Was ist neu

Geschichten erzählen. Zwischen Handwerk und 'Gefühl'.

Hallo zusammen,

finde ich eine spannende Diskussion, danke fürs Anstoßen @Henry K. und @Carlo Zwei. Finde den Gedanken auch interessant, dass ich das Gefühl kennen muss, worüber ich schreibe.

Ich habe letztens eine Geschichte über eine eigene Grenzerfahrung geschrieben und obwohl ich das selbst erlebt habe, kam es überhaupt nicht rüber und ich war von mir selbst echt enttäuscht. Daher finde ich deine Erläuterung sehr hilfreich @Peeperkorn:

Dass jemand den Tod seines Vaters miterlebt hat, ist somit m.E. keine notwendige Bedingung dafür, um darüber zu schreiben. Aber es wird die Sache wesentlich vereinfachen. Und falls ihm der Tod des Vaters gleichgültig gewesen ist, wird es schwierig sein, die gewünschten Emotionen bei den Lesern auszulösen. Ähnlich bei äusseren Begebenheiten. Wenn ich am Nordpol gewesen bin, wird es mir leichter fallen, darüber zu schreiben, weil ich womöglich sinnliche Details kenne, die man nicht mittels Rechereche in Erfahrung bringen kann. Aber - um den Punkt nochmal deutlich zu machen - für den Leser sind diese Details wichtig, nicht die Tatsache, ob ich tatsächlich dort gewesen bin. Ich halte daher das Beispiel mit den erfundenen Details, die von Lesern für echt gehalten werden, für sehr aufschlussreich.
Wenn ich dich richtig verstehe, dann ist es eine gute Hilfe, wenn ich es selbst erlebt habe, weil mir die entscheidenden Details klarer sind, um die Geschichte als echt rüberzubringen. Allerdings ist es eben nur eine gute Grundvoraussetzung und selbst wenn ich es alles erlebt habe, kann es passieren, dass ich es sprachlich nicht auf den Punkt bringen kann, weil das Handwerk fehlt?

Sehr interessant.

Beste Grüße
MRG

 

Allerdings ist es eben nur eine gute Grundvoraussetzung und selbst wenn ich es alles erlebt habe, kann es passieren, dass ich es sprachlich nicht auf den Punkt bringen kann, weil das Handwerk fehlt?
Oder deine Emotionen in der Situation sind nicht die gewesen, die du in deinem Text rüberbringen willst oder die der Leser nicht mit der Situation verbindet. Im ersteren Fall würde ich vermuten, dass die eigene Erfahrung sogar hinderlich sein könnte, da du ausgehend von einer erlebten Situation andere Gefühle heraufbeschwören müsstest.

Ich finde die teilweise Überschneidung von Authentizität und Glaubwürdigkeit die in der Diskussion teilweise durchblitz ein bisschen schwierig. Eine authentische Geschichte müsste ja wahr sein, eine glaubwürdige definitiv nicht.

LG Feurig

 

Hallo @MRG , @feurig ,

ich würde mich da feurig anschließen. Ein häufiger Kritikpunkt bei autobiographischen Texten ist die Glaubwürdigkeit. Dann kommt oft der Einwand: „Das ist aber wirklich so passiert.“

Dieser Konflikt entsteht m. E. deshalb, weil Romane etc. (außer reine Autobiographien, die eher Sachbuch als Belletristik sind) eben gerade nicht real Life sind, sondern Fiktion. Und an Fiktion hat der Leser/die Leserin gewisse Erwartungen.
Es liegt daher nicht unbedingt am Handwerk, sondern auch an den Erwartungen des Empfängerhorizonts wie Authentizität in der Fiktion auszusehen hat. Und zum Übel unterliegt das auch noch Moden.
Nehme den Antagonisten oder den Helden, während früher beide in Reinform zelebriert wurden, muss heute der Antagonist seine kranke Mutter pflegen und der Held mit Selbstzweifeln und einer Kokssucht kämpfen.

Dinge selbst erlebt zu haben, kann daher tatsächlich hinderlich sein, vor allem macht es einen auch angreifbar. Jedenfalls auf emotionaler Ebene. Zu wissen, wie ein Karabiner funktioniert, ist sicherlich hilfreich, wenn man einen Bergroman schreibt. Weiß man es nicht, kann es aber gut recherchiert werden.

LG
Mae

 

Könnte sein, dass sich hier auch unterschiedliche Begriffe von Authentizität und Glaubwürdigkeit versammeln.

