ihm mit einer warmen Stimme zu, die ihn schaudern lässt. Der Wunsch kommt auf, ewig und drei Tage mit dem ß zusammen zu bleiben und weniger mit der Liebe seines pubertären Vorlebens. ’s ist aber ein Hilferuf, den ß ihm flüstert: „Rette mich, Menschenkind! Meine Eltern wollen mich abschaffen durch kurzrichterlichen Beschluss.“
Petrus Kreuz aber – eben der, der immer auf dem Kopf steht - grinst die beiden auf dem Boden an und befiehlt zu schweigen, mault, „husch husch!“, wieder aufzustehn, was dann auch mit freundlicher Hilfe von t und d geschieht, während Andreas, Anton und Schächer Kreuz grinsend zuschau’n.
Nur langsam nähert sich der Zug der richterlichen Schüssel. Schließlich steht die Gruppe der s-Laute vorm Richterstuhl und endlich (!) kann man in dem Trubel dem Geschehen folgen.
Die Richterin stellt sich vor und rattert wie ein Maschinengewehr: „Mein Name ist Lord, -
Sie haben richtig gehört! - ich betone ausdrücklich:
Lord Chief Justice Alice Pleasance Liddell, einen Namen, den ein jeder kennen mag und um den gar niemand wissen muss! Ich bin bestellt ans Schnellgericht zu A und ich bedarf eigentlich nicht innert dieses Sprachgerychts nach der tiutschenglischen Sprachgerychtsordnung der weiblichen Endung“ – und summt auf eine bekannte Melodie „ob Männchen oder Weibchen, weiß Papagena nich’“ – um dann zu brüllen, „wofern einer nicht blind ist! –
Sieht doch jeder, was ich bin!“, um wieder ruhig fortzufahren: „Sie dürfen mich getrost Euer Ehren nennen.
Tun Sie das nicht, werd ich Ihnen einige Unehre verschaffen und Sie werden begreifen, warum ich keine Lady bin!“
Ew. Ehren wendet sich nun an die s-Laute inmitten der Kreuze: „ Nun zu unserm letzten Fall für heute als Schnellgericht! -
Sie sind die Familie der s-Laute“, und als die zustimmend nicken: „Was ist ihr Begehr?“
S klagt, dass das gemeinsame Kind immer seltener Verwendung finde und derzeit mit knapp drei je Tausend einen Tiefstand erreicht habe. Somit sei abzusehen, dass es durch Nichtgebrauch abgeschafft werde. Also hielten sie es, die Eltern des Beklagten, für ein Gebot der Vernunft, das gemeinsame Kind per richterlichen Beschluss aus dem Alphabet zu streichen, statt zu warten, bis es nicht mehr verwendet werde und dann nicht mehr zu gebrauchen sei. „Was soll die Gemeinschaft aller Buchstaben und Laute mit einem nutzlosen Balg?“, schließen die Ältern.
Da lächelt Ihre Lordschaft und sagt streng: „Ich rate Ihnen, fassen Sie sich kurz, denn wir haben keine Zeit und wenn hier einer Reden schwingt, dann bin ich das! –
Nun zu Ihrem Fall:
Es kann sein, dass Sie recht haben. -
Es muss aber nicht sein.
Es kann sein, dass Sie unrecht haben. -
Das sollte aber in Ihrem eigenen Interesse nicht sein.
Wie dem auch sei, der eine muss, der nächste soll, ein anderer kann – oder, wie meine Mutter selig immer so trefflich sagte: der eine so, der andere so! –
Sehen Sie, wenn schon ein großer Schriftsteller und nobler Preisträger“ – die erste Silbe spricht sie wie in Verachtung stumpf und unbetont – „in seinem Geburtsnamen das ß durch doppel-s ersetzt, spricht das für Ihr Argument, wiewohl die Namensumwandlung in seiner Muttersprache wie in seinem Vaterland einen bitter’n Beigeschmack erzeugen muss aufgrund historischer Ereignisse, über die wir hier nicht zu befinden haben.
