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Global Tinnitus
New York 17.05.2009, 16:52
Diesmal überraschte es mich im Taxi auf dem Westside Highway, mitten im Berufsverkehr.
Ganz leise, aber darum nicht weniger einnehmend. Das hatte mir noch gefehlt, so kurz vor der Präsentation meiner Ausarbeitung über das Konsumverhalten der neuen Unterschicht. Die nötigen Vorbereitungungen hatte ich aufgrund eines Wiedersehens mit Caren Leshinsky sowieso arg vernachlässigt. An Schlaf war auch danach nicht zu denken gewesen, da Nancy, meine Ridgeback Hündin, einfach nicht aufhören wollte zu winseln.
Ich versuchte mich durch die Erinnerungen an den stürmischen Abend abzulenken, was mir nur partiell gelang. Caren ist schon ne Sau.
Immer wieder mogelte sich das noch kaum hörbare Piepen in den Vordergrund und erinnerte mich nur zu gut daran, wohin das führen würde.
Auch die Nachrichten, die sich aus den schäbigen Boxen des Autoradios zwangen, vermochten es nicht länger, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Ich wühlte die Arbeit der letzten Tage und Wochen aus meinem nagelneuen Krokodilslederkoffer. Ein paar letzte Vorbereitungen konnten nicht schaden.
Das Koks hätte ich mir besser gespart. Caren hatte, wie eigentlich immer, etwas dabei. Ablehnen wäre besser gewesen, wohl auch für meine Gehörgänge.
Schon damals, als wir gemeinsam Bloombergs Wahlkampf leiteten, kam das Wort „Nein“ in ihrer Gegenwart für mich nicht in Frage.
„Ist übell ...“
„Was?“ Ich konnte mich nicht erinnern, den Fahrer zu einem Gespräch ermuntert zu haben.
„Animal muerte ...“ Heißt merde nicht Scheiße auf Französisch?
„Ja, ich mag die Viecher auch nicht.“ Und jetzt lass mich arbeiten, du Fanatiker.
„Is Schuld Sonido ...“ Kann ich mal ihre Aufenthaltsgenehmigung sehen?
„Ich muss mich eigentlich ...!“
„Como ...?“ Ein Stirnrunzeln sollte als Übersetzung reichen.
„Ah, okay ...“ Das hätten wir geklärt.
Nachdem ich ein paar Minuten versucht hatte, die ersten Worte meines Vortrags in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, gab ich auf.
„Konzentrieren Sie sich auf etwas Schönes“, hatte Doktor Dixon mir bei meinem ersten Besuch geraten.
In einem nach Kreuzkümmel und Knoblauch stinkenden Taxi, im Stau auf dem Westside an etwas Positives zu denken, gehörte nicht gerade zu den Vorhaben, die sich leicht umsetzen ließen. Schon gar nicht, wenn dieser bohnenfressende Analphabet es nicht hinbekam, den Empfang seines Radios richtig einzustellen.
„Könnten Sie ihr Radio bitte ...“ Die ausbleibende Reaktion ließ meinen Blick kurz in den Rückspiegel gleiten, obwohl ich den Augenkontakt mit meinen Fahrern eigentlich immer zu meiden versuchte.
Man kann ja nie wissen, ob sich diese Wilden vielleicht irgendwann an einen erinnern.
„Das Radio ... Signor ...!“ Zu dem Summen gesellte sich mittlerweile ein ebenfalls zunehmender Druck auf meinem Schädel. Er musste das mit dem Empfang hinbekommen oder es ausschalten.
„Mach jetzt das scheiß Radio aus!“ Erst jetzt bemerkte ich den gehetzten Blick des Südamerikaners im Ausschnitt des Spiegels. Seine Pupillen flackerten über tiefschwarzen Augenringen wie die Anzeige eines Geigerzählers auf Three Mile Island. Er hielt, scheinbar unbeeindruckt von meinem Kreischen, starr sein Lenkrad umschlossen, als dachte er, es würde ohne sein Zutun einen Fluchtversuch unternehmen.
