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24.04.2003
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Wenn da keine Wahl mehr ist; man sich für nichts mehr entscheiden kann, weil da einfach nichts ist. Vielleicht ist das der Punkt, sagte ein weiser Mann, vielleicht ist das der Punkt, an dem das Schicksal aufhört zu existieren. Einfach so. Es verpisst sich durch den Notausgang.


Neugebauer betrachtet die Serviette in seinen Händen. Seit Minuten dreht und knüllt er sie. Man kann nicht sagen, ob er das liebevoll oder wütend macht. In seinem Gesicht ist kein Ausdruck, keine Emotion. Er sitzt einfach bloß da und dreht und knüllt diese Serviette. Unmöglich da zu sagen, ob er es wütend oder liebevoll macht.
Schließlich steht er auf, verliert sich für einen unsichtbaren Moment in der Frage, wo er sich denn eigentlich befindet. Dann fällt es ihm wieder ein, und die Serviette legt er auf den Tisch.
Das ist manchmal so. Die Leute schwimmen in Gedanken, die sonstwo sein können, und irgendwann spülen einen die Wellen dieser Gedanken an ein Ufer, an dem man in Wahrheit gar nicht ist. Es braucht einen Augenblick, bis man zurück in die Realität findet; die Orientierung zurückerlangt.
Außenstehenden fallen solche Dinge meist nicht auf. Sie sind ja auch genug mit sich selbst beschäftigt. Da wäre es zu viel verlangt, darauf zu achten, ob ein Fremder, der nur zufällig im selben Restaurant mit einem sitzt, vielleicht kurz den Verstand verloren hat.
Auf solche Dinge achtet man nicht. Er kehrt ja schließlich auch wieder. Also, der Verstand.
Neugebauer hat das Essen schon bezahlt. Sein Teller wurde auch bereits abgeräumt. Eigentlich kann er jetzt gehen. Zu diesem Zeitpunkt hat das Restaurant seinen Sinn ja erfüllt, und eigentlich kann er jetzt gehen.
Aber ohne die Serviette?
Das Seltsame am Seltsamen ist, dass es seltsamerweise immer dann passiert, wenn man meint, alles sei normal. So wird das Normale seltsam, und das will erst einmal verdaut werden.
Diese Frau, diese Frau und ihre Nummer. Neugebauer kennt sie nicht. Sie war vorhin nur zufällig mit ihm zusammen im selben Restaurant. Das ist ja das Komische.
Sie war zufällig mit ihm hier. Dass sie überhaupt hier war, hatte sie im Vorfeld sicher geplant. Niemand stolpert einfach so aus Versehen in ein Restaurant und bestellt die Nummer 37, dazu ein Glas Mineralwasser.
Solche Dinge sind beabsichtigt. In dem Sinne ist es also kein Zufall gewesen. Nur eben die Tatsache, dass sie und er, also sie beide, gleichzeitig in diesem Restaurant gewesen sind und irgendwelche Nummern bestellt haben, die ist Zufall.
Er und diese Frau, diese Frau und ihre Nummer. Die Nummer dieser Frau auf der Serviette.
Das ist Zufall.
Und das ist seltsam.
"Sie sehen einsam aus", hatte sie gesagt.
Und dann hatte sie nach der Serviette gegriffen, und eine Nummer darauf geschrieben.
Einfach so. Wie in einem Liebesfilm. So hatte er sich gefühlt, wie in einem Liebesfilm.
Einfach so hatte die Miene des Kugelschreibers zweimal geklackt. Einfach so war der Kugelschreiber nach getaner Arbeit zurück in der Handtasche verschwunden.
Einfach so war die Frau dann gegangen.
Nur ein: "Sie sehen einsam aus." - Und diese Stimme, sie klang auch einsam. Aber nicht so, wie man sich die Stimme von jemandem vorstellt, der allein ist. Eher so wie die Stimme von jemandem, der verrückt genug ist, seine Nummer auf die Serviette eines unbekannten Menschen zu schreiben.
Diese Art von Einsamkeit eben. Eine verrückte.
Und nun steht er hier; Neugebauer steht hier, vor diesem Tisch, inmitten dieses Restaurants, und er fragt sich, ob er drin ist, also in diesem Liebesfilm. Dieser Liebesfilm in seinen Gedanken. Die Puzzlestücke einer Handlung; tausendmal gesehen; ein Puzzle aus den immer selben Teilen, in jedem Film anders zusammengefügt.
Denn in Wahrheit ist dieses Puzzle ohne Motiv. Das ist kaum vorstellbar, aber dieses Puzzle ist tatsächlich ohne Motiv.
Der Sinn liegt darin verborgen, dass sich die Teile auf unterschiedliche Weise zusammensetzen lassen. Hätte das Puzzle ein Motiv, ginge das nicht.
Doch so ist es eine bildlose Leinwand. Es ist wichtig, die Teile ineinander zu legen. Das Bild zeichnet man selbst.
Das Bild zeichnet man dann selbst. Das gehört nicht zum Puzzlespiel.
Neugebauer lacht, als er das Restaurant verlässt.
Die Serviette in der Tasche.
Die Serviette der unbekannten Frau. Die Nummer der unbekannten Frau auf der Serviette, und er lacht.
Lacht das erste Mal seit ... lachhaft, sich daran erinnern zu wollen.
Und er lacht lauter!
Sie sehen einsam aus.
Er fasst sich mit Zeigefinger und Daumen an die Stirn. Manchmal wäre es wünschenswert, Kopfschmerzen zu haben. Gedankenschleifen sind schmerzhafter als Kopfschmerzen.
Einfach nur Ablenkung.
Da steht ein Münztelefon, rast es in ihm. Es rast deshalb, weil alles Schleichende zu spät daran erinnert, dass ohnehin keine Wahl vorhanden ist.
Wenn es die Wahl nicht mehr gibt, hört das Schicksal auf zu existieren.
Es ist nicht schön, wenn man darauf aufmerksam gemacht wird, dass alles sowieso und ohnehin entschieden ist.
Jetzt und für alle Ewigkeit.