Aber selbst dem Sprachgesetzgeber gelingt im Gebrauch des verdoppelten Konsonanten unliebsamere Erinnerungen wachzurufen, mehr als das bloß kirchliches Sante und Santi“, um mit einem „Aber“, einen Haken zu schlagen im Angesicht der Familie Kreuz vom Thema weg zu einem andern Problem, „aber, meine Lieben, ist denn das Z mit seiner einskommadreizehn prozentigen Häufigkeit so viel besser dran als sein Kind?“
S und Z schauen sich betroffen an.
Die Kreuze müssen sich das Grinsen verkneifen.
Sollte der Antrag zurückfallen aufs z?
Da, seh’n Sie nur!, ist es nicht ganz klein geworden vor ahnungsvoller Furcht?
Ew. Ehren fährt fort und fragt: „Schaffen wir dann auch die oder das Q ab, egal – ich hab hier nicht über Ihre grammatische Geschlechtertrennung oder Gleichstellung zu befinden – ein Buchstabe also, der doch nur zu nullkommazwo Promille verwendet wird?“
S und z – beide nun klein und ehrfürchtig - schweigen betreten, als Alice fortfährt: „Aber lassen Sie mich das Publikum fragen:
gibt es unter Ihnen hier im Raume jemand, der zu sagen vermag, ob das ß eine Zukunft habe?“
Das ist die Chance des Vorlesers und –
er nutzt sie! Der Vorleser wird zum Zurufer, als er meint, um die Zukunft des ß zu wissen.
„Euer Ehren, durch die modernen Kommunikationsmittel wie Handy…“
Belustigt unterbricht Ew. Ehren den Fürsprecher: „Tiutschiu sind kuriose Völkchen. Meckern über Anglizismen und schaffen ein Kunstenglisch, wie’s ein handling nimmer werden kann“, und in ihrer Muttersprache “hoi polloi needs a littel horse sense!“
Nach einem Lachanfall Ew. Ehrens kann der Fürsprecher fortfahren: „Also: Computer und mobiles Telefon führen dazu, dass das ß für das Doppel-s eingesetzt wird, um Platz und Zeit beim Schreiben einer SMS oder einer e-Mail zu gewinnen …“
„Sie meinen also, dass die Namensendung des besagten Schriftstellers und Nobelpreisträgers durch technische Entwicklung in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt werde?“, fragt Ew. Ehren, und als der junge Mann und Verteidiger nickt, fällt Ew. Ehren aus allen Wolken und –
kann sich nur mit Mühe in seiner richterlichen Schüssel halten: „Was ist das?, gibt’s das ß nur kleinbuchstäblich?!“, ruft Ew. Ehren außer sich: „Das ist ja wie ein unzulässiger Vorgriff auf den nächsten Fall. –
Welcher Flachkopf hat denn den Plan für heute aufgestellt?!
Darf denn solches sein?“, um sich wieder zu beruhigen und wie ein Kätzchen milde zu lächeln.
Ew. Ehren wird zur Grinsekatze, schnurrt und spricht das Urteil: „Im Namen des gesunden Menschenverstandes und der Sprachgerychtsbarkeit zu A wird die Klage der Familie der s-Laute abgewiesen! –
Zum einen hat die Sprachgesetzgebung gerade erst in ihrem § 25 der amtlichen Regelung das ß festgeschrieben - wenn auch gegenüber früheren Regelungen eingeschränkt –
zum andern kann nicht die Aufgabe eines beliebigen Gerichtes sein, über Geschichte an sich und die Schöpfungsgeschichte im Besonderen zu befinden.
Ich rate Ihnen darum, das uralte Gebot zu beherzigen, Vater und Mutter zu ehren!, da haben sich die Alten schon etwas bei gedacht.
Aber alle Regelung entfaltet sich erst in der logischen Umkehrung. –
Was wäre denn diese Regelung wert, wenn Vater und Mutter das Kind weniger ehrten als sie von ihm verlangen und erwarten? -
Nichts!, so viel und so wenig darf ich Ihnen verraten. –
Das Schnellgericht ist geschlossen! –
Suppenküche und Tafel bitte ich abzubauen!
