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Grüne Bohnen

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18.02.2002
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Grüne Bohnen

Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel und taucht den Park mit seinen alten Eichen in ein gleißendes Licht. Die Kinder in dem Heim mitten im Park schauen sehnsüchtig nach draußen. Wie gern würden sie die Sonnenstrahlen fangen und die Wärme der Sommers auf ihrer bleichen Haut spüren. Doch die Sonne ist für sie strengstens verboten. Die Kinder haben Tuberkulose. Elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg gelten für sie noch uralte, strenge Regeln: keine Sonne, kein Sport, viel Ruhe und immer alles restlos aufessen.

Meta steht an ihrem gewohnten Platz am Fenster im Gemeinschaftsraum und blickt träumerisch in den Park. Ihre Augen suchen ihre Freunde, die Eichhörnchen, doch in dem dichten Blätterwerk kann sie die kleinen Kobolde nicht entdecken. Ihre Blicke durchstreifen den Park, bis sie an dem Beet hängen bleiben, in dem die Schwestern Gemüse ziehen. Jetzt sind drei von ihnen damit beschäftigt, zu ernten. „Oh nein“, denkt Meta schaudernd, „nicht schon wieder. Bitte, bitte lieber Gott, mach, dass es heute keine grünen Bohnen gibt.“

„Hast du das gesehen? Die Schwestern pflücken Bohnen.“ Peter ist neben Meta getreten und starrt auf das Gemüsefeld. „Kannst du nicht ganz schnell krank werden und Fieber bekommen? Dann stecken dich die Schwestern ins Bett und du brauchst kein Mittag zu essen.“

Peter ist Metas einziger Freund in der Lungenheilanstalt. Mit seinen fünf Jahren ist er nur wenig älter als sie und kaum größer.
„Wie mache ich Fieber?“, fragt Meta hoffnungsvoll. Ihr Magen verkrampft sich bei dem Gedanken an grüne Bohnen.
„Keine Ahnung, wäre aber gut.“ Peter weiß, was Meta nach dem Essen erwartet. Sie tut ihm Leid.

Meta spürt das Mitgefühl, Tränen laufen ihr über die Wangen. „Warum muss es Bohnen geben? Ich hasse sie!“ Sie schaudert. Der Schlauch... Nicht daran denken, nur nicht daran denken.

Die Angst vor dem Mittagessen hält Meta den ganzen Morgen gefangen. Sie mag nicht mit den anderen spielen, sitzt nur in einer Ecke und denkt an den Schlauch. Peter kommt ab und zu und versucht, sie zum Spielen zu überreden, aber Meta schüttelt nur still den Kopf.

Unaufhaltsam rücken die Zeiger der Uhr weiter. Meta weiß, wenn sie ganz oben aufeinander liegen, wird die Glocke zum Mittagessen rufen. Sie betet, dass die Uhr stehen bleibt, aber unbeeindruckt streichen die Zeiger im Rhythmus des steten Tick-Tack über das Zifferblatt.

Jetzt läutet die Glocke. Mit einem schrillen Singsang ruft sie die Kinder in den Speisesaal. Meta bleibt in ihrer Ecke sitzen und rührt sich nicht. „Nun komm schon“, fordert Peter sie auf, „du machst es nur schlimmer, wenn du nicht zum Essen kommst. Vielleicht gibt es ja auch keine Bohnen“, fügt er hoffnungsvoll hinzu.

Die Hoffnung wird betrogen. Auf den dampfenden Tellern häufen sich Kartoffelbrei, eine Frikadelle und eine große Portion grüne Bohnen. Meta setzt sich auf ihren Platz und starrt auf den grünen Berg. Sie weiß, dass es keinen Zweck hat, die Schwestern um ein anderes Gemüse zu bitten. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, und zwar alles. Du willst doch wieder gesund werden.“ Wie oft hat sie das schon gehört. Man sieht es den Kindern am Tisch an, dass alles aufgegessen werden muss. Sie sind viel zu dick für ihr Alter. Doch das ist gewollt. „Hochkalorische Diät“, hat Meta einmal aufgeschnappt. Sie weiß nicht, was das genau heißt, aber es hat wohl etwas mit dem vielen Essen zu tun.

Meta versucht, die Bohnen zu übersehen und macht sich über den Kartoffelbrei und die Frikadelle her. Es ist still im Speisesaal, man hört nur das Klappern des Bestecks und das Kauen der Kinder. Sprechen ist beim Essen verboten.