@feurig du meinst ja (Beleg wäre für mich hilfreich, weil ich nicht genau weiß, welche Stelle du meinst), hier in der Diskussion gebe es einen Begriff von Authentizität, der ungefähr so aussieht: Authentizität=so passiert, also in dem Sinne 'wahr' (an dieser Definition, hast du aber Zweifel) – ich bin mir nicht sicher, glaube aber, dass du da eine andere Bedeutung an den Begriff 'Wahrheit' ansetzt als es an anderen Stellen in der Diskussion der Fall ist (z. B. in meinem Anschreiben an Peeperkorn). Da ist mit 'wahr' nicht 'so geschehen' gemeint, sondern die Bedingungen, unter denen etwas als 'wahr' oder auch 'richtig' angesehen wird.

Meine Position dazu wäre deshalb (vielleicht teilst du die ja sogar): Authentizität=das, was als wahr empfunden wird
(*ich finde den Begriff wegen seiner Nähe zum Begriff der 'Authorität' und damit dem Begriff des 'Autors' etwas irritierend; aber nicht schlecht, sondern eigentlich richtig)

MRG schrieb ja das hier:

Allerdings ist es eben nur eine gute Grundvoraussetzung und selbst wenn ich es alles erlebt habe, kann es passieren, dass ich es sprachlich nicht auf den Punkt bringen kann, weil das Handwerk fehlt?
darauf du:
Oder deine Emotionen in der Situation sind nicht die gewesen, die du in deinem Text rüberbringen willst oder die der Leser nicht mit der Situation verbindet. Im ersteren Fall würde ich vermuten, dass die eigene Erfahrung sogar hinderlich sein könnte, da du ausgehend von einer erlebten Situation andere Gefühle heraufbeschwören müsstest.

Zu dir @MRG – ich glaube, wir haben da denselben Begriff. Das sehe ich genauso und habe das ja auch weiter oben so formuliert und als zweiten Punkt neben dem Handwerk das Problem, dass es passieren kann, dass die emotionale Erkenntnis, die du gemacht hast, irrelevant oder platt ist für Leser, weil sie deine Wahrnehmung der Dinge einfach nicht teilen können oder wollen. Überspitztes Beispiel: Du hast in den letzten Jahren erlebt, dass man durch schwierige Lebenssituationen letztlich dadurch kommt, dass die reichen Eltern einen unterstützen. Was sollen damit Leute anfangen, die nicht in dieser Weise privilegiert sind? – das soll nur veranschaulichen, dass auch Selbstdurchlebtes immer einen Relevanzbereich hat (in Ergänzung zur Frage nach dem Handwerk; dass dir bei einer völlig 'irrelevanten' Story nur weiterhelfen wird, wenn du ein Meister bist; und dich – meiner Vermutung nach – niemals dahin bringt, wo dich große Fragen, große Antworten auf diese und ebenso großes Handwerk hinbringen – leider spreche ich da nicht ganz aus Erfahrung, hauptsächlich aus Wünschen und Träumen :D )

Hey @Maedy – und schön, dass du dich auch einklinkst. Finde bei deinem Ansatz interessant, dass du ihn ja auch handwerklich verortest, wenn ich dich richtig verstehe. Also Dinge erlebt haben nicht im Sinne von Gefühle und Krisen durchlebt haben, sondern im Sinne von Milieustudie oder Expertise.

Wie auch immer. Ich wünsche euch einen schönen Abend!

 

Hallo @Carlo Zwei ,

@feurig du meinst ja (Beleg wäre für mich hilfreich, weil ich nicht genau weiß, welche Stelle du meinst), hier in der Diskussion gebe es einen Begriff von Authentizität, der ungefähr so aussieht: Authentizität=so passiert, also in dem Sinne 'wahr' (an dieser Definition, hast du aber Zweifel) –
Hier z. B.
Authentizität hat auch etwas mit Wahrheit zu tun. Überprüfbar.

Da ist mit 'wahr' nicht 'so geschehen' gemeint, sondern die Bedingungen, unter denen etwas als 'wahr' oder auch 'richtig' angesehen wird.
Was ja dem Begriff Glaubwürdig entspricht. Meiner Meinung nach zumindest :shy:

Ich persönlich finde Authentizität als Begriff im Zusammenhang einer Geschichte schwierig, weil ich ihn zwar auf das Verhalten von Personen bezogen mit Glaubwürdig gleichsetzen würde, aber es ja in Bezug auf Gegenstände oder auch Personen im Rahmen von Authentifizierung nichts mit Glaubwürdigkeit sondern Echtheit benutzt wird.
Daher stellt sich mir persönlich die Frage, welche Bedeutung dem Begriff im Rahmen einer Geschichte gegeben wird, die ja aus vielen Elementen (Personen, Handlung, Setting, ...) besteht.