Kurze Unterbrechung bis zum Fall ‚ter Jung gegen de Jong’!“, und als sie mit einem mürrischen „mus’ ma’ eben!“ durch die endzeitlichen Folgen ihrer Anweisungen die Damentoilette aufsucht, erscheint am andern Ende dieser kleinen Welt ein wundersames Quartett gepanzerter Reiter – Schimmel und Rappen mit den Herrenreitern beins und geins wie gacht und bacht, die tragen an ihren vier Enden eine unbedachte Sänfte mit einem Fasan als Stuhlherrn. Der sitzt in dem QP sanft gestimmt und siegessicher – im gegenteiligen Falle, was jederzeit geschehen kann, hieße das QP nicht Sänfte, sondern Härte und Strenge (manchmal sogar umgelautet zum Strang). Und noch bevor Ew. Ehren zurückkehrt, Suppenküche und Tafel aufgehoben sind, steigt der Pv herab von seinem Thrönchen. Da steht nun der große Hühnervogel und schlägt ein Rad mit seinem prächt’gen Schwanze, dass, wenn schon nicht alle Welt, so doch die kleine Welt der Wasch- und Aborträume der mannhaft Bediensteten der Stadt A die zahllosen, wundervollen Augen des Argos in seinem Gefieder bewundern können, derweil t und d dem Spieltrieb folgen und das o schwindlig rollen.
Schlagartig ist der Jahrmarkt vorbei!
Ein jeder steht an seinem Platz, d und t (das o ziert nun seinen Kopf) mit dem beklagten Vorleser und Zurufer in ihrer Mitte vorm mittleren Pinkelbecken, denn:
Ihre Lordschaft kehrt entlastet zurück!
Mit den Worten „Warum haben wir uns hier zusammengefunden?“ lässt sich Ew. Ehren an ihrem Platz nieder, hält eine Akte hoch und bellt „ter Jung gegen de Jong steht an!“, schaut triumphierend nach rechts und links auf d und t.
„Sie vertreten Klage wie Verteidigung?“
Als die drei nicken, fährt Ew. Ehren fort: „Machen wir es einfach: Ich trag kurz die Klage vor, wie ich sie verstehe, und Sie korrigieren mich, sollte es anders gemeint sein. –
Sind Sie einverstanden, dass wir so verfahren?“
T und d sind einverstanden, Vorleser wie Zurufer weiß nicht so recht.
„Machen Sie sich mal keine Sorgen – wir kennen uns doch von gerade eben, Herr Zurufer“, spricht die alternde Liebe seiner jungen Jahre, „doch sagen Sie mir bitte, sind Sie mehr ter Jung oder doch eher de Jong?“
Was antwortet der zum Zurufer mutierte Vorleser da!
„Ik moet mij mond houden.”
„Aber Sie sind doch von tiutschem Blut, gelt, und verstehn mich gut?”
„Ik beheers de Duitse taal, maar het Duitse gehoorzamt me niet“, was niemand vor Klagen schützt, zu dem Ew. Ehren nur murmelt „da hätten wir also ein Adjektiv mit Großbuchstaben …“
Aber so beginnt Ew. Ehren für aller Ohr: „Die Klagevertreter halten es mit ihrem Verständnis an sich mit dem Erzähler aus O, der hier als Beklagter steht, wollen aber keineswegs durch die Verständnisfrage das Kernproblem verdrängen: der Text des Beklagten sei weniger Kurzgeschichte als Lyrik, die den Status wahre durch – ich zitiere‚ ‚minimalst einen Plot, einen Prot und seinen Konflikt’. Wie nebenbei fragen Sie sich und auch eher rhetorisch, ob Lyrik überhaupt eines Umbruchs und des Reimes bedarf.
