Hui, interessante Diskussion. Mal wieder kann ich jeden Standpunkt nachvollziehen. (Ich komme von einer kleinen Geburtstagsfeier. Mir fällt es so schwer, logisch und stringent zu sein. Wo lernt man das? In der Schule? Ich hoffe, es ist trotzdem okay)
Authentizität - sie entsteht. Sie ist eine Interpretation, vielleicht eine Simulation. Für mich hängt sie eng mit Empathie zusammen. Empathie mag schnell in die Richtung eines Mitfühlens gehen, aber Empathietheorien betonen die mentale Simulation des Anderen. Auch eine literarische Welt simuliere ich und ich simuliere die Figuren in der literarischen Welt. Ich simuliere, aber ob das, was ich fühle, dem entspricht, was der andere fühlt, was eine literarische Figur fühlen kann, scheint philosophisch, psychologisch, eine ziemlich umstrittene Kiste zu sein.
Authentizität - das ist eine Daumenregel, mit der ich mich zum Beispiel durch eine Buchhandlung bewegen kann. Laufe ich um den Tisch in der Connewitzer Buchhandlung, Karl-Liebknecht-Straße, kann ich Klappentexte lese, Seiten aufschlagen und - zappzerapp - gelange ich sofort zu einem Urteil über die Authentizität. Das kann ich später verfeinern oder revidieren, sollte ich das Buch lesen. Aber das Urteil ist erstmal da und existiert. Da scheint es also eine kognitive Struktur zu geben, die ich unter "authentisch" subsummieren kann. Entspricht sie der Realität? Das ist, meiner Ansicht nach, ziemlich egal. Ob etwas wahr ist oder nicht, ob etwas wahr war oder nicht, hat mit Authentizität meiner Ansicht nach gar nichts tun. Es reicht aus, dass ich sie als wahr empfinde, wie @Carlo Zwei schreibt. Sie gibt mir Orientierung. Sie gibt mir Sicherheit. Ich kann sie kommunizieren. Der Eindruck ist erstmal da. Für mich keine Kategorien, eher eine Abstufung, eine Skala. Er reflektiert meine Erfahrungen. Meine Logiken. Meine neuronalen Aktivierungssysteme. Authentizität als Heuristik.
Aber ich werte und handle über Authentizität. Und andere auch. Seit Jahrhunderten wird einem Reisebericht der beliebte Satz vorgefügt: "Nach wahren Begebenheiten". Warum? Vielleicht, weil "Authentizität" mich in meiner banalen Existenz mit dem, der das Irre einer gescheiterten Polarexpedition erlebt hat, auf eine gemeinsame Ebene stellt. Vielleicht heißt Authentizität einfach: Wir können denselben Himmel sehen, auch wenn die Sterne andere sind.
Es gibt da ein schräges Beispiel aus Italien, das Museum Palazzo della Civiltà Italiana. Steht in Rom, in E.U.R. Das Museum enthält nachgemachte Plastiken der römischen Antike, mit denen Mussolini sein Regime aufwerten wollte. Also, ich gehe durch das Museum und sehe Fake-Römisches. Ist das authentisch? Natürlich ist das nicht authentisch, für mich. Andererseits ... ich weiß ja, dass das nicht authentisch ist. Aber wenn ich es nicht wüsste? Vielleicht hat Authentizität einfach mit Vertrauen zu tun und Vertrauen werten wir hoch ein. Ich treffe eine Arbeitskollegin: Ich vertraue dir, wenn du authentisch bist. Ich weiß, woran ich bin. Ich weiß dich einzuschätzen. Du gibst mir Sicherheit. Mein Hirn verbraucht weniger Energie. Das finde ich gut. Etc. etc. ...
Ist eigentlich eine Restauration authentisch? Münster, Prinzipalmarkt. Da ist nix authentisch. Alles brav aufgebaut. Dresden, Neumarkt. Da ist nix authentisch. Alles brav aufgebaut. Authentisch empfinden heißt: Das authentisch finden, was ich authentisch finden will.
Hilfe, ist das wirr. Entschuldigt, ich komme von einer kleinen Geburtstagsfeier samt Glühwein und dank meines schiefen Tagesrhythmus freue ich mich jetzt schon auf das Bett :-)
Lg aus Leipzig, authentische Metropole,
kiroly