Möglicherweise - ist aber nur ein Gedanke - beeinflusst die Wahrnehmung des Begriffs auch die eigenen Lese-Präferenzen

LG feurig

 
Zuletzt bearbeitet:

Hui, interessante Diskussion. Mal wieder kann ich jeden Standpunkt nachvollziehen. (Ich komme von einer kleinen Geburtstagsfeier. Mir fällt es so schwer, logisch und stringent zu sein. Wo lernt man das? In der Schule? Ich hoffe, es ist trotzdem okay)

Authentizität - sie entsteht. Sie ist eine Interpretation, vielleicht eine Simulation. Für mich hängt sie eng mit Empathie zusammen. Empathie mag schnell in die Richtung eines Mitfühlens gehen, aber Empathietheorien betonen die mentale Simulation des Anderen. Auch eine literarische Welt simuliere ich und ich simuliere die Figuren in der literarischen Welt. Ich simuliere, aber ob das, was ich fühle, dem entspricht, was der andere fühlt, was eine literarische Figur fühlen kann, scheint philosophisch, psychologisch, eine ziemlich umstrittene Kiste zu sein.

Authentizität - das ist eine Daumenregel, mit der ich mich zum Beispiel durch eine Buchhandlung bewegen kann. Laufe ich um den Tisch in der Connewitzer Buchhandlung, Karl-Liebknecht-Straße, kann ich Klappentexte lese, Seiten aufschlagen und - zappzerapp - gelange ich sofort zu einem Urteil über die Authentizität. Das kann ich später verfeinern oder revidieren, sollte ich das Buch lesen. Aber das Urteil ist erstmal da und existiert. Da scheint es also eine kognitive Struktur zu geben, die ich unter "authentisch" subsummieren kann. Entspricht sie der Realität? Das ist, meiner Ansicht nach, ziemlich egal. Ob etwas wahr ist oder nicht, ob etwas wahr war oder nicht, hat mit Authentizität meiner Ansicht nach gar nichts tun. Es reicht aus, dass ich sie als wahr empfinde, wie @Carlo Zwei schreibt. Sie gibt mir Orientierung. Sie gibt mir Sicherheit. Ich kann sie kommunizieren. Der Eindruck ist erstmal da. Für mich keine Kategorien, eher eine Abstufung, eine Skala. Er reflektiert meine Erfahrungen. Meine Logiken. Meine neuronalen Aktivierungssysteme. Authentizität als Heuristik.

Aber ich werte und handle über Authentizität. Und andere auch. Seit Jahrhunderten wird einem Reisebericht der beliebte Satz vorgefügt: "Nach wahren Begebenheiten". Warum? Vielleicht, weil "Authentizität" mich in meiner banalen Existenz mit dem, der das Irre einer gescheiterten Polarexpedition erlebt hat, auf eine gemeinsame Ebene stellt. Vielleicht heißt Authentizität einfach: Wir können denselben Himmel sehen, auch wenn die Sterne andere sind.

Es gibt da ein schräges Beispiel aus Italien, das Museum Palazzo della Civiltà Italiana. Steht in Rom, in E.U.R. Das Museum enthält nachgemachte Plastiken der römischen Antike, mit denen Mussolini sein Regime aufwerten wollte. Also, ich gehe durch das Museum und sehe Fake-Römisches. Ist das authentisch? Natürlich ist das nicht authentisch, für mich. Andererseits ... ich weiß ja, dass das nicht authentisch ist. Aber wenn ich es nicht wüsste? Vielleicht hat Authentizität einfach mit Vertrauen zu tun und Vertrauen werten wir hoch ein. Ich treffe eine Arbeitskollegin: Ich vertraue dir, wenn du authentisch bist. Ich weiß, woran ich bin. Ich weiß dich einzuschätzen. Du gibst mir Sicherheit. Mein Hirn verbraucht weniger Energie. Das finde ich gut. Etc. etc. ...

Ist eigentlich eine Restauration authentisch? Münster, Prinzipalmarkt. Da ist nix authentisch. Alles brav aufgebaut. Dresden, Neumarkt. Da ist nix authentisch. Alles brav aufgebaut. Authentisch empfinden heißt: Das authentisch finden, was ich authentisch finden will.

Hilfe, ist das wirr. Entschuldigt, ich komme von einer kleinen Geburtstagsfeier samt Glühwein und dank meines schiefen Tagesrhythmus freue ich mich jetzt schon auf das Bett :-)

Lg aus Leipzig, authentische Metropole,
kiroly

 

Aber ist das nicht problematisch? Denn was bedeutet das in Hinblick auf Ethnizität? (Ich hatte es schon mal kurz angesprochen.) Können und dürfen zum Beispiel weisse Autoren die Erfahrungen von POC schildern?