„Sonido ...“
„Was redest du da für einen Scheiß, Mann?“ Von dem immer schriller werdenden Klingeln getrieben, schmiss ich ihm einen Zehner durch die offenstehende Scheibe und presste die verdreckte Tür auf. Der Wagen hatte sich schon seit einer Viertelstunde nicht mehr von der Stelle gerührt, was meine Flucht begünstigte.
„Du bist doch irre!“, schrie ich noch in die Kabine, während ich erkannte, dass wohl die pinkfarbenen Wattebäusche in seinen Ohren ihn vom Hören meines Gezeters abhielten.
Erleichtert, der Lärmhölle entflohen zu sein, stand ich einen kurzen Augenblick orientierungslos am Straßenrand. Die akustische Plage war mir gefolgt, aber wenigstens hatte ich das kranke Radio und den Enchiladagestank hinter mir gelassen. Nachdem ich mich entschieden hatte, meinen Blick vom Hudson-River zu lösen, dauerte es ein Weilchen, bis ich begriff, dass es sich bei diesem Stau keinesfalls um den Berufsverkehr handelte.
Rio de Janeiro 17.05.2009, 19:03
Dichter schwarzer Rauch schwebte über der Autoschlange auf der Rodigues Alves. Aufgeregte Schreie übertönten die Kakofonie der Hupen und ließen mich für einen Augenblick den Zustand meines eigenen Ohres vergessen. Aber nur kurz.
Es war keine Zeit, mich um irgendwelche Unfallopfer kümmern. Ich musste es schaffen, noch vor der Veranstaltung den Arzt aufzusuchen, um dann pünktlich zur Ausstellungseröffnung an der Chácara do Céu anzukommen. In diesem Zustand konnte ich da eindeutig nicht aufkreuzen.
Zumindest Pentoxyphillin fürs Erste und was zur Beruhigung.
Das Taxi stand immer noch an derselben Stelle. Ich schlug dem verrückten Americano zum Abschied noch mal aufs Dach und begann Richtung City zu traben, wo der Doktor seine Praxis hatte. Eine knappe Stunde blieb mir noch.
Eine ohrenbetäubende Detonation, gefolgt von den obligatorischen Schreckenslauten lenkte meine Aufmerksamkeit einen Sekundenbruchteil von der Strecke ab. Das kostete mich eine gute Minute, da ich mich von einem umgestoßenen Kinderwagen samt seiner schreienden Fracht befreien musste.
Unter der Costa E Silva waren anscheinend zwei Schiffe kollidiert.
Ich rannte vorbei an verkeilten Lastwagen, deren Fahrer bei der Flucht vor den Flammen anscheinend von den Resten geborstener Windschutzscheiben aufgehalten wurden. So erklärte ich mir zumindest die verkohlten Leiber, die aufgespießt in den ansonsten leeren Rahmen hingen. Über die Ästhetik des mir gebotenen Schauspiels nachzudenken verschob ich auf später.
Nachdem ich einem Haufen toter Tauben leider nur teilweise ausweichen konnte, zwang sich mir ein neues Problem auf: Wo krieg ich jetzt noch neue Schuhe her?
Doch das weiter anschwellende Piepen brachte mich schnell zurück zur Essenz meiner Sorgen:
Was, wenn um die Uhrzeit keiner mehr in der Praxis ist?
Ich riss im Laufen mein Handy aus der Tasche und drückte die verwendete Kurzwahlziffer. Noch bevor ich es richtig an meine Ohrmuschel pressen konnte, hielt mich das schrille Pfeifen, das aus dem Hörer drang, davon ab.
„Mist, verfluchter!“
Wutentbrannt schleuderte ich das Telefon auf den federübersäten Asphalt. Der Doktor wird schon da sein.
Es war noch eine Abbiegung zu nehmen, dann sollte die Praxis erreicht sein. Der Druck in meinem Kopf nahm von Schritt zu Schritt zu. Diesmal war es irgendwie anders.
Ich kam schließlich auf die Pista central. Das sich mir bietende Bild ähnelte dem auf dem Rodigues Alves, nur dass hier anscheinend ein in einen Reisebus gestürzter Hubschrauber das Seine zur Vollendung der Misere beigetragen hatte. Flammen schossen aus dem Inneren der Fahrzeuge. Menschen (oder was davon übrig war) rannten in kopfloser Panik gegen Autos, manche suchten das rettende Wasser. Geschmolzene Lider machten die Suche nicht einfacher. Die rauchgesättigte Luft machte mir das Atmen schwer. Es roch, als hätten tausend Köche an Stelle der Würstchen ihre Hände samt der Latexhandschuhe auf die heiße Grillplatte gelegt. Gummi und Fleisch ...