Eine halbe Stunde haben die Kinder Zeit, die riesige Portion zu vertilgen. Dann beginnt die Inspektion. Die Schwestern gehen von Tisch zu Tisch und schauen, ob noch Reste auf den Tellern sind. Bei Meta bleibt Schwester Gertrud stehen. „Du hast deine Bohnen nicht gegessen.“ Meta wird puterrot und beginnt vor Angst zu schwitzen. „Ich mag keine Bohnen.“
„Du weißt, dass mich das überhaupt nicht interessiert. Strafe muss ein. Komm mit.“
Schwester Gertrud packt Metas Hand und zieht das Mädchen vom Stuhl und hinter sich her durch den Speisesaal. Den anderen Kindern stockt der Atem. „Meta muss zum Schlauch schlucken“, hört man sie verschreckt wispern, „arme Meta.“

Meta weint und versucht mit aller Kraft, sich aus Schwester Gertruds Hand zu winden, doch die umklammert sie mit eisernem Griff. Gnadenlos zieht sie das Kind durch den Flur, bis sie vor einer weißen Tür stehen bleibt. Sie klopft an und nach einem kaum hörbaren „herein“ stehen sie vor Doktor Wegner. „Ja, wen haben wir denn heute? Das ist ja unsere Meta. Gab es wieder grüne Bohnen?“ Doktor Wegner ist klein und runzelig. Meta mag ihn nicht, keines der Kinder mag ihn. Peter hat ihn „Doktor Schrecklich“ genannt, doch das dürfen die Schwestern und der Arzt nicht hören.

„Du weißt doch, dass hier gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Freudig lächelnd wendet er sich an Schwester Gertrud. „Dann setzen Sie sich mal hin und nehmen die Kleine auf den Schoß. Sie kennen das ja.“

Schwester Gertrud setzt sich auf einen harten Stuhl mit gerader Lehne und zerrt die sich wild wehrende Meta auf ihren Schoß. Ein Arm legt sich wie einen Schraubstock über Metas Bauch und presst dabei die Arme des Kindes an den Körper, so dass es sich nicht mehr bewegen kann. Mit der zweiten Hand reißt sie Metas Mund auf. Doktor Wegner schiebt blitzschnell ein Distanzstück zwischen die Zähne. Meta kann ihren Mund nicht mehr schließen und weint bitterlich.

„Wenn du die Bohnen nicht schlucken willst, musst du eben den Schlauch schlucken. Selbst schuld.“ Doktor Wegner zieht aus einem weißen Kasten einen langen Schlauch, den er liebevoll betrachtet. „Dann wollen wir mal.“ Mit schlafwandlerischer Sicherheit stößt er Meta den Schlauch in den Mund. Als er ihre Kehle erreicht, muss sie würgen, ihr Magen rebelliert, Tränen rinnen die Wange runter. „Schlucken, meine Liebe, schlucken.“ Sie kann nicht anders. Sie schluckt, und Zentimeter für Zentimeter verschwindet der Schlauch in Metas Mund, rutscht die Speiseröhre hinunter, erreicht den Magen. Meta würgt, der Hals schmerzt, ihr ist übel. „Na, ist das schön? Dann lassen wir den Schlauch noch ein bisschen drin.“ Doktor Wegner zieht ein wenig am Schlauch, lässt ihn hoch und runter gleiten. Schweiß steht auf Metas Stirn, sie müsste sich übergeben, aber es geht nicht.

„Es reicht.“ Schwester Gertrud sieht Doktor Wegner beschwörend an. Er seufzt, spielt noch einmal mit dem Schlauch, zieht ihn dann langsam und genüsslich aus Metas Hals.
„Ich werde dafür sorgen, dass es bald wieder grüne Bohnen gibt. Entweder du isst endlich das Gemüse, oder wir sehen uns bald wieder. Hast du verstanden?“ Meta nickt, ihr Hals ist geschwollen, sie kann nicht sprechen. Aber so sehr sie sich bemüht, auch beim nächsten Mal bekommt sie die grünen Bohnen einfach nicht hinunter…

 

Das ist ja heiß her gegangen in den letzten Tagen, in denen ich Dank Telekom vom Internet ausgeschlossen war. Aber jetzt bin ich zurück und möchte mich ein wenig äußern.

Zuerst: Mit der Nennung des Namens habe ich Probleme. Ich habe über Erinnerungen geschrieben, die ich nicht beweisen kann. So kann ich schnell in den Rüf übler Nachrede kommen. Das Heim von damals ist heute keine Lungenheilanstalt mehr, sondern ein Ort für behinderte Menschen.