Gleichwohl verzichten Sie aufs Autodafé, greifen aber auf ein m. E. starkes Geschütz zurück, ich zitiere wiederum, ‚wir verkaufen nur saubere Ware’ – was wohl eher auf eine Aussage im beklagten Text gemünzt ist als auf die Klage selbst. Sie meinen, die Groß- und Kleinschreibung werde – ich zitiere, ‚zu unrecht außer acht gelassen’ und das werten Sie als Regelverstoß, was selbst einem literarischen Laien wie mir zunächst mal einleuchten will. Hieraus erwachse Ihnen aus örtlichem Recht die Macht, den Text in ein Korrekturcenter zu verbannen, mit der Auflage, Groß- und Kleinschreibung binnen vier Wochen zu überarbeiten, Sie wollen sagen: zu korrigieren“, als beins schlafmützig vom Pferd fällt und in dem Versuch, sich festzuhalten, geins mitreißt, dass das QP zu Boden kracht und Pv auf seinem Schwanz schmerzhaft zu sitzen kommt und gackert. Die gefallenen Ritter landen kopfüber auf den Topfhelmen, stehn verkehrt herum im Raum und rudern mit den Beinen in der Luft. Aber Peter – das Kreuz, das immer auf dem Kopf steht - trifft sich mit ihnen auf dem Boden mit den Worten: „Was sucht Ihr hier auf Eurem Kopf, hochwohlgebor’ne edle Leute?“, worauf beins antwortete:
„Wir suchen hier, Du armer Tropf, den Silberfisch nebst seinem Weib und machen reiche Beute“, dass geins einstimmt, „entblößen beider dürren Leib von seinem reichen Silberkleid“, bacht und gacht aber heulen: „Was wär’ daran verkehrt? - Verzärteln wir das Krabbeltier, dann schmeckt es gut verzehrt“, dass Ew. Ehren ob des Tumultes hochfährt und Ruhe! anmahnt und ersatzweise die Räumung der Aborträume androht.
Als der Tumult sich wieder gelegt hat, fasst Ihre Lordschaft die Klage in einem einzigen Satz trocken und nüchtern zusammen: grobfahrlässig werde gegen die Großschreibung gemäß Absatz D der amtlichen Regelung der deutschen Rechtschreibung verstoßen, wie sie in den §§ 53 ff. festgelegt sei. „Die Klage ist insofern berechtigt, oder, wie es die Fachleute sagen, dass nicht genüge, den Sinn des Geschriebenen gerade noch erkennen zu können. Und Sie und die Grammatiker dürfen Einigkeit mit mir erwarten, dass einer erst dann richtig schreibe, wenn er richtig schreibt. – Aber es gibt schon hier einen kleinen Einwand von mir:
Wer vermag zu erkennen, ob einer in korrekter Groß- und Kleinschreibung spreche oder gar denke? –
Ich vermag es nicht. Ich bin aber auch ein Laie und insofern inkompetent, dass ich einen zweiten Einwand heranziehen muss, wobei ich auf die Aussage der Grammatiker zurückgreife:
Wird denn der Kläger den genannten Paragraphen gerecht? Heißt es nicht in eben der zitierten amtlichen Regelung gem. § 59 ausdrücklich, ich zitier, ‚Eigennamen schreibt man groß’, Zitat Ende –
da kann ich die Klage doch nur abweisen, insofern der Klagevertreter aus eigenem Entschluss und wissentlich mit seiner Namensschreibung gegen die Regel verstößt“, – wahrscheinlich – wie Ew. Ehren weiter vermutet, unterm Mäntelchen ortseigener Regelungen, die päpstlicher erscheinen als das strengste Kirchenrecht überhaupt und zugleich und willkürlich ausgelegt werden können. Dabei dürfe man nicht vergessen, dass selbst die Kirche der Verfassung gemäß eigenes Recht sprechen darf, soweit sie nicht gegen das allgemeine Recht verstoße.
Also greift Ew. Ehren die abschließende Bemerkung des Schnellgerichtes auf und formuliert um: „Was wäre denn eine Regelung wert, wenn die Ordnungsmacht eine Regel weniger ehrt, als sie von andern verlangt und erwartet?
Die Sitzung ist geschlossen!“
Als aber Ew. Ehren die Wasch- und Aborträume der mannhaft Bediensteten der Stadt A verlässt, trifft Ihre Lordschaft auf der Treppe den Zurufer aus A auf dem Weg nach oben zu seiner Arbeitsstätte, um im Tageblatt zu A einen Bericht über die Ereignisse einzubringen. Wie nebenbei erfährt Miss Liddell, dass der junge Mann eigentlich Musikkritiker sei. Gleichwohl werde er über die Versammlung des Verbandes deutscher Schriftsteller berichten müssen, vor allem aber eine Kritik der Lesung verfassen. Da werde allein das groteske Be-Erde gut wegkommen und Alice weiß auch schon den entscheidenden Grund: Wozu sollte ein tauber Musikkritiker denn sonst noch taugen? Wie heißt’s doch in Be-Erde: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“
Zehn Jahre aber bevor Bonnie & Kleid sich selbst richteten, verehrte Hollywood sie als Helden.