Er hat noch eine Münze, eine Münze, die nicht dem Trinkgeld anheim gefallen ist.
Nur noch eine.

Zitternd wirft er sie ein, und dann wählt er die Nummer; wählt er die Nummer und ein Freizeichen ertönt.

Es ist ungewiss, ob jemals irgendwer den Hörer abnehmen wird. Es wären zwei Hörer, die zufällig gleichzeitig abgenommen wären.

Es wäre seltsam.

Seltsam und Zufall.

 
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Hallo Cerb,

dadurch, dass er die Nummer hat, verliert die KG an Dramatik. Es ist doch egal, ob er gleich, in zwei Stunden oder zwei Tagen anruft. Die Not, die der Text ausstrahlen soll, kommt bei mir nicht an.

Wieso soll es seltsam sein, wenn jemand den Hörer abnimmt, wenn es klingelt?

Ich habe das Gefühl, du hattest als Autor viel mehr im Kopf, als du uns als Leser mitgeteilt hast.

Beim Lesefluß gestört haben mich die vielen Wiederholungen, auch wenn sie von dir teilweise vielleicht beabsichtigt waren. Ich werde mit dem Text nicht warm, da fehlt für mich auch etwas mehr Konkretes zum Prot.

Deine kursiven Eingangsworte empfinde ich nach dem Lesen des Textes auch dem Inhalt entsprechend zu pompös.

Liebe Grüße
bernadette

 
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Hi Cerb!

Sehr, sehr schöne Geschichte! Für mich schaffst du es hier, einem ‚normalen’ Zufall wirklich eine besondere Aura zu verleihen! Zum Einen durch die Reflexionen im Text, die authentisch kommen, aber vor allem durch die Sprache! Sie ist es, die hier die Wirklichkeit schafft: die Romantik durch’s Fließen, die Aufregung durch Brüche, die Verwirrung durch Wiederholungen. Die letzteren lassen sich für mich übrigens sehr natürlich lesen – als logische Konsequenz und Ausdruck der Gefühlsregung und Konfusion des Erzählers. Der wird ja auch nicht weiter charakterisiert, außer durch den Erzählton. Kompliment!

Nur wenig hat mich bei der Lektüre gestört:

Es braucht einen Augenblick, bis man zurück in die Realität findet; die Orientierung zurückerlangt.
; - Hast anscheinend ne Vorliebe dafür, kommt öfter vor. :) Laut wiki *schäm steht Semikolon für die „Verbindung zweier gleichrangiger Sätze oder Wortgruppen“. Passt hier nicht:
Es braucht einen Augenblick, bis man zurück in die Realität findet; -------- die Orientierung zurückerlangt.
Mach ein Komma draus, oder einen Punkt, willst du hier nen Bruch haben.

Da wäre es zu viel verlangt, darauf zu achten, ob ein Fremder, der nur zufällig im selben Restaurant mit einem sitzt, vielleicht kurz den Verstand verloren hat.
Sehr gut!

Da wäre es zu viel verlangt, darauf zu achten, ob ein Fremder, der nur zufällig im selben Restaurant mit einem sitzt, vielleicht kurz den Verstand verloren hat.
Auf solche Dinge achtet man nicht. Er kehrt ja schließlich auch wieder. Also, der Verstand.
Wozu der Zeilenumbruch?