Das kann man auf alles beziehen, auch auf Klasse, wie man ja zur Zeit sieht. Klasse ist in. Plötzlich haben alle einen Arbeiterklassehintergrund. Da wird jedes Praktikum und jeder Ferienjob relevant. "Hier, ich habe auch mal 6 Wochen im Baumarkt gearbeitet." Clemens Meyer hat kurz auf dem Bau gearbeitet, kurz in der Metro, kurz bei der DB und dann als Wachmann im Sicherheitsdienst, kommt aber eigentlich aus einem Haushalt mit dicker Bibliothek und seine Großeltern waren bedeutende Künstler. Reicht das aus, um als der große Proletarierversteher durchzugehen? Das Föllitäng meint ja. Ich behaupte, hier im Forum sind Leute, die wesentlich mehr zu dem Thema schreiben könnten, weil sie den gleichen Job schon dreißig Jahre machen und das tiefer durchblicken als jemand, der kaum fünf Jahre Berufserfahrung hat. Dafür hat der Meyer eben am DLL studiert und schreibt Texte, die so dicht sind wie Wurstbrot. Und der Literaturbetrieb hat eben eine Erwartungshaltung, die lassen sich gerne diese Welt erklären, weil sie eben davon keine Ahnung haben und die auch eigentlich nicht kennenlernen wollen. Ist also eine Verquickung. Vielleicht wollen eben auch viele gar nicht über ihre eigenen Biografismus schreiben, sondern möglichst weit weg davon. Das darf man auch nicht ausser Acht lassen.

In Spanien haben eben drei alte weiße Typen einen Literaturpreis gewonnen für ein Werk, von dem die Gesellschaft dachte, es habe eine Frau verfasst.

Und angenommen, die Hautfarbe eines Autors wäre unbekannt und sein Werk würde als authentisch "black" empfunden werden, dann käme aber heraus, dass er weiss ist. Würde das nicht alles ändern in der Rezeption?

Es ändert die Rezeption, weil die Gesellschaft das so verlangt. Es ist viel mehr eine ethische Frage, ob man das machen darf und sollte. Was ist denn mit den Texten, die den Holocaust erzählen wollen, die dürften dann nur von Juden geschrieben werden, die dabei waren. Andersherum: Die Wohlgesinnten, wo es um einen deutschen SS-Mann geht, wurde von einem Juden geschrieben. Darf der das jetzt? Ich schreibe gerne Texte aus weiblicher Sicht - darf ich das? Schwierig alles.
Ich behaupte: Abgesehen von der Stimme vielleicht hätte Eminem durch seine Kenntnis der Rap-Geschichte und seine Skills technisch perfekten "schwarzen Rap" machen können, aber er wäre NIEMALS damit durchgekommen.
Eminem hat ja nie versucht, schwarz zu klingen. Er hat von vorneherein genau seinen eigenen Stiefel gemacht, ganz disparat zur restlichen Westcoast-Eastcoast Geschichte. Ähnlich wie die Beastie-Boys ein Jahrzehnt vorher. Die haben sich den Tools bedient und ihr eigenes Ding gedreht.

 

Mir ist noch ein Problem eingefallen. Das von 'verführerischen' Narrativen, die, sage ich mal, besonders vom 'willing suspense of disbelief' profitieren: Verschwörungstheorien als Extremform. Aber eigentlich habe ich an so proto-religiöse Weisheiten gedacht, Hesse oder viel popiger: Paulo Coelho. "Vom 'willing suspense of disbelief' profitieren", sage ich deshalb – weil sie offensichtlich mystisch arbeiten; vor allem eben in Ablehnung von Schullehr- oder Konsensmeinungen. Du musst es glauben wollen bzw. du musst das andere, das Herkömmliche nicht glauben wollen, den ausgetretenen Weg willentlich verlassen – weil du moralisch davon überzeugt bist oder (einfacher und häufiger sicher auch) weil du deinem '(Bauch-)Gefühl' folgst.