Das diese Vorstellung begleitende Zischen hatte allerdings eine andere Ursache. In meiner Sorge um das wiederkehrende Übel hatte ich das Ausmaß dieser Katastrophe anscheinend unterschätzt. Jetzt erwischte es mich mit voller Wucht. Ich taumelte, fand Halt an einer Ampel. Überall brennende Autos.
„Helfen Sie mir!“ Was ist hier passiert?
“Ich brauche Hilfe!“ Ein Blick nach unten präsentierte mir den störenden Bittsteller.
Die Ampel eng umschlingend lag ein Polizist zu meinen Füßen. Seine Hose brannte, war aber zu seinem Glück nur noch halb gefüllt. Blut sickerte durch jede Naht seiner zerfledderten Kleidung. Seine offene Stirn presste er an meine Schuhspitzen.
“Hören Sie, da ist lauter Taubenzeugs dran, besser Sie tun Ihren Kopf woandershin.“
„Hilf ...!“ Er brachte nur noch ein gurgelndes Röcheln zustande.
„Tut mir wirklich leid, ich muss zum Arzt“, sagte ich und rannte weiter.
Der Grund dafür fraß sich unnachgiebig in mein Gehör wie eine Termite in ein Stück Kork.
Nachdem ich noch mal umgekehrt war, um mir seine Dienstwaffe anzueignen (selbstverständlich nicht ohne als Gegenleistung ein erstes Mal davon Gebrauch zu machen), rannte ich schließlich über die Straße, die mich von der erlösenden Medizin trennte.
Das Geräusch legte zu, es war allerhöchste Zeit.
London 17.05.2009, 22:17
Als ich um die Ecke bog, traf mich ein Schlag so hart wie der Morgenschiss nach zehn Kilo Bananen. Auf der Gray’s Inn war kein Durchkommen mehr. Dicht an dicht standen sie da, als würden sie auf den Startschuss beim Schlussverkauf von Harrods warten. Das Personal versuchte mit Hilfe einiger Bobbys die Menge davon abzuhalten, die Klinik zu stürmen, doch der Durchbruch war nicht mehr fern. Einer der Bullen versuchte ungeschickt eine Ansage durch ein Megafon zu machen, doch das Ergebnis brachte die Menschen in Aufruhr. Noch bevor die Rückkopplung verklungen war, hatte sich die kreischende Menge um mindestens vier Meter dem Gebäude genähert, was rein rechnerisch für die Leute aus den ehemals vorderen Reihen keine allzu gute Position darstellte. Das Schrillen in meinen Ohren hatte durch diesen verfickten Penner Futter gekriegt und saß jetzt fett und faul mitten in meinem Audiocortex.
Eine gute halbe Stunde hatte ich noch, bis Bacon-Neck mich im Venus erwartete, und bis Soho war es noch eine gute Strecke zu fahren. Mit einem Taxi konnte ich bei dem Verkehrschaos nicht mehr rechnen und mein Handy war weg. Trotz der minütlich nachlassenden Konzentration bemerkte ich, dass diese Ausgangssituation keine gute war.
„Fuck!“ Ich begann mich in die Menge zu drängeln, allerdings nicht ohne auf Gegenwehr zu stoßen.
Empörtes Raunen. Grapschende, zerrende Hände und eine immer weiter zunehmende, alles zerpressende Enge hinderten mich daran, gemütlich in den Klinikvorraum zu spazieren und mit meiner Selbstdiagnose an der mir nur allzu vertrauten Rezeption vorstellig zu werden.
Ich hatte mich mittlerweile ganz gut vorgearbeitet und merkte an dem nachgebenden Untergrund, dass ich die Viermeterzone erreicht haben musste. Ich sah auch schon den Verursacher des zermalmenden Gedränges, wie er dastand mit seinen schwulen Ohrenschützern und mit um den Mund geschirmten Handflächen versuchte, dem Mob etwas mitzuteilen. Ich wiederum hatte mit rabiater werdendem Widerstand der Massen zu kämpfen, da sie sich, ähnlich wie ich, ihrem Ziel schon so nah wähnten. Doch eine erhobene Kanone wirkte gerade in solch angespannten Situationen Wunder.