Das Seltsame am Seltsamen ist, dass es seltsamerweise immer dann passiert, wenn man meint, alles sei normal. So wird das Normale seltsam, und das will erst einmal verdaut werden.
Ha, das erinnert mich an die Definition des Unheimlichen bei Tzvetan Todorov! Aber die ist ja immer noch ausschlaggebend. Und du hast es eh sehr schön formuliert. :)

Nur eben die Tatsache, dass sie und er, also sie beide, gleichzeitig in diesem Restaurant gewesen sind und irgendwelche Nummern bestellt haben, die ist Zufall.
Da bin etwas ins Stocken geraten beim letzten Satzglied „die ist Zufall“. Weiß aber nicht, woran es genau liegt.

Er und diese Frau, diese Frau und ihre Nummer. Auf der Serviette.
Er und diese Frau sind nicht auf der Serviette, so liest sich das aber –> Punkt weg!

Einfach so. Wie in einem Liebesfilm. So hatte er sich gefühlt, wie in einem Liebesfilm.
Der Vergleich ist nicht so schön, weil man dadurch ein wenig rausgeschmissen wird aus dem Moment und sieht ihn dann von außen, wie man eben fernschaut. Wolltest du hier die Distanz, dann ist es ok.

Dieser Liebesfilm in seinen Gedanken. Die Puzzlestücke einer Handlung; tausendmal gesehen; ein Puzzle aus den immer selben Teilen, in jedem Film anders zusammengefügt.
Denn in Wahrheit ist dieses Puzzle ohne Motiv. Das ist kaum vorstellbar, aber dieses Puzzle ist tatsächlich ohne Motiv.
Der Sinn liegt darin verborgen, dass sich die Teile auf unterschiedliche Weise zusammensetzen lassen. Hätte das Puzzle ein Motiv, ginge das nicht.
Doch so ist es eine bildlose Leinwand. Es ist wichtig, die Teile ineinander zu legen. Das Bild zeichnet man selbst.
Das Bild zeichnet man dann selbst. Das gehört nicht zum Puzzlespiel.

Wow, seeehr schön! Aber die Zeilenümbrüche…

Es ist ungewiss, ob jemals irgendwer den Hörer abnehmen wird. Es wären zwei Hörer, die zufällig gleichzeitig abgenommen wären.
Ja, das mit den zwei Hörern … Er hat ihn ja schon in der Hand. Also woher die Gleichzeitigkeit? Oder hab ich da was nicht kapiert? Nö, tatsächlich, ich kapier das nicht.

Also: Ab und zu unmotivierte Semikolons, aber vor Allem Zeilenumbrüche! Da kommt immer noch so ein Satz hinterher, abgetrennt, der eigentlich dazu gehört. (Vermutlich soll das als Betonung wirken, kommt hier aber zu oft.) -> Beides solltest du noch mal prüfen.
Kleine inhaltliche Frage, die sich ergibt: Wird sie schon zuhause sein können, wenn er anruft?

ABER: Der beste Text, den ich von dir gelesen habe! Und auch sonst sehr nach meinem Geschmack!

Gruß
Kasimir

PS: Titel mag ich nicht so, erinnert mich an: "Es heißt gogo und nicht heulheul". ;)

 

Hallo Cerberus,

der Titel ist arg kurz. G O und finde, dass sie dem Text nicht gerecht wird, zumal der Text selber recht kurz ist. Das hätte man mit einer langen Überschrift überdecken können.:lol:

Das ist manchmal so. Die Leute schwimmen in Gedanken, die sonstwo sein können, und irgendwann spülen einen die Wellen dieser Gedanken an ein Ufer, an dem man in Wahrheit gar nicht ist. Es braucht einen Augenblick, bis man zurück in die Realität findet; die Orientierung zurückerlangt.

Denn in Wahrheit ist dieses Puzzle ohne Motiv. Das ist kaum vorstellbar, aber dieses Puzzle ist tatsächlich ohne Motiv.
Der Sinn liegt darin verborgen, dass sich die Teile auf unterschiedliche Weise zusammensetzen lassen. Hätte das Puzzle ein Motiv, ginge das nicht.

schöne Beschreibungen, in denen man sich verlieren kann.

Der Versuch Wiederholungen in dene Text einzubauen ist interessant, und andererseits ziehen sie den Text in die Länge.

Die Frau geht zu dem Mann, der aus irgendeinem Grund einsam ist (Warum, wieso, weshalb wird nicht erwähnt), und übermittelt ihm ihre Nummer, und verschwindet einfach. Er hat noch eine Münze übrig, die noch nicht vom Trinkgeld verbraucht wurde (Trinkgeld zahlt man doch nur einmal), und ruft an, aber sie ruft auch jemanden an. Er könnte ja auch später anrufen. Es ist halt jetzt besetzt. Er hat die Nummer und ruft dann später an. Mir wird nicht klar, warum du das so hochpuscht, denn er kann sie ja später anrufen.

Die Wiederholungen wirken arg komisch.

Zitternd wirft er sie ein, und dann wählt er die Nummer; wählt er die Nummer und ein Freizeichen ertönt.

Es ist ungewiss, ob jemals irgendwer den Hörer abnehmen wird. Es wären zwei Hörer, die zufällig gleichzeitig abgenommen wären.


kann mich daran nicht so laben.

Mir persönlich hat die Bahngeschichte besser gefallen. Die war irgendwie runder.

MfG Mantox

 
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Hallo zusammen!


@bernadette

dadurch, dass er die Nummer hat, verliert die KG an Dramatik. Es ist doch egal, ob er gleich, in zwei Stunden oder zwei Tagen anruft. Die Not, die der Text ausstrahlen soll, kommt bei mir nicht an.

Ehrlich gesagt verstehe ich diesen Einwand nicht richtig. Der Text soll ja in dem Sinne keine "Not" ausstrahlen. Die Nummer ist ja eigentlich auch eher Nebensache, und soll nicht wirklich etwas zur Dramatik beitragen.

Wieso soll es seltsam sein, wenn jemand den Hörer abnimmt, wenn es klingelt?

Das ist in diesem Fall auf die Situation im Restaurant bezogen, dass er es seltsam findet, dass beide Personen zeitgleich dort sind. Also in Verbindung mit dem geplanten Vorhaben des Einzelnen und des Zufalls auf beide Menschen bezogen.

Beim Lesefluß gestört haben mich die vielen Wiederholungen, auch wenn sie von dir teilweise vielleicht beabsichtigt waren. Ich werde mit dem Text nicht warm, da fehlt für mich auch etwas mehr Konkretes zum Prot.

Ja, die Wiederholungen sind gewollt. Einerseits färbt im Moment der Stil von Alessandro Baricco ein wenig auf mich ab, andererseits sollen sie das entstehen der Gedankengänge und deren Verbindung miteinander verdeutlichen.
Schade, dass du nicht viel mit der Geschichte anfangen kannst. Vielleich beim nächsten Mal wieder.

Achso:

Deine kursiven Eingangsworte empfinde ich nach dem Lesen des Textes auch dem Inhalt entsprechend zu pompös.

Na gut, da hab ich vielleicht etwas zu dick aufgetragen. :D


@Kasimir

Erstmal vielen Dank für die lobenden Worte. Sowas freut einen natürlich immer.
Was das ";" angeht ... das ist so eine alte Angewohnheit von mir, die ich irgendwie nicht so richtig ablegen kann. Dass das Zeichen in dem Zusammenhang allerdings falsch ist, wusste ich bislang gar nicht.
Die Zeilenumbrüche indess erschienen mir persönlich eigentlich passend, wenn sie den Lesefluss wirklich stören, werde ich da vielleicht nochmal ein wenig straffen.

Da bin etwas ins Stocken geraten beim letzten Satzglied „die ist Zufall“. Weiß aber nicht, woran es genau liegt.

Seltsam. Ich selbst bin an der Stelle "also sie beide, gleichzeitig ..." ins Stocken geraten und war schon darauf eingestellt, dass eher das hier bemängelt werden wird. :)

Er und diese Frau sind nicht auf der Serviette, so liest sich das aber –> Punkt weg!

Ich habs umgeschrieben.

Ja, das mit den zwei Hörern … Er hat ihn ja schon in der Hand. Also woher die Gleichzeitigkeit?

Wie ich schon bernadette geschrieben habe: Das ist nur als Vergleich zu der Situation im Restaurant zu verstehen. Kommt etwas undeutlich rüber, muss ich zugeben.

Kleine inhaltliche Frage, die sich ergibt: Wird sie schon zuhause sein können, wenn er anruft?

Ehm ... sie wohnt gleich um die Ecke. :D


@Mantox

Er hat noch eine Münze übrig, die noch nicht vom Trinkgeld verbraucht wurde (Trinkgeld zahlt man doch nur einmal), und ruft an, aber sie ruft auch jemanden an. Er könnte ja auch später anrufen. Es ist halt jetzt besetzt.

Öhhhhm ... wo hab ich denn geschrieben, dass er mehrmals Trinkgeld bezahlt hat, oder, dass am anderen Ende der Leitung besetzt ist? Kommt der letzte Teil des Textes wirklich so undeutlich rüber? Wenn ja, werd ich wohl wirklich nochmal ändern müssen.


@all

Den Titel würde ich gerne so lassen, wie er ist. War ein spontaner Einfall, und irgendwie mag ich ihn. Ansonsten vielen Dank fürs lesen und kommentieren!

Grüße

Cerberus

 

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