Mein Ansatz wäre eben das: willing suspense of disbelief. Ich würde das als eine Art Trick bezeichnen. Ein Spiel mit dem Glaubenwollen bestimmter 'Wahrheiten'. Für viele aber ist das sicher gar kein Spiel. Autoren, die selbst gläubig sind, vom Auserwähltentum träumen oder sonstigen mystischen Dingen. Es gibt aber auch Leute, die das bewusst bedienen. Naiv oder berechnend. Lebensratgeber, Quacksalber, Rattenfänger.
Wie damit umzugehen ist, kann man natürlich erst mal nur für sich selbst entscheiden – so lange es sich nicht um rechtlich als gefährdend eingestufte Narrative handelt. Ich persönlich finde es falsch, Narrative zu bedienen, die gegen das eigene, bessere Wissen Wünsche als Wahrheiten verkaufen. Aber ich bin auch Moralist. Ich weiß nur, ich möchte nur 'Weisheiten' von mir geben, auf die ich wirklich vertraue, nicht auf solche, die mir ein warmes Bauchgefühl geben.
Wenn irgendjemand diesem Punkt folgen kann, würde ich mich sehr freuen zu hören, was er oder sie zu diesem Problem zu sagen hat.
Gruß

 

Mich stört etwas an dem Thema, dass Autor:innen in Frage gestellt wird, was ihre höchste Kunst ist: Geschichtenerzählen.

Ein/e gute/r Autor:in sollte sich in die gewählte Geschichte eindenken können. Dazu gehört vor allem Empathie. So kann auch jemand, der selbst nie diskriminiert wurde, über Diskriminierung schreiben. Es schreiben ja auch moderne Autor:innen über den Holocaust, ohne ihn selbst erlebt zu haben oder gar jüdisch zu sein oder gar selbst in einem KZ gesessen zu haben. Und es ist doch eigentlich gut, dass junge Autor:innen sich in dieses Leid heute noch einfühlen können.

Das kann natürlich auch schief gehen, nämlich dann, wenn die Empathie nicht stimmt, man sich an Klischees orientiert, die vielleicht sogar beleidigend sind oder eben nur an der Oberfläche des Problems kratzt.

Ich möchte mir als Autor:in jedenfalls herausnehmen, über Situationen zu schreiben, die ich selbst nicht erlebt habe, nicht einmal erleben will. Aber das ist für mich auch der ureigenste Grund, Autor:in zu sein: Die Fähigkeit, wirklich alles imaginieren zu können, in Schrift und Worte zu fassen. Das ist auch eines der wenigen menschlichen Alleinstellungsmerkmale.

Wäre dem nicht so, hätten wir nicht diese Vielfalt an Literatur, sondern nur verkappte Biografien, denn wer wurde schon wirklich in einer Mittsommernacht zum liebestollen Esel, reiste an den Mittelpunkt der Erde, mit seiner Zeitmaschine in die Zukunft, ließ sich von einem Milliardär grün und blau schlagen, um in ihm die Liebe des Lebens zu finden oder von Zwergen in einen gläsernen Sarg stecken?

In der Literatur gibt es meines Erachtens keine NoGos, was nicht heißt, dass es welche in der Literaturkritik gäbe. Gelingt jemanden die Aufgabe, die er/sie sich gestellt hat nicht, dann darf das natürlich gesagt werden.

 

@Mods
Will nicht motzen, aber ich habe mich nicht auf den entsprechenden Autoren bezogen, habe das sozusagen komplett ausgespart und aus dem Beitrag von Kiroly nur einen Schnipsel zitiert, der damit gar nix zu tun hatte. Durch das Löschen sind jetzt meine ausführlichen Antworten und Überlegungen an Peeperkorn und Kirolys vorangegangenen (nicht gelöschten) Kommentar flöten gegangen, für die ich über eine Stunde meines Morgens hingegeben habe ...
Ich weiß nicht, ob das geht, aber würde mich freuen, wenn das wiederhergestellt wird. Ansonsten kann ich die Löschung des anderen Beitrags natürlich schon verstehen, weil das ja durchaus private Infos sind und da bin ich auch dankbar für die gute Moderation, die da ja ehrenamtlich und mega professionell hinterher ist, also ich will wirklich nicht mo(d)tzen, es geht mir wirklich nur darum, dass mein Beitrag davon nix enthalten hat.

 

Mich stört etwas an dem Thema, dass Autor:innen in Frage gestellt wird, was ihre höchste Kunst ist: Geschichtenerzählen.
Das ist genau, was ich sage: Ein verdammt guter Autor kann das, der kann alles erzählen, er ist im Grunde der perfekte Lügner. Die Frage ist ja, was es uns nimmt, wenn wir wissen, dass der Autor eventuell gar nicht selbst erlebt hat, was wir da lesen. Was ist mit einem anonymen Autoren, von dem wir nur den Text kennen?