Alle Kinder in dem heim wurden mit "Schlauch schliucken" bestraft, wenn sie nicht aufessen wollten. Ich vermute, dass diese At der Bestrafung eine Spezialität dieses einen Arztes war und in anderen Heimen nicht praktiziert wrude.

Damals ging es wohl dem gesamten Personal nur darum, die Kinder körperlich wieder auzupäppeln. Eine seelische Betreuung hat nie stattgefunden. Damals konnten die Kinder wegen der fehlenden Mobilität der Eltern auch nur selten besucht werden. Seelische Schäden, da spreche ich aus Erfahrung, konnten da nicht ausbleiben. Aber das ist vielleicht ein Thema weiterer "Meta-Geschichten".

Falls ihr weitere Fragen habt, beantworte ich sie gern.

Liebe Grüße
nati

 

Hallo nati!

Ich finde es gut, daß Du dieses traumatische Erlebnis aufgeschrieben hast, und ich finde auch, Du hast dieses Erlebnis als Geschichte gut hinbekommen. Daß das oft schwierig ist, weiß ich aus eigener Erfahrung, umso mehr fällt es mir bei dieser Geschichte positiv auf. :)

Ich hätte mir nur gewünscht, ein bisschen mehr zu erfahren – einerseits mehr über die sonstige Behandlung der Kinder, denn ich stelle mir vor, wenn es schon sowas wie diesen Schlauch gab, gab es wohl auch noch andere »nette« Behandlungsmethoden. Andererseits hätte ich gern gewußt, wie lange Zeit die Kinder dort verbracht haben und ob die Eltern manchmal zu Besuch kamen oder ob sie ganz dem Personal ausgeliefert waren. – Gerade lese ich in Deiner Antwort, daß es aufgrund der fehlenden Mobilität selten Besuch gab – sowas sollte meiner Meinung nach unbedingt in die Geschichte, allerdings nicht nur erzählt, sondern zum Beispiel indem Du es als besonderes Ereignis zeigst, als ein Kind Besuch bekommt. Ich stelle mir vor, das muß schon ziemlich weh getan haben, wenn ein anderes Kind Besuch bekommt und man selbst nicht…
Und wie weit war dieses Heim denn von zuhause weg? Schickte man die Kinder vielleicht extra weit weg, damit sie nicht so oft besucht werden konnten und man die Bedingungen, unter denen sie behandelt wurden, besser verbergen konnte?
Aber das sind natürlich nur so Gedanken, wie gesagt, ist die Geschichte auch so schon rund.

Elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg gelten für sie noch uralte, strenge Regeln: Keine Sonne, kein Sport, viel Ruhe und immer alles restlos aufessen.
Besser gefiele es mir, wenn Du diese Informationen in die Geschichte einstreust, statt sie einfach so zu nennen. Außerdem waren es damals noch keine uralten, sondern wohl noch sehr aktuelle Regeln. Nach dem Krieg war ja überall dasselbe Personal wie währenddessen, wo hätten andere Ärzte und Schwestern herkommen sollen? Es gab vorm Krieg ja auch viele jüdische Ärzte (bei uns in Wien waren z.B. rund 3.200 von insgesamt ca. 4.900 Ärzten Juden, die entweder ermordet wurden oder nach Amerika oder sonstwohin ausgewandert sind), und dazu kam, daß die Universitäten ebenfalls »gesäubert« wurden, wodurch es dann auch nach dem Krieg weniger Jungärzte gab. So hätte man selbst dann, wenn man dies wollte, die Ärzteschaft und das Pflegepersonal nicht einfach auswechseln können – es waren einfach zu wenig da. (Ich recherchiere selbst schon seit einiger Zeit in der Richtung. ;))

