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Gott will es
Gott will es
„Und daher ist es unsere heilige Pflicht, uns den Ungläubigen entgegenzustemmen! Sie haben nun schon seit Jahrhunderten versucht uns und unsere Brüder und Schwestern gefügig zu machen! Kara Mustafa, der so genannte heldenhafte Eroberer von Wien? Hat er nicht das Blut Tausender vergossen und unser Land unterjocht? Und doch sind wir standhaft geblieben! Viele sind vom wahren Glauben abgefallen – sei es aus Furcht oder Bequemlichkeit. Doch wir sind standhaft geblieben! Als vor 100 Jahren unser Aufstand gegen die Unterdrücker auf das blutigste niedergeschlagen wurde, haben wir da aufgegeben? Nein! Denn der wahre Christ bleibt standhaft, egal wie übermächtig sein Gegner auch scheinen mag. Die Osmanen haben gesehen, dass mit Gewalt einem Christen nicht beizukommen ist, und nun versuchen sie uns mit Worten und Luxus zu verführen!“ Pater Tobias warf einen scharfen Blick in die Runde. Der Gebetsraum war bis zum letzten Platz gefüllt und gespannt warteten seine Herde auf weitere Worte. Sie hingen an seinen Lippen, als er leise fortsetzte:
„Aber werden wir uns von diesen faulen Versprechungen einlullen lassen und weich werden?“
Pater Tobias lehnte sich nach vorne, doch noch bevor die Menge reagieren konnte, rief er die Antwort selbst heraus.
“NEIN! Denn der wahre Christ hat sein Heil schon gefunden! Was braucht er mehr, als die Gewissheit, dass Gott auf seiner Seite ist? Was gibt es für ihn schöneres, als die Aussicht auf ewige Glückseeligkeit? Die Osmanen sind töricht, wenn sie glauben, uns mit ihren Worten und Geschenken ins Wanken bringen zu können. Ihre Taten sprechen eine andere Sprache und wir verstehen sie nur zu gut!“
Zustimmendes Gemurmel erhob sich im Gebetsraum. Eine kurze Handbewegung genügte, um sich wieder Gehör zu verschaffen.
„Ja, meine Brüder!“, rief er und hob seine Arme, „Wir werden standhaft bleiben. Was können die Ungläubigen uns geben, was Gottes Lohn nicht tausendfach übertreffen würde? Nichts! Und daher haben die Osmanen keine Macht über uns und das fürchten sie! Ja, meine Brüder! Sie fürchten unsere Entschlossenheit! Und ich sage euch: Die Osmanen spüren in ihrem Innersten selbst, dass sie für eine ungerechte Sache kämpfen! Sie wissen, dass Gott nicht auf ihrer Seite ist! Sie wissen, dass Wien bald wieder christlich sein wird!“
Wieder stimmten ihm seine Jünger zu, lauter und entschlossener als beim ersten Mal.
Pater Tobias sah in die Runde und lächelte.
„Lasset uns beten!“
Josua saß in der letzten Reihe und hatte aufmerksam zugehört. Es erstaunte ihn immer wieder, wie elektrisierend Pater Tobias’ Predigten waren. Jeder Ton, jede Geste, alles war so voller Kraft und Entschlossenheit… Als ob Gott ihn zu seinem Sprachrohr gemacht hatte. Wie mühelos er seine Anhänger dirigierte…
Nachdenklich saß er da. Er hatte eine Entscheidung getroffen und fühlte sich jetzt nur noch in seinem Vorhaben bestärkt.
Die restliche Predigt erlebte Josua wie in Trance. Zu viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, zu viele Erinnerungen, und, ja, er hatte Angst. Er hatte tatsächlich Angst. Als sein Sitznachbar aufsprang, wurde Josua beinahe von der schmalen Bank geworfen.
Erschrocken zuckte er zusammen, als ein Schwall aus ekstatischen Rufen und inbrünstige Schreien über hinwegschwappte und ihn aus seinen Gedanken riss. Der Gebetsraum schien zu beben. Nur Josua blieb benommen sitzen. Sprechchöre riefen immer wieder einen Satz.
„DEUS LU VULT!“
Es war elektrisierend. Gott will es! Das stand für die Männer hier fest. Durchhalten! Gott ist auf unserer Seite!
***
Als Josua nach dem Gottesdienst zu Fuß nach Hause ging, sah er wie so oft in letzter Zeit eine kleine Gruppe Soldaten an einer Ecke stehen. Mit ihren Maschinengewehren auf den Rücken rauchten sie ihre Zigaretten. Einer von ihnen machte Anstalten auf Josua zuzugehen, wurde jedoch von einem anderen zurück gehalten. Der ist es nicht wert, schien der Blick zu sagen, der Josua zugeworfen wurde. Ohne zur Seite zu sehen eilte Josua an ihnen vorbei.
Über den Häuserschluchten sah er für einen Moment die spitzen Türme der Mehmed-Moschee. Freilich, Sultan Mehmed IV hatte den Christen nach der Eroberung Wiens ihren Glauben gelassen, aber ihre größte Kirche hat er annektiert. Aber das würde ohnehin bald keine Rolle mehr spielen.
Plötzlich hupte es und Bremsen quietschten.
„Pass doch auf, G’spritzer!“, rief ein wütender Autofahrer durch das halb offene Fenster. Josua würdigte ihn nicht einmal eines Blickes und eilte über die Straße.
Bei seinem Wohnblock angekommen, griff er in seine Jackentasche und holte den schweren Haustorschlüssel hervor.
„Entschuldigen Sie!“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihn. Josua erschrak so sehr, dass er den Schlüssel fallen ließ.
„Hoppla, habe ich Sie erschreckt?“ Die joviale Stimme des Fremden beruhigte ihn irgendwie.
„Guten Tag! Tut mir leid, ich bin heute nicht ganz bei der Sache…“, erwiderte Josua. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick sofort auf den halbmondförmigen Anhänger, den der Fremde trug. Wie zufällig ließ der Mann den Anhänger unter seinem Anzug verschwinden.
„In diesen Zeiten? Wer kann es Ihnen übel nehmen?“, erwiderte der Fremde und sah Josua lächelnd an.
„Tja, hmm“, antwortete Josua knapp und bückte sich nach dem Schlüssel.
„Warten Sie, ich glaub, er ist hinter den Blumenstock gerutscht!“, sagte der Fremde griff sogleich nach der großen Topfpflanze und schob sie zur Seite. „Da ist er ja!“, sagte er lachend.
„Vielen Dank!“, erwiderte Josua knapp und griff nach dem Schlüssel. „Entschuldigen Sie mich, aber ich muss noch etwas erledigen!“
„Freilich! Ich will Sie dann auch gar nicht mehr länger aufhalten. Eh, könnten Sie mir Sagen, wie ich zur Hainstraße komme?“
„Gleich um die Ecke! Die Hainstraße ist gleich um die Ecke…“, antwortete Josua und deutete auf die Querstraße.
„Oh...“ Der Muslim sah ihn noch kurz an, dann nickte er plötzlich. „Vielen Dank auch! Auf Wiedersehen!“
„Wiedersehen, auf Wiedersehen…“, murmelte Josua und öffnete die schwere Eingangstüre.
Als er schließlich das enge Stiegenhaus hinaufstieg und vor seiner Wohnung stand, zitterten seine Finger so stark, dass er kaum den Schlüssel in das Schloss stecken konnte.
In seiner Wohnung lies er sich auf die Couch fallen und starrte nachdenklich an die Wand. Immer wieder kamen ihm Zweifel an seinem Vorhaben. Was wollte bloß der Typ von vorhin von ihm? Die Soldaten von vorhin hätten ihn genau so gut zusammenschlagen könne, wenn sie es nur gewollt hätten. Was soll’s, dem Terror muss Einhalt geboten werden. Da muss hart und entschieden durchgegriffen werden. Manchmal trifft es halt Unschuldige, was soll’s? Das Leben geht weiter. … irgendwie … Es muss ja weiter gehen.
Mit angezogenen Beinen hockte Josua auf seine Couch, den Kopf auf seine gefalteten Hände gelegt.
***
Als Josua den Kopf hob, viel sein Blick auf die Tasche, die er am Tag zuvor sorgfältig vorbereitet hatte. Er hatte sich still und heimlich von seinen Freunden verabschiedet, alles Wichtige erledigt, ohne das irgendwer Verdacht geschöpft hätte.
Plötzlich nickte Josua. Er nickte und war fest entschlossen. Was hatte er schon zu verlieren?
Er stand auf und griff nach der Tasche. Als er die Türe schließen wollte, warf er noch einen letzten Blick zurück. Die Wohnung wirkte so leer und einsam. Als die Türe ins Schloss fiel und er den Schlüssel umdrehte, wusste er, dass dieser Teil seines Lebens beendet war. Er warf einen letzten Blick auf seine Uhr und machte sich auf den Weg zur U-Bahnstation.
Einsam hastete er durch die Straßen und bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmengen. Alles wirkte so irreal, so fremd auf Josua. Es war ihm, als würde er sich in Trance bewegen, als er an den Menschen vorbei glitt und in ihre ausdruckslosen Gesichter blickte. Er hörte den Iman, wie er zum Abendgebet rief, seine Rufe hallten über die Wiener Innenstadt Er sah einige Frauen in orientalischen Kleidern, wie sie vor einem Geschäft sahen und die Auslagen begutachteten. Er roch den Tabak, denn die Männer vor den Teehäusern in den Wasserpfeifen rauchten. Er schmeckte den Kaffee auf seiner Zunge, als den Naschmarkt durchquerte.
Josua klammerte sich an den Griff seiner Tasche, als die U-Bahn-Station endlich in sein Sichtfeld kam. Er hastete die Stiege hinunter und löste eine Ein-Weg-Fahrkarte am Automaten. Seine Hände zitterten, als er zwei Soldaten sah, die vor der nächsten Treppe standen und sich auf ihren Waffen gestützt unterhielten. Josua klammerte sich an seine Tasche, als er an den beiden vorbeiging. Sie streiften ihn nur kurz mit ihren Blicken.
Auf dem Bahnsteig angekommen, sah er sich nervös um. Als er auf die Uhr sah, erschrak er. Es war bereits kurz vor sieben Uhr. Die Zeit wurde knapp! Bevor er weiter nachdenken konnte, drängten die Menschenmassen hinter ihm weiter und schoben ihn vor sich her. Josua musste sich durch die Massen kämpfen, eher der Menschenstrom ihn freigab. Verstohlen blickte er sich um, ging er zu einem kleinen Seiteneingang und wartete dort. Seine Hände zitterten.
Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er eine Frau, die langsam auf ihn zukam. Sie fiel ihm in die Arme, ihr Geruch war so befreiend. Er schmeckte ihre Lippen, hörte ihre Stimme und war einfach glücklich.
„Hier hast du dich also versteckt!“, sagte sie sanft.
„Weil ich wusste, dass du mich finden würdest, Fatima!“, erwiderte er und zog sie noch enger an sich.
„Hast du alles erledigt?“
„Ja!“, sagte er. Er zögerte kurz. „Ich war noch einmal im Gebetshaus…“, sagte er leise. Fatima schwieg, legte ihren Kopf auf seine Schultern. „Ich weiß, es war dumm…“, setzte er fort, „Aber ich wollte mich noch einmal von Thomas verabschieden!“
„Er ist dein Bruder!“, sagte Fatima knapp und schmiegte sich an ihm, „Wie sollte ich dir das verübeln?“
Josua schwieg und genoss einfach den Augenblick.
„Wenn du mich nicht loslässt, dann verpassen wir noch unsere Bahn“, sagte Fatima sanft und lächelte Josua an.
„Hmm, ich weiß nicht…“, erwiderte Josua und sah in ihre braunen Augen.
„Komm schon!“, kicherte sie und löste sich aus der Umarmung, „Wir verpassen sonst unseren Flug! In Indien haben wir dann alle Zeit der Welt. Dort stört sich niemand daran, wenn ein Christ mit einer Muslimin zusammen ist.“ Ihre Augenlider flatterten kurz. „Dort ist es besser! Niemand wird uns finden!“ Es klang mehr nach einem Wunsch, als nach Gewissheit.
Josua nickte nur. „Gut, ich geh als erster!“
Fatima griff nach seiner Hand und hielt sie kurz fest. Dann packte Josua die Tasche und verließ den Seitengang. Sofort wurde er wieder von den Menschenmassen mitgerissen. Plötzlich war ihm, als hätte er das Gesicht des Mannes mit dem Anhänger in der Menge entdeckt, doch als er genauer hinsah, war es auch schon wieder verschwunden. Josua wollte es gerade als Täuschung abtun, als einige kräftige Arme ihn packten und aus der Menge herauszerrten.
„Hey, was zum…“, rief Josua und versuchte sich aus dem Griff zu lösen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte hin.
Ein Soldat griff nach seiner Tasche und riss sie ihm einfach aus der Hand. Wortlos versuchte Josua sich aufzurichten, wurde aber von einem anderen Soldaten wieder an der Schulter gepackt und brutal festgehalten. Auf den Knien sah er zu, wie man seine Tasche vorsichtig auf den Boden stellte. Der Mann, dem er vor seiner Wohnung begegnet war, stand daneben und beobachtete alles. Seine schmalen Lippen verrieten die Anspannung. Andere Soldaten begannen damit, Schaulustige zu vertreiben und versuchten die Menschenmassen von der Tasche wegzuschaffen.
„Sie machen da einen Fehler…“, sagte Josua, bevor der Soldat seinen Griff verstärkte. Josua glaubte ein leises Knacken zu hören, schmerzerfüllt schrie er auf.
Aus dem Augenwinkel sah Josua, wie Fatima von einem Soldaten daran gehindert wurde, sich ihm zu nähern. Unauffällig versuchte Josua ihr zu deuten, dass sie verschwinden sollte. Hier konnte sie nichts für ihn tun. Sie schien zu verstehen und ließ sich vom Soldaten schließlich Richtung Ausgang treiben. Josua stöhnte.
Vielleicht war es Schicksal, aber als Josua vom Soldaten hoch gezerrt und Richtung Sicherheitsbüro geschleift wurde, da bemerkte er Thomas mitten in der Menschenmenge. Für diesen Augenblick schien alles um ihn herum zu verschwinden, nur Thomas schien noch zu existieren. Josua sah den verklärten Gesichtsausdruck seines Bruders. Er hörte seinen Ausruf, so klar, als würde er direkt neben ihm stehen.
„DEUS LU VULTE!“
Josua wurde von den Füßen gefegt, der Körper eines Soldaten prallte gegen den seinen und fing so die Wucht der Explosion ab. Und dann…
Er sah die Decke über sich, das Licht warf seltsame Schatten. Er fühlte den nackten Beton unter seinem Körper, der Boden schien zu beben. Der Geschmack von Blut und Staub mischten sich auf seiner Zunge. Es roch nach Tod und Elend und Zerstörung…
Und dann sah er sie wieder…
Er fühlte, wie sie ihn berührte. Sie war so warm, so lebendig. Warum zitterte sie so?
Er sah ihre Gesicht, ihr wunderschönes Gesicht.Sie war so schön. Warum war sie voller Blut?
Er roch ihr Parfüm, als sie sich zu ihm runterbeugte und ihn in die Arme nahm. Sie dufte nach Geborgenheit. Warum weinte sie?
Er konnte sie nicht mehr hören… Er hätte so gern ihre Stimme gehört. Warum konnte er sie nicht hören?
Schatten tauchten auf und zogen Fatima davon. Warum nahmen sie ihm Fatima weg?
Deus lu vult. Gott will es. Warum nur?