 

Wer eine Masterarbeit in Englisch über "authentische" Literatur schreiben will, hier ist ein sexy Thema:
Vergleich von Hunter S. Thompson "Hell's Angels" und Sonny Barger "Hell's Angel". Daran kann man sicher alles hier angerissene durchdeklinieren - und bekommt noch Sex and Crime :-)
Ja, aber Hunter hat das aus der Perspektive des New Journalism geschrieben; der war dabei, also imbedded sozusagen. Das ist wie die Reportagen von Sebastian Junger, der drückt auch nie selber ab, war aber immer dabei, wenn es abging. Sonny Barger hat die Angels gegründet, da kriegst du halt auch eine Menge Mythos mit, eine Menge Überhöhung. Wie bei Bukowski: sein Übersetzter, der Weissner hat mir mal gesagt: Alle kennen eine Story, wie sie mit Buk gesoffen haben oder er selber sich besoffen hat. Ich habe den in all den Jahren nie besoffen erlebt. Das sagt eben auch was aus.

 

Nö, wir arbeiten hier schon mit vernünftigem Augenmaß. Im Übrigen kannst du dir solche Spitzen schenken.

 
Zuletzt bearbeitet:

@Henry K. Naja, kann schon verstehen, dass der Beitrag gelöscht wurde. Hatte schon beim Absenden des Kommentars dieses "Grenzfall-Gefühl".

@Carlo Zwei

Es gibt aber auch Leute, die das bewusst bedienen. Naiv oder berechnend. Lebensratgeber, Quacksalber, Rattenfänger.
Wie damit umzugehen ist, kann man natürlich erst mal nur für sich selbst entscheiden – so lange es sich nicht um rechtlich als gefährdend eingestufte Narrative handelt. Ich persönlich finde es falsch, Narrative zu bedienen, die gegen das eigene, bessere Wissen Wünsche als Wahrheiten verkaufen. Aber ich bin auch Moralist. Ich weiß nur, ich möchte nur 'Weisheiten' von mir geben, auf die ich wirklich vertraue, nicht auf solche, die mir ein warmes Bauchgefühl geben.
Na, bei uns glauben nicht wenige an Homöopathie. Ich weiß, das Setzen dieses Schlagworts beginnt einen Glaubenskrieg. Der meistens mit einem diplomatischen "Wenn's hilft, dann hilft es, aber nachweisbar ist da nichts"-Waffenstillstand endet. Egal. In der Ausbildung hielt mal eine Schülerin einen Vortrag zur Homöopathie. Und beschrieb, dass hinter diesen ganzen Konzepten, mit denen ich mich im Detail nicht auskenne, auch ein gewisses "gesundheitsförderliches Programm" steckte. Vegetarische Ernährung, viel Gemüse und Obst, kein Kaffee, Nikotin und Alkohol, keine Pornographie, viel Wasser trinken, sehr strukturierter Tagesablauf, handwerkliches Arbeiten. Klang für mich alles überraschend modern, klang sehr nach Reha-Klinik oder sozialtherapeutischer Einrichtung (okay, über die Details lässt sich streiten, klar, wie Pornographie^^). Verdünnungsformeln waren nach Herrn Hahnemann nur ein kleiner Teil seines "Programms". Aber darauf wird die Diskussion reduziert. Man greift einen Aspekt heraus, der Aspekt wird repliziert und repliziert und plötzlich entsteht ein verformter Begriff. Was ist jetzt die Wahrheit? Vielleicht hat Wahrheit viel damit zu tun, wo ich die Ursache sehe. Psychologisch eine Attribution. Ich habe oft das Gefühl, dass solche Wahrheitsdiskussion in ein binäres Schema verfallen: Entweder - Oder. Ja - Nein. Ich habe immer die vage Hoffnung, dass Lesen, Bildung, Empathie, Aufmerksamkeit diese Entweder-Oder-Kategorien auflösen. Quasi quantifizieren. Mehr Hoffnung habe ich nicht^^.
Aber ich bin auch Moralist. Ich weiß nur, ich möchte nur 'Weisheiten' von mir geben, auf die ich wirklich vertraue, nicht auf solche, die mir ein warmes Bauchgefühl geben.
Das habe ich nicht so ganz verstanden, also, was du mit Moralist meinst :-)

Lg
kiroly

 

Das ist genau, was ich sage: Ein verdammt guter Autor kann das, der kann alles erzählen, er ist im Grunde der perfekte Lügner. Die Frage ist ja, was es uns nimmt, wenn wir wissen, dass der Autor eventuell gar nicht selbst erlebt hat, was wir da lesen. Was ist mit einem anonymen Autoren, von dem wir nur den Text kennen?
Stimme dir zu @jimmysalaryman : Ein Autor ist ziemlich gut, wenn es ihm gelingt, so zu erzählen, dass man es für authentisch hält.

