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Wenn da keine Wahl mehr ist; man sich für nichts mehr entscheiden kann, weil da einfach nichts ist. Vielleicht ist das der Punkt, sagte ein weiser Mann, vielleicht ist das der Punkt, an dem das Schicksal aufhört zu existieren. Einfach so. Es verpisst sich durch den Notausgang.
Neugebauer betrachtet die Serviette in seinen Händen. Seit Minuten dreht und knüllt er sie. Man kann nicht sagen, ob er das liebevoll oder wütend macht. In seinem Gesicht ist kein Ausdruck, keine Emotion. Er sitzt einfach bloß da und dreht und knüllt diese Serviette. Unmöglich da zu sagen, ob er es wütend oder liebevoll macht.
Schließlich steht er auf, verliert sich für einen unsichtbaren Moment in der Frage, wo er sich denn eigentlich befindet. Dann fällt es ihm wieder ein, und die Serviette legt er auf den Tisch.
Das ist manchmal so. Die Leute schwimmen in Gedanken, die sonstwo sein können, und irgendwann spülen einen die Wellen dieser Gedanken an ein Ufer, an dem man in Wahrheit gar nicht ist. Es braucht einen Augenblick, bis man zurück in die Realität findet; die Orientierung zurückerlangt.
Außenstehenden fallen solche Dinge meist nicht auf. Sie sind ja auch genug mit sich selbst beschäftigt. Da wäre es zu viel verlangt, darauf zu achten, ob ein Fremder, der nur zufällig im selben Restaurant mit einem sitzt, vielleicht kurz den Verstand verloren hat.
Auf solche Dinge achtet man nicht. Er kehrt ja schließlich auch wieder. Also, der Verstand.
Neugebauer hat das Essen schon bezahlt. Sein Teller wurde auch bereits abgeräumt. Eigentlich kann er jetzt gehen. Zu diesem Zeitpunkt hat das Restaurant seinen Sinn ja erfüllt, und eigentlich kann er jetzt gehen.
Aber ohne die Serviette?
Das Seltsame am Seltsamen ist, dass es seltsamerweise immer dann passiert, wenn man meint, alles sei normal. So wird das Normale seltsam, und das will erst einmal verdaut werden.
Diese Frau, diese Frau und ihre Nummer. Neugebauer kennt sie nicht. Sie war vorhin nur zufällig mit ihm zusammen im selben Restaurant. Das ist ja das Komische.
Sie war zufällig mit ihm hier. Dass sie überhaupt hier war, hatte sie im Vorfeld sicher geplant. Niemand stolpert einfach so aus Versehen in ein Restaurant und bestellt die Nummer 37, dazu ein Glas Mineralwasser.
Solche Dinge sind beabsichtigt. In dem Sinne ist es also kein Zufall gewesen. Nur eben die Tatsache, dass sie und er, also sie beide, gleichzeitig in diesem Restaurant gewesen sind und irgendwelche Nummern bestellt haben, die ist Zufall.
Er und diese Frau, diese Frau und ihre Nummer. Die Nummer dieser Frau auf der Serviette.
Das ist Zufall.
Und das ist seltsam.
"Sie sehen einsam aus", hatte sie gesagt.
Und dann hatte sie nach der Serviette gegriffen, und eine Nummer darauf geschrieben.
Einfach so. Wie in einem Liebesfilm. So hatte er sich gefühlt, wie in einem Liebesfilm.
Einfach so hatte die Miene des Kugelschreibers zweimal geklackt. Einfach so war der Kugelschreiber nach getaner Arbeit zurück in der Handtasche verschwunden.
Einfach so war die Frau dann gegangen.
Nur ein: "Sie sehen einsam aus." - Und diese Stimme, sie klang auch einsam. Aber nicht so, wie man sich die Stimme von jemandem vorstellt, der allein ist. Eher so wie die Stimme von jemandem, der verrückt genug ist, seine Nummer auf die Serviette eines unbekannten Menschen zu schreiben.
Diese Art von Einsamkeit eben. Eine verrückte.
Und nun steht er hier; Neugebauer steht hier, vor diesem Tisch, inmitten dieses Restaurants, und er fragt sich, ob er drin ist, also in diesem Liebesfilm. Dieser Liebesfilm in seinen Gedanken. Die Puzzlestücke einer Handlung; tausendmal gesehen; ein Puzzle aus den immer selben Teilen, in jedem Film anders zusammengefügt.
Denn in Wahrheit ist dieses Puzzle ohne Motiv. Das ist kaum vorstellbar, aber dieses Puzzle ist tatsächlich ohne Motiv.
Der Sinn liegt darin verborgen, dass sich die Teile auf unterschiedliche Weise zusammensetzen lassen. Hätte das Puzzle ein Motiv, ginge das nicht.
Doch so ist es eine bildlose Leinwand. Es ist wichtig, die Teile ineinander zu legen. Das Bild zeichnet man selbst.
Das Bild zeichnet man dann selbst. Das gehört nicht zum Puzzlespiel.
Neugebauer lacht, als er das Restaurant verlässt.
Die Serviette in der Tasche.
Die Serviette der unbekannten Frau. Die Nummer der unbekannten Frau auf der Serviette, und er lacht.
Lacht das erste Mal seit ... lachhaft, sich daran erinnern zu wollen.
Und er lacht lauter!
Sie sehen einsam aus.
Er fasst sich mit Zeigefinger und Daumen an die Stirn. Manchmal wäre es wünschenswert, Kopfschmerzen zu haben. Gedankenschleifen sind schmerzhafter als Kopfschmerzen.
Einfach nur Ablenkung.
Da steht ein Münztelefon, rast es in ihm. Es rast deshalb, weil alles Schleichende zu spät daran erinnert, dass ohnehin keine Wahl vorhanden ist.
Wenn es die Wahl nicht mehr gibt, hört das Schicksal auf zu existieren.
Es ist nicht schön, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, dass alles sowieso und ohnehin entschieden ist.
Jetzt und für alle Ewigkeit.
Er hat noch eine Münze, eine Münze, die nicht dem Trinkgeld anheim gefallen ist.
Nur noch eine.
Zitternd wirft er sie ein, und dann wählt er die Nummer; wählt er die Nummer und ein Freizeichen ertönt.
Es ist ungewiss, ob jemals irgendwer den Hörer abnehmen wird. Es wären zwei Hörer, die zufällig gleichzeitig abgenommen wären.
Es wäre seltsam.
Seltsam und Zufall.