Wogegen die Waffe nichts ausrichten konnte, war irgend etwas, in das sich mein rechter Fuß verheddert hatte. Ich steckte verficktnochmal irgendwo fest.
Mit Nachdruck und einem Warnschuss in das Gesicht eines besonders ungehaltenen Zeitgenossen bekam ich die Chance, das Dilemma unter die Lupe zu nehmen.
So langsam begann die Sache an meinen Nerven zu zerren. Mein Ohrgeräusch hatte seinen höchsten Pegel anscheinend noch nicht erreicht, schraubte sich höher und höher, um dann wieder abzufallen und sich mit einem Brummen zu vermischen.
Ich bückte mich langsam, nachdem ich einen der Umstehenden mit der stählernen Mündung an seinen Eiern überzeugt hatte, für ein reibungsloses Wiederauftauchen zu sorgen. Als ich schließlich gebückt dastand, ohne mich eigenständig auch nur einen weiteren Millimeter bewegen zu können, wurde mir siedendheiß klar, dass dies keine Position war, in der ich sterben wollte. Also befreite ich hektisch meinen Fuß aus der Schädeldecke, in die er sich verkeilt hatte, und schoss meinem Zwangspartner als Zeichen für mein Vorhaben, wieder aufzutauchen, ins Schienbein.
Als ich wieder oben war, hatte ich leider keine Gelegenheit, mich für die engagierte Hilfe zu bedanken, da ich den Kerl nicht wiedererkannte. Was ich aber sah, jagte mir einen verfickten Schrecken ein. Der Ausdruck in den Gesichtern der Leute war es, dieser geplagte leidende Blick. Sie sahen aus wie ... wie Becky, wenn sie einen ihrer Migräneanfälle hatte ... wie Simon, als er über Monate dieses komische Brennen in seiner Bauchdecke hatte ... wie ... wie ich, als ich ...
Ich packe den mir am nächsten Stehenden. „Was hast du? Warum bist du hier?“
„W ... wegen meinen Ohren“, stotterte der Mann.
Und die Nächste: „Du, was ist mit dir?“
„Tinnitus.“ Sie schaute mir forsch in die Augen, konnte ihre Panik aber nicht verbergen.
Und ich glaubte nicht, dass ich der verfickte Grund dafür war.
Berlin 17.05.2009 23.42
Es dauerte eine Weile, bis ich mich aus dem Gedränge befreit hatte. Den Termin mit Moschinsky und meinen rechten Schuh hatte ich schon länger abgeschrieben. Er musste sich mit den Flyern wohl etwas gedulden. Das neu gesteckte Ziel war meine Wohnung, dort hatte ich, soweit ich mich erinnerte, noch ein paar Valium von Gitte herumfliegen. Vielleicht sogar noch ein Päckchen Pentox von damals, oder auch gerne was Härteres. Aber ich vermutete, dass ich sie entsorgt hatte, als es besser geworden war.
Ich zog mir die Zahnwurzel aus der Ferse, die ich mir irgendwie eingetreten hatte, und verfiel wieder in den Trab, der mich schon hierhin gebracht hatte. Um zu meiner Wohnung zu gelangen, musste ich den Alex überqueren und weiter bis zur Karl-Liebknecht, wo ich seit ein paar Wochen wohnte.
Eine S-Bahn war aus den Gleisen gesprungen und hing wie eine abgeschossene Riesenschlange von der Brücke.
Verlassene Feuerwehrwagen standen umher und gaben mit ihrem Blaulicht die zynische Lightshow für das Spektakel. Die Skyline der nächtlichen Stadt war in ein dunkles Orange gehüllt, das sich Richtung Tempelhof zu einem leuchtenden Gelb verfärbte. Überall brannten Autos, rannten Menschen orientierungslos durch demolierte Straßen. Von irgendwoher kamen Schüsse.
Ich fühlte mich zurückversetzt in meine Zeit in Kreuzberg, Mitte des letzten Jahrzehnts. Ungefähr da hatte sich mein Geräusch das erste Mal gemeldet. Nach einem durchgefeierten Wochenende mit Julia im Tresor.
Ein südländisch wirkender Junge in Jogginganzug riss mich auf der Mitte des Alexanderplatzes aus meinen Erinnerungen. Sein Messer machte keinen Eindruck auf mich. Zu sehr zitterte die Hand, die es hielt.
„Hau ab, Mann!“ Der Kolben der SIG auf seiner Nase unterstrich meine Entschlossenheit. „Keine Zeit für sowas.“
Auf der Mitte des Alex war die verheerende Frequenz bereit für ihren nächsten Aufguss.
Ein panischer Aufschrei ging durch die sowieso schon planlose Menge. Etliche gingen durch die Schallwelle zu Boden, einer davon ich. Es war nicht mehr auszuhalten. Mein Herz raste, drohte sich selbst zu überholen, während mein Gehirn an die Schädeldecke schlug wie ein Sträfling in seiner ersten Nacht in Haft an die Tür seiner Zelle.
Als mit einem Lauten Knall die Glasscheiben der umliegenden Geschäfte barsten, entlud sich der Druck und das Tor sprang auf. Wie in Zeitlupe regneten die bunt beleuchteten Scherben des Fernsehturms auf die Erde herab und vollendeten den Eindruck, der neuesten André Heller-Show beizuwohnen.
Dubay 18.05.2009 3:24
Ich erwachte aus einer Ohnmacht.
Das unnachgiebige Klingeln des Weckers drang in jede meiner geschundenen Poren. Winzigkleine Ohrmuscheln waren an jeder von ihnen gewachsen. Ich kicherte wie eine Irre über diese Idee, aber der Alarm zwang mich aufzustehen. Leider gab es keinen Knopf, den ich betätigen konnte, um mich noch mal umzudrehen, und der neue Tag war bereits im vollen Gange. Kein Aufschub, keine Sleep-Taste, ich musste weiter.
Ich drückte mich stöhnend vom Boden ab und quälte mich aus dem menschlichen Bodenbelag. Die Glassplitter lagen überall verstreut, bedeckten die Szene mit glitzerndem Staub.
Als ich das Hotel am Abend verlassen hatte, war es noch das stolze Segel, wofür es so berühmt war. Nun wirkte es wie die Karkasse eines überdimensionalen Fisches. Es überragte die zuckenden Körper orientierungslos angespülter Meereslebewesen, wie ein Mahnmal von Greenpeace.
Ich griff nach der Uzi, die ich mit einem letzten Funken Geistesgegenwart vor der Ohnmacht unter mein Kleid geschoben hatte und machte mich auf den Weg. Meine Ferse schmerzte bei jedem Schritt, aber einer meiner 300-Dollar-Louis-Vuitton-Schuhe steckte in jemand anderem. Die Verzweiflung, die ich vor einiger Zeit noch gespürt hatte, war dem reinen Überlebenstrieb gewichen und brachte mich vorwärts.
Ich musste in die siebte Etage, was mir angesichts der offensichtlich kaputten Glasaufzüge einen kurzen Angstschub einbrachte. Die in den leeren Stahlgehäusen hängenden, an blutgetränkte Schwämme erinnernden Kadaver riefen mir allerdings in den Sinn, dass ich es auch als Vorteil werten konnte, nicht in einem von ihnen gewesen zu sein, als sie implodierten.
Omsk 18.05.2009, 5:38
Ich fand die Treppenhäuser hinter der Rezeption. Die Lampen, die normalerweise auf die Notausgänge hinwiesen, hatten sich in Staub verwandelt, der unter meinem beschuhten Fuß ein kaum noch wahrnehmbares Knirschen verursachte. Der Ton stieg weiter an. Ich brauchte die Medikamente, obwohl ich mir nicht mehr sicher war, was genau sie mir bringen sollten.
In diesem Chaos noch an das Treffen mit Servidijin zu denken, erschien mir wie ein schlechter Scherz, aber er hatte gedroht, sich meine Familie vorzunehmen, wenn ich nicht liefere. Meine Familie ...