Diesen Aspekt finde ich sehr wichtig: Was nimmt es uns, wenn wir wissen, der Autor ist der perfekte Lügner?
Fühlen wir uns dann automatisch belogen und somit hinters Licht geführt? Verändert sich damit der Eindruck der Erzählung?

Ist es nicht vielmehr so, dass wir immer dann keinen Wert auf die Antwort, ob Lüge oder Wahrheit legen, wenn wir uns gut unterhalten gefühlt haben?
Und heißt nicht gute Unterhaltung, dass das, was dort erzählt wurde, spannend und stimmig und somit authentisch auf den Leser wirkte?

Wird, wenn ich weiß, dass der Erzählung eine wahre Begebenheit zugrunde liegt, der Text dadurch tiefgründiger, wertiger, interessanter, spannender, besser?

Mir fallen dazu zwei Beispiele ein:

"Die Linien im Wasser" von @jimmysalaryman

In dieser Geschichte werden die Erlebnisse einer Familie geschildert, nachdem in ihrer Gegend ein Staudamm gebrochen ist.
Ich habe diese Schilderungen für so authentisch gehalten, dass ich im Internet nach noch mehr Hintergrundwissen gesucht habe zu dieser damaligen Katastrophe. Aber nichts dazu gefunden. Das irritierte mich zunächst, aber nicht wegen dieser so wahr wirkenden Erzählung, sondern weil ich immer noch dachte, es läge an mir, ich sei einfach zu blöde, im Internet darüber etwas zu finden.
Nachdem ich nun weiß, dass es sich um eine Fiktion handelt, hat sich mein Eindruck von dieser Geschichte nicht geändert. Sie wirkt auf mich weiterhin echt und authentisch.
Es war also in diesem Fall einfach egal, auf welchen Fakten oder Phantasien diese Erzählung beruhte.

Etwas anders war es, als ich die Film-Serie Tschernobyl ansah. Wenn ich mir vorstelle, dass all diese Dinge damals nicht passiert sind, sondern alles nur Fiktion gewesen ist, dann wäre es trotzdem noch eine der besten Serien ever für mich gewesen.
Aber, dass ich zum Teil einfach nicht hingucken konnte, mir oft die Tränen in den Augen standen, lag daran, dass ich wusste, dass dies alles so und nicht anders damals passiert ist.

Ich würde daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass das Wissen um die Authentizität in der Lage ist, noch tiefere Empfindungen hervor zu rufen.
Das muss es aber nicht unbedingt bei jedem tun, es gibt da keinen Automatismus, denn was mich vielleicht besonders betroffen macht, muss ein anderer nicht unweigerlich auch so empfinden.

Wie seht ihr es?

 

Ich weiß nicht, ob und wie das hier hin passt, aber ich habe es ein paar Mal gelesen, das Dokument, und als Gordon Lish Verehrer war das natürlich richtig, richtig gut - ich denke, vielleicht finden hier auch ein paar andere Autoren noch gute Ideen und ganz Grundsätzliches. Ich verlinke mal, wenn das okay ist?

https://www.tetmancallis.com/the-gordon-lish-notes-2/

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich finde die Diskussion spannend und würde gern teilnehmen. Deswegen wage ich mich mal daran:

Es wurde ja schon erwähnt: was wirklich authentisch im Sinne von selbsterlebt ist, lässt sich kaum ermitteln. Wieviele lebensverändernde Momente im eigenen Leben kennen die Mitmenschen denn von mir? Kann ich mit Sicherheit sagen, ob meine Großeltern z.B. sexualisierte Gewalt durch ihre Eltern erfahren haben? Was weiß ich über die Affären meiner Eltern (die ein Großteil der Menschen nun einmal hat)? Was weiß ich über einflussreiche Gespräche, die meine Freunde verändert haben?
Es gibt so viele Eindrücke abseits von Berufen, die einen Menschen und seine Sicht prägen können. Die kennt kaum jemand, außer den Betroffenen. Trotzdem – gerne nach dem Tod der Autoren und Autorinnen – fangen irgendwelche Personen an, jeden kleinsten Mist aus dem Leben herauszukramen und zu interpretieren. Dann werden diese Menschen zu „Experten“ für jenen und jene, obwohl sie nur Bruchstücke (etwa Tagebucheinträge) oder Gefärbtes (Aussagen des Freundeskreises) kennen. Und wenn genug Zeit vergangen ist, wird bei der zigsten Auflage unter den Buchtitel dann „mit Anmerkung von Peter Irgendwer“ geschrieben. Da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wieviele Autoren und Autorinnen sich im Grab wohl hin und her wälzen, wenn sie darüber nachdenken?
Was ich damit meine: Die Nachprüfung der Authentizität durch das Anknüpfen des Textes oder seines Themas an das Leben des Autors bzw. der Autorin erscheint mir irgendwie unmöglich. Durch so etwas wird meiner Meinung nach auch der öffentlichen Rezeption von Werk und Person viel zu viel Macht eingeräumt.

