Goldfeuer (feat. Nachtschatten)
„Sag mir, dass ich nicht träume, okay?“
„Du träumst nicht! Nein, nein, nein, nein!“, versucht sie ihn zu beruhigen und küsst ihn tausendmal auf seine Lippen und Wangen. Ihr Gesicht ist über seinem, und ihre Haare sind stürmisches Goldfeuer, das ihn und sie verdeckt, als sie es schwungvoll über ihren Kopf schlägt und ihn darin baden lässt.
„Dann töte mich“, sagt er verträumt. Sein Herz pocht schneller, als er bedeckt von ihrer Mähne liegt.
„Aber dann wäre ich doch ganz allein!“
Sie lacht, als sie es sagt, und er tut es ihr gleich.
Ihr Körper liegt auf seinem, und seiner auf dem Bett. Durch die Fenster des Zimmers versucht sich das verrottende Frühlingsgrau, das eigentlich ein Grün sein sollte, hereinzuschleichen. Es kommt aber nicht hindurch - da ist kein Platz für triste Farben. Da gibt es nur das blonde Feuer und sein süßer Wunsch des Todes, wenn er bei ihr ist.
Er denkt einen Moment lang nach, ob er es sagen soll oder nicht. Dann tut er es: „Ich liebe dich“, flüstert er ihr zu.
„Ich dich auch“, kommt es sofort zurück.
Dann erdrückende Stille.
Versaut, denkt er, ich hab’s versaut.
„Ich dich auch“, sagt sie noch einmal und küsst ihn zärtlich auf die Wange. Sie verharren regungslos in ihrem Liegen und keiner spricht.
Das Grau von draußen scheint durch und verpestet die Luft, die sie zusammen atmen. Beide hatten sich mehr von diesem Moment erhofft. „Ich liebe dich“ zu sagen, denkt er, ist alles, was er sagen kann. Mehr gibt es nicht. Größere Worte sind schwer zu finden, für ihn.
Jakob Parkmann ging die Straße entlang. Er hatte alles verloren. Seine Frau an seinen besten Freund, seine Kinder an seine Frau und seinen Hund an seine Kinder.
Zusätzliches Salz wurde ihm durch sein Geld, das er an sein Haus verlor, in die klaffende Wunde, die seine Frau hinterlassen hatte, gestreut.
Jakob Parkmann war seiner Frau in den ganzen zweiundzwanzig Jahren nicht ein einziges Mal untreu gewesen. Seine Bekannten fanden Untreue gut, förderten sie sogar, er jedoch nicht.
Er hatte das Gefühl, nie mehr hart arbeiten zu können. Bis jetzt war seine Frau seine mentale Kraftquelle, die ihn seinen Schweiß und seine schmerzenden Muskeln hatte vergessen lassen.
Er ging die Straße weiter runter. Komisch, nirgends waren Passanten zu sehen. Da hinten arbeiteten Leute von den Stadtwerken an einer Laterne, es fuhren auch mehrere Autos, aber andere Personen sah er nicht. Äußerst merkwürdig.
Auf der anderen Straßenseite erschien eine Frau mit Kinderwagen. Sie wollte die Straße überqueren, musste aber wegen den Autos warten.
Jakob sah die Frau an und konnte seinen Blick nicht mehr von ihr wenden.
„Es sind nur drei Worte“, sagt sie mit müden und enttäuschten Augen, „die nichts, wirklich gar nichts bedeuten. Auf die Gefühle kommt es an, mehr nicht, oder?“
Seine Finger streichen ihr Blond aus ihrem Gesicht und er zwingt sich ein Lächeln auf die Lippen.
„Sie tun aber weh, wenn sie missbraucht werden“, sagt er dann.
Sie nickt.
„Ich tu’ dir aber nichts.“
„Bedeck mich wieder, will sterben“, seufzt er und wedelt sich ihre Haare in sein Gesicht, dann lässt sie ihre Mähne wieder auf sein Gesicht regnen.
Die winterliche Umgebung wurde noch dunkler und trister und um diese Frau schien sich ein Zentrum aus Helligkeit, Glanz und Geborgenheit zu verdichten. Ein helles Licht. Die Haare der Frau umspielten ihr Gesicht und wehten im Wind, als sie ihren Kopf nach links und rechts wandte, um zu schauen, ob sie sicher über die Straße gehen konnte. Es war helles Haar. Goldenes Haar. Jakob wusste: Gäbe es ein Pflaster, es wäre das Haar dieser Frau, das sich sanft um seine Wunde legen würde und sie mit den Haarspitzen nähen würde, bis nicht mal mehr eine kleine Narbe zu sehen wäre.
Die Frau begann, den Kinderwagen über die Straße zu schieben. Ihre Bewegungen glichen einer Katze, anschmiegsam, sanft, geschmeidig, aber gleichzeitig kraftvoll und berechnend. Ihr Haar wehte wie im Wind wie die Mähne eines Löwen. Goldfeuer.
Er steht vor ihrer Tür, mit Blumen und einem Geschenk hinter dem Rücken. Er ist nervös und malt sich ihre Reaktionen bildlich aus.
Dann schließt er die Tür auf und schleicht sich in die Wohnung, versucht so leise wie möglich zu gehen und sich nicht bemerkbar zu machen. Spähend lässt er seine Blicke in das Wohnzimmer segeln, wo sie auf der Couch sitzt und liest. Verträumt saugt sie die Worte in sich auf und bewegt ganz leicht ihre Lippen dazu, als würde sie mit dem Magazin in ihrer Hand sprechen.
„Hey!“, ruft er und sie schreckt auf, lacht, schmeißt das Magazin zur Seite und fällt ihm stürmisch in die Arme. Seit langem ist er wieder glücklich, mit diesem Diamant von Frau in seinem Leben. Und die Blumen und das Geschenk waren genau richtig für sie.
Die Frau hatte die Straße fast überquert, die Vorderräder des Kinderwagens blockierten am Bordstein. Sie sah Jakob lächelnd an, der, seit er sie gesehen hatte, wie angewurzelt stehen geblieben war. „Könnten Sie ...?“
Goldfeuer.
Er führt sie aus, in das teuerste Restaurant, hat sich das Geld von seinem Bruder geliehen und will ihr alles bieten, was sie möchte, obwohl sie gar nicht danach fragte. Beide sind sie fein angezogen und betreten das noble Gebäude. Drinnen riecht es nach Lachs und anderen Köstlichkeiten und sie hakt sich bei ihm ein. Sie suchen einen Tisch, lassen sich nieder und bestellen Lachsfilet und einen guten Wein.
„Du bist mein Leben“, sagt er in ihre Augen. Im romantischen, dämmernden Lokallicht scheinen ihre Haare zu glänzen und zu funkeln, und er kann nicht von ihnen lassen - optisch.
Das Essen kommt und er sieht eine Wimper unter ihrem Auge. Sachte streicht er sie hinfort und sie wünscht sich, dass sie für immer zusammenbleiben, und dass das alles keine Phase, sondern ihr Leben ist, für immer.
Und er wünscht sich nur, dass sie das Pflaster ist, für das er sie hielt, und dann noch viel mehr, wenn seine Wunde aufhört Blut und Schmerz zu spucken.
Jakob beeilte sich, den Vorderteil des Kinderwagens anzuheben, um ihn über den Bordstein zu hieven. Nachdem dies geschafft war, lächelte er die Frau schief und dümmlich an. Und schwieg. Sich der Peinlichkeit dieser Situation bewusst werdend, suchte er verzweifelt nach Worten in seinem Kopf, die er ihr hätte sagen können. Sein Gehirn schickte hektische Befehle an seine Zunge, die jedoch gelähmt zu sein schien und sich nicht rührte. Selbst wenn sie reagiert hätte, schien sein Gesicht von einer Kiefersperre gehalten zu werden. Zahn auf Zahn, so hart, dass seine Schläfen sich aufplusterten, als wollten sie sich absondern und einen eigenen Organismus gründen.
„Vielen Dank“, sagte die Frau und schenkte Jakob das bezauberndste Lächeln, das er jemals gesehen hatte. Seine Knie drohten, nachzugeben und ein Einsacken seinerseits wurde nur durch die Tatsache verhindert, dass Jakob sich immer noch krampfhaft am Kinderwagen festhielt.
Sie sah ihn erwartungsvoll und auch ein bisschen verwirrt an. ‚Eine Reaktion. Sie erwartet von dir eine Reaktion, Jakob. ... IRGENDWAS! Sag tschüss und geh’. Oder spuck ihr ins Gesicht. ABER MACH WAS!’
„Ent... Entschuldigung, ich ...“; stammelte er schließlich. Dann schwieg er wieder. Sicherlich fünf Minuten standen sie dort auf der Straße, sie sah ihn an, er blickte immer wieder in unregelmäßigen Abständen nach links die Straße runter, oder nach rechts. Beide schwiegen.
Er stemmt die Betonplatten mit all seiner Kraft hoch auf den Stapler. Eine Knochenarbeit, denkt er, aber was mir Kraft gibt, ist daheim.
„Weiter Jakob, weiter!“, schreit einer seiner Kollegen von hinten, „Wir wollen noch fertig werden!“
Erneut hebt er eine Betonplatte, und lässt sie auf die anderen fallen, die schon auf dem Stapler fein säuberlich sortiert liegen.
Er denkt an sie und ihr Lächeln, und wie sie ihn umarmen wird, an ihr Goldfeuer, und wie sie ihn begrüßt, wenn er nach Hause kommt, und wie ihr Kind aussehen wird. Sie kocht bestimmt schon, denkt er, als er eine weitere Schwerplatte mühevoll hob und wieder fallen ließ.
„Nun?“, fragte sie nach einer langen Zeit des Schweigens.
Es ist grausam kalt als er nach Hause geht, von der Arbeit, es regnet schwer und Wind zerrt an der Haut, spitz und starr.
Das macht alles nichts, denkt er lautstark, nichts!
Weiter kämpft er sich durch schlechtes Wetter, Regenfall und Windstößen durch die Straßen, bis er ihr Haus sieht, in dem er wohnt, und er weiß, dass es gleich warm werden wird, drinnen, bei ihr.
Sein Blick fiel ins Innere des Kinderwagens. Dankbar für diesen Zufall, bot er ihm doch endlich ein Gesprächsthema, sagte er zu der Frau: „Aber ... da ist ja gar kein Kind drin?“
Die Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Nein. Ich übe ja auch nur.“
Nach einigen Sekunden lachten sie beide. Jakob wusste, dass sie eine war, die ihm seine Wunde heilen konnte. Zugleich ihm aber eine neue hinzufügen konnte.
Aber anfangs wäre alles in Ordnung, er würde chic mit ihr essen gehen; und wenn er hart arbeiten würde, würde er an sie denken, um sich Kraft zu geben.
Sie würde ihm helfen, zu vergessen und ihn wieder daran erinnern, wie man lebt.