Mit der Nennung des Namens habe ich Probleme. Ich habe über Erinnerungen geschrieben, die ich nicht beweisen kann. So kann ich schnell in den Rüf übler Nachrede kommen. Das Heim von damals ist heute keine Lungenheilanstalt mehr, sondern ein Ort für behinderte Menschen.
Solche Bedenken brauchst Du meiner Ansicht nach nicht haben. Es ist bekannt, daß im Zweiten Weltkrieg solche Methoden üblich waren, und auch, daß sie danach vielerorts noch bis weit in die Siebziger hinein angewendet wurden, weil ja eben das Personal immer noch dasselbe war. Ich würde sogar den richtigen Namen des Arztes nennen (ich nehme an, daß Du ihn verändert hast).
Was Du hier erzählst, hat ja mit dem heutigen Behindertenheim sicher nichts mehr zu tun, die Heimleitung wird eine andere sein und wahrscheinlich ja sogar der Name. Es wäre also bloß das Gebäude, auf das Du Rücksicht nehmen willst. Man braucht ja heute nicht so tun, als hätte alles Schlechte aus der Geschichte irgendwo ganz anders stattgefunden, bloß nicht in den heute noch existierenden Einrichtungen.
Wir haben hier auch ein Krankenhaus (heute Psychiatrie und Lungenheilanstalt), in dem während des Zweiten Weltkriegs viele Kinder und auch Erwachsene, die man als unwertes Leben bezeichnet hat, zu Tode behandelt und für Versuche mißbraucht wurden. Aber darüber schweigt man heute nicht mehr, sondern erfährt es sogar direkt in diesem Krankenhaus in einer permanenten Ausstellung.
Auch, daß sich die Zustände in diesen Anstalten nicht mit Kriegsende schlagartig geändert haben, sondern das noch Jahrzehnte gedauert hat, braucht niemand zu verschweigen, am allerwenigsten die Opfer selbst. Auch in meinem Kindergarten (ich bin 65 geboren) mußte man noch alles aufessen, selbst, wenn man dadurch den Mittagsschlaf versäumte; Erbrochenes mußte noch einmal gegessen werden (nein, man durfte nicht aufs Klo). Man legte dann das vorgekaute Essen am besten gleich wieder am Teller ab, dann ersparte man sich, den Dreck vom Fußboden mitzuessen, nachdem alles wieder in den Teller geschaufelt war. Zum Glück ist mir das nie passiert, ich bin nur manchmal zwei Stunden beim Essen gesessen.

Eine weitere Frage, die mich sehr interessiert hätte, und die ich gern in der Geschichte eingebaut sehen würde: Hat Meta ihren Eltern erzählt, was da mit ihr gemacht wurde? Ich würde das zum Beispiel für einen schöneren Schluß halten, als dieses »Auch beim nächsten Mal …«. Also entweder, wie sie es ihnen erzählt und deren Reaktion, oder die Überlegungen, warum sie es ihnen nicht erzählt, sondern stattdessen lieber in sich hineinfrißt. – Ist natürlich nur ein Vorschlag. ;)

So, dann hab ich noch drei Kleinigkeiten:

»Elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg gelten für sie noch uralte, strenge Regeln: Keine Sonne, kein Sport, viel Ruhe und immer alles restlos aufessen.«
– abgesehen davon, daß mir dieser erklärende Satz nicht gefällt, gehört »keine« klein, da nach dem Doppelpunkt kein vollständiger Satz folgt.

»Sie tut ihm leid.«
Leid

»„Wenn du die Bohnen nicht schlucken willst, muss du eben den Schlauch schlucken. Selbst Schuld.“«
– musstschuld.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Susi,

danke für deinen ausführlichen Beitrag. Wenn ich deine gesamten Anregungen und Gedanken in die Geschichte einflechten würde, wäre das ein Thema für ein Buch. Das würde den Rahmen der Geschichte sprengen. Ich habe nicht so wahnsinnig viele Erinnerungen an die Zeit in dem Heim, denn ich war noch sehr jung. Drei Jahre. Die schlimmsten Erlebnisse haben sich nur festgesetzt. Und die negativen Gefühle, die mit der gesamten Zeit verbunden sind. Insgesamt ein Jahr hat das Martyrium gedauert. Erst Krankenhaus, dann Heim.

Ich möchte in der Geschichte nicht auf Metas Eltern eingehen, denn dann wäre die Geschichte noch trauriger. Ich sage ja, wenn ich alles verarbeiten würde, dann würde ein Buch entstehen…

Vielleicht werde ich hin und wieder weitere Geschichten über jene Zeit schreiben. Ich weiß es aber ehrlich gesagt noch nicht.

Die Erfahrungen, die du in dem Kindergarten gemacht hast, sind schrecklich. Mich hat es geschüttelt, als ich das gelesen habe. Es ist schlimm, wie damals mit Kindern umgegangen wurde. Und längst nicht alle Kinder haben das so einfach verkraftet.

Deine Recherchen zu dem Thema „Ärzte, Pflegepersonal etc.“ sind sehr interessant. Es ist ja bekannt, dass nach dem Krieg viele alten Nazis wieder zu Amt und Würden kamen. Nicht nur in der Ärzteschaft…Wann kann man mal lesen, was du zusammengetragen hast?