Aber interessant finde ich das Thema, soweit es um Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit der Geschichte geht. Nichts lässt mich mehr aus einem Buch/ Film/ Game fallen, als wenn die Geschichte (etwa die Entscheidungen und Handlungen der Figuren) keinen Sinn für mich macht. Das Problem ist dann aber die Geschichte und nicht das Leben der dahinterstehenden Person.

Aber ist das nicht problematisch? Denn was bedeutet das in Hinblick auf Ethnizität? (Ich hatte es schon mal kurz angesprochen.) Können und dürfen zum Beispiel weisse Autoren die Erfahrungen von POC schildern?
Ich finde, die Grenze liegt da nicht im schriftstellerischen Handwerk. Technisch ist da bestimmt viel möglich, indem man etwa einfach Themen und Formulierungen aus anderen Texten abgewandelt in einem eigenen Text nutzt; und so bei den Lesern und Leserinnen die eigenen Erfahrungen weckt. Aber bei dem Beispiel, weißer Mensch schildert Diskriminierungserfahrungen schwarzer Menschen, setzt man sich in eine erklärende, lehrende Funktion, die bei manchen Menschen das Grundproblem bei diesem Thema zum Ausdruck bringt.

Den Rest habe ich gelöscht. Das tat nichts zur Sache und war nur auf ein Nebenkommentar in der Diskussion gerichtet.

Ich hoffe, dass ich verständlich geblieben bin. Ich gespannt, weiter mitzulesen!
Liebe Grüße
M.

 

Gehört man zu den als weiß bezeichneten Menschen begibt man sich damit aber in die ausbeutende Tradition der Kolonialherren.
Das heißt also, ein schwarzer Autor dürfte aber rein weiße Narrativen jederzeit erzählen, also auch die von irischen Sklaven in den U.S.A, und das wäre dann demnach nicht ausbeutend?

Es ist halt schon Wahnsinn, über was man alles nachdenken sollte, bevor man eine Geschichte schreibt. Ein weiser Mann sagte einmal - irgendjemandes heilige Kuh pisst man so oder so an.

Stringentes Argumentieren kann man lernen. Das setzt Zeit und Geduld voraus, mehr nicht (und natürlich Nüchternheit :D). Man entfernt sich dadurch nicht zwingend von seinen Emotionen.
Was hat das mit der Diskussion zu tun? Mich stört auch etwas dieser oberlehrerhafte Ton, aber hey, vielleicht bin auch nur ich das, dann nimm es nicht persönlich.

 

Mich stört auch etwas dieser oberlehrerhafte Ton, aber hey, vielleicht bin auch nur ich das, dann nimm es nicht persönlich.
Mist, das hatte ich schon befürchtet. Ich versuch das oben schnell mal umzuformulieren, um hier nicht rumzuärgern.

Das heißt also, ein schwarzer Autor dürfte aber rein weiße Narrativen jederzeit erzählen, also auch die von irischen Sklaven in den U.S.A, und das wäre dann demnach nicht ausbeutend? Es ist halt schon Wahnsinn, über was man alles nachdenken sollte, bevor man eine Geschichte schreibt. Ein weiser Mann sagte einmal - irgendjemandes heilige Kuh pisst man so oder so an.
Naja, es ging hier ja um das konkrete Beispiel, weißer Mensch schreibt über die Diskriminierungs-Erfahrungen schwarzer Menschen. Mehr nicht.

 

Naja, es ging hier ja um das konkrete Beispiel, weißer Mensch schreibt über die Diskriminierungs-Erfahrungen schwarzer Menschen. Mehr nicht.

Nee, alles gut. Ist ja einfach eine Frage, weil man das heute nicht mehr so genau beantworten kann. Zuletzt war #ownvoices ein dickes Thema, das scheint aber schon wieder out zu sein, weil es nicht trennscharf genug ist. Hey! Keine Ahnung. Ich schreibe nur Texte aus meinem persönlichen Erfahrungsfeld, das ist wahlweise ownvoices oder white heterosexual male stuff. Ich habe da mittlerweile den Überblick verloren.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom