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Gestrichen voll

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21.04.2015
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Gestrichen voll

Mir reicht’s!
Ich mach da nicht mehr mit.
Ehrlich wahr, die schlechte Laune quillt mir schon aus den Ohren. Soll doch jemand anders meine Arbeit erledigen.
Ich hab jedenfalls die Nase gestrichen voll, die Farbe Rosa zu sein!

Heute Morgen erst. Da ist so eine Omi ganz aus dem Häuschen, weil ein kleines Mädchen mich anhat. Sie winkt ihrer Freundin zu, beide schauen auf mich herunter und sagen „Oh, wie niedlich“ und „Hach, schau, was für ein tolles Kleid, ganz entzückend.“ Dann gehen sie weiter und haben mich in ein paar Sekunden wieder vergessen.
Oder wenn die Leute im Blumenladen nach Rosen fragen. Ich sitze auf den Blumen und warte darauf, dass mich jemand mitnimmt. Aber Rot gewinnt fast jedes Mal. Danach kommt Pink. Nach mir fragt kaum einer.
„Nein, lieber was Knalliges“, sagen sie.
Ich schaue dann immer an mir runter und fühle mich noch blasser.

Manchmal, da träume ich von Landschaften. Von kräftigen Farben, tiefblauen Seen und sattgrünen Wiesen. Die Sonne ist so gelb, dass es in den Augen wehtut, aber ich liebe das. Die Blumen leuchtend rot oder türkis.
Alle sind da, nur ich nicht.
Warum gibt es mich überhaupt?
Zwischen all dem Grellen und Kräftigen, wozu braucht es da mich?
Ich werde nur geholt, wenn etwas niedlich sein soll oder flauschig oder herzig.

Wie großartig wäre es, wenn die Menschen die Augen aufreißen würden, wenn sie mich sehen?! Wenn es ihnen die Sprache verschlüge. Ich wäre dann nicht niedlich und auch nicht bezaubernd.
Stark und mächtig, das will ich sein!
Sie würden sich die Hände vor den Mund schlagen, sich gegenseitig etwas zuflüstern und dastehen wie im Boden festgewachsen.
Ja, das fände ich gut.

Gerade in diesem Moment zieht mich eine Frau an. Also besser gesagt streift sie sich einen Pullover über, der wiederum mich anhat. Ich werfe einen Blick in den Schrank und winke meiner Cousine zu. Sie wird von einer Hose getragen, die über einem Bügel hängt. Die Frau nennt sie wie mich, nur dass sie ein „alt“ davor setzt. Gut, meine Cousine sieht ein bisschen schmutziger aus als ich. Dunkler und abgenutzter. Aber ich finde das toll. Ich würde sie nicht altrosa nennen, sondern echtrosa.
Die Frau geht mit mir in die Küche und gibt ihrem Freund einen Kuss. Er trägt einen Kapuzenpulli, auf dem Herr Schwarz sitzt. Ein griesgrämiger Zeitgenosse, aber ich freue mich immer, ihn zu sehen, weil er so anders ist als ich.

„Hey da drüben, wie geht’s?“, frage ich ihn und winke.
„Schlecht.“
„Versteh’ ich nicht.“
„Musst du auch nicht“, sagt er.
„Also ich an deiner Stelle hätte bombige Laune.“
„Nee, hättest du nicht.“
„Doch“, sage ich. „Ich wäre nämlich viel lieber Du und nicht Ich."
Herr Schwarz verdreht die Augen. „Jedes Mal nervst du mich damit. Sei doch mal froh darüber, wer du bist.“
„Bin ich aber nicht.“ Ich schüttle energisch den Kopf. „Warum sollte ich? Alle lächeln nur über mich. Keiner nimmt mich für voll. Und immer muss ich mit den anderen langweiligen Farben abhängen, weil die Menschen sagen, das passt so gut.“
„Du meinst die Pastellis?“, will er wissen.
Ich nicke. „Du dagegen, du bist so kräftig, so stark und dunkel. Du bedeutest etwas.“
„Ach ja?! Was bedeute ich denn?“
„Du bist sehr erwachsen, finde ich. Außerdem kommst du echt elegant rüber, dich nimmt jeder ernst, im Gegensatz zu mir. Und wenn’s drauf ankommt, dann fürchten sich die Menschen vor dir, weil sie dich nicht richtig verstehen. Du bist unheimlich und spannend. Gleichzeitig. Das ist ziemlich cool.“
„Weißt du, was nicht cool ist?“, fragt Herr Schwarz.
„Nein, was denn?“
Er schaut jetzt ganz schön betrübt aus der Wäsche. „Immer, wenn jemand traurig ist, werde ich rausgeholt. Meinst du, das fühlt sich gut an? Meinst du, das mache ich gerne?“
„Oh.“ Ich schlucke. „Tut mir leid, das war blöd von mir. Daran hab ich nicht gedacht.“
„Nee, haste nicht.“
Ich traue mich gar nicht mehr, ihn anzusehen.
„Über was beschwerst du dich denn?“, fragt er. „Die Menschen brauchen dich. Und du kapierst es einfach nicht, du meckerst immer nur rum.“
„Sie brauchen mich?“
„Klar. Was meinst du, wie oft sie genug von mir haben. Dann wünschen sie sich eine Farbe, die hell ist und fröhlich. Bei der sie schöne Gedanken kriegen. Und diese Farbe bist du.“
„Das ist alles?“
„Das ist viel“, sagt er. „Das ist das Gleichgewicht.“

Der Mann mit dem Pullover steht auf und verlässt das Zimmer. Also muss Herr Schwarz auch gehen. Ich hätte so gerne noch länger mit ihm geredet.
Er hat gesagt, ich bin wichtig.
Darüber muss ich nachdenken.
Die Frau geht ins Schlafzimmer und stellt sich vor den Spiegel. Dann zieht sie den Pullover aus und schmeißt ihn aufs Bett. Sie betrachtet ihn, nein, eigentlich betrachtet sie mich, und murmelt: „Nee, heute mal kein Rosa.“
Dann greift sie in ihrem Schrank nach einer knallroten Strickjacke.
Na toll.

 

Hi @Rob F,

danke dir für deine Idee, "davon" zu streichen gefällt mir :)

Und ja, du hast recht, könnte man auch sehr schön auf's Arbeitsleben anwenden, den Anfang :D

Viele Grüße!
RinaWu

 

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