Nachdem ich einige Male Gebrauch von meiner Makarov machen musste, um dem Tod durch Zertrampeln zu entgehen, machte ich eine kurze Rast. Ich verband meinen blutenden Fuß mit der Krawatte eines auf den Treppenstufen kauernden Jungen, dessen zersprungene Brillengläser ihm das Augenlicht nahmen. Ich strich dem Weinenden über den Kopf und setzte meinen Aufstieg fort. Trösten war nie meine Stärke.
„Wenigstens kannst du noch hören, Junge.“ Ich selber hörte mich nicht.
Tokio 18.05.2009 7:57
Der Gegenverkehr wurde geringer, je höher ich kam.
Ich riss die Tür zu meiner Etage auf. Eine frische Morgenbrise wehte mir entgegen, angereichert mit kaltem Rauch und der von Gott geschickten Strafe für unseren Leichtsinn.
Das Gerippe des gegenüberliegenden Shiodomes, das den Ausschnitt des leeren Fensterrahmens am Ende des Flurs ausfüllte, zog für einen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich. Es hinderte mich aber nicht daran, zu bemerken, dass meine Wohnungstür offenstand.
Ich lupfte meine Dienstwaffe aus dem Halfter und schlich mich, wie in Hunderten von Trainingsstunden bei der Einheit geübt, mit dem Rücken an der Wand in Richtung des Apartments. Die Intensität des Pfeifens nahm mit jedem Schritt zu. Mein Herz hämmerte stakkatisch, doch ich überwand meine Angst und sprang vor.
Sydney 18.05.2009 9:17
Meine frisch gewaschenen Vorhänge wehten im Wind. Auf dem Teppich mischten sich verschiedenste Glassorten und ergaben mit den leeren Medikamentendöschen ein Mosaik des Schreckens. Das Getöse war hier markerschütternd, füllte den Raum aus und ließ keinen Platz für menschliches Leben. Der Zorn der Regenbogenschlange war groß und laut.
Auf dem Sofa lag Betty, mit leerem Blick die Decke betrachtend. Ihre leblosen Fingern hielten mein Radio umkrallt, aus dem der Lärm zu kommen schien. Ich beendete die Übertragung mit einem gezielten Schuss aus der Pumpgun.
Wellington 18.05.2009 11:29
Verzweifelt kniete ich auf dem Flokati und wühlte mich durch das Gemisch aus Dreck, Glas und zwei Blutgruppen. Die Schlampe hat sich meine Tabletten gekrallt!
Alle meine Medikamente hatte dieses Aas gefressen und mit meinem 79er Sauvignon runtergekippt.
„Erst mit der halben Nachbarschaft ficken und dann meine Pillen fressen, du Sau!“
Meine letzte Patrone zerschmetterte ihren Unterkiefer.
Honolulu 17.05.2009 14:32
Heulend wie ein angefahrener Hund hockte ich in den Überbleibseln meines Wohnzimmers, aber außer dem Geräusch war da nichts mehr.
Langsam rappelte ich mich auf. Wo eine Flasche ist ...
Auf allen Vieren begab ich mich auf die Suche nach dem Werkzeug der Erlösung, ungeachtet der Schmerzen, die die Splitter in meiner Haut verursachten.
... ist auch ein Korken.
Hakamaii 17.05.2009 15:05
Das Knacken meines Trommelfells beim Eindringen des Korkenziehers erinnerte mich an die Muschelschalen, die ich als Kind immer zerdrückt hatte. Ich lachte, ließ es aber schnell wieder. Bei Ohr Nummer zwei war die Scheu schon nicht mehr so groß. Erneut ein Erinnerungsfetzen an meine Kindheit unten am Strand.
Juneau 17.05.2009 15:37
Wieder lachte ich, diesmal länger. Wie kann das sein?
Angenehm warm floss es meinen Hals herab. das Gefühl aus meinem Kopf verschwand. Was leider blieb, war das Geräusch.
Mexico City 17.05.2009 16:38
Tiefer und immer tiefer trieb ich das Gewinde in meine Gehörgänge, wie ein Specht auf Beutejagd. Doch es hörte ...
Winnipeg 17.05.2009 17:38
... einfach nicht ...
New York 17.05.2009 18:39
... auf.