Danke auch für deine Korrekturen. Ich werde sie jetzt gleich durchführen.

Einen schönen Sonntag.

Nati

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Nati!

Wenn ich deine gesamten Anregungen und Gedanken in die Geschichte einflechten würde, wäre das ein Thema für ein Buch.
Oder auch für eine Serie. :)
Das würde den Rahmen der Geschichte sprengen.
Naja, ein bisschen länger dürfen Geschichten schon auch sein. Hier findest Du eine ganze Menge ziemlich langer Geschichten. Aber eine Serie halte ich für geeigneter, falls Du doch noch einmal mehr zu der Zeit schreiben willst. Ich würde es jedenfalls gerne lesen. :)
Ich habe nicht so wahnsinnig viele Erinnerungen an die Zeit in dem Heim, denn ich war noch sehr jung. Drei Jahre. Die schlimmsten Erlebnisse haben sich nur festgesetzt. Und die negativen Gefühle, die mit der gesamten Zeit verbunden sind.
Oft ist es so, daß man gerade die schlimmsten Dinge verdrängt, weil man sie in dem Alter ja noch nicht verarbeiten kann oder weil die Angst so groß war. Die Gefühle bleiben aber auch von den Dingen in einem drin, an die man sich nicht (so einfach) erinnern kann. – Dazu schreib ich Dir die nächsten Tage noch eine PM. ;)

Die Erfahrungen, die du in dem Kindergarten gemacht hast, sind schrecklich. Mich hat es geschüttelt, als ich das gelesen habe.
Naja, mir selbst ist das mit dem Nochmal-Essen ja nicht passiert – aber es wußten alle Kinder davon, und das hat Angst gemacht. Ansonsten war es aber recht schön in dem Kindergarten – jedenfalls war ich sehr gerne dort, viel lieber, als zuhause…

Es ist schlimm, wie damals mit Kindern umgegangen wurde. Und längst nicht alle Kinder haben das so einfach verkraftet.
»Einfach« hat sowas wohl niemand verkraftet, aber es ist ein Unterschied, ob man zuhause Eltern hat, von denen man sich geliebt fühlen kann, so etwas wie der Schlauch in Deiner Geschichte also eine Ausnahme ist, oder ob es nie etwas anderes als Demütigungen und gegen sich gerichtete Gewalt erfährt, die bloß in unterschiedlichen Formen auftreten.

Deine Recherchen zu dem Thema „Ärzte, Pflegepersonal etc.“ sind sehr interessant. Es ist ja bekannt, dass nach dem Krieg viele alten Nazis wieder zu Amt und Würden kamen. Nicht nur in der Ärzteschaft…
Ja, und bei manchen kommen sie wohl auch nie drauf. Wie viele Lehrer haben zum Beispiel dieses Gedankengut auch nach dem Krieg noch weitergetragen, weil sie es ja selbst so eingeprägt bekamen, daß es ihnen gar nicht mehr auffiel? Es gab im Krieg zum Beispiel Rechenaufgaben in Schulbüchern, die ungefähr so lauteten, wie dieses aus einem Mathematik-Lehrbuch von Adolf Dorner:
Ein Geisteskranker kostet den Staat täglich 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM, ... Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland etwa 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege. a) Was kosten diese insgesamt bei einem Satz von 4 RM, b) wie viele Ehestandsdarlehen zu je 1.000 RM könnten - unter Verzicht auf spätere Rückzahlung - von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?
Ein Lehrer, der sowas jahrelang unterrichtet hat, bekommt das nicht von heute auf morgen aus seinem Kopf, bloß, weil die Politiker den Krieg für beendet erklären. Die Rechenbeispiele sind verschwunden, aber die Art zu denken selbst, war noch lange präsent. Und wie sich das im Denken der Kinder festgesetzt hat, in einem Alter, wo sich sowas besonders gut festsetzt, ist dann noch ein ganz anderes Kapitel... - Und aus dieser Denkweise ergibt sich natürlich auch der Umgang mit Kranken, die entmenschlichte Behandlung der Kinder in dem Heim.
Wann kann man mal lesen, was du zusammengetragen hast?
Das wird noch eine ganze Weile dauern. In letzter Zeit entwickeln sich alle meine Geschichten zu Langzeitprojekten, aber ich hoffe, daß das zu einer Qualitätssteigerung beiträgt. In meiner Geschichtenliste ist nämlich eine Menge viel zu schnell hingeschriebener Mist …

Alles Liebe,
Susi :)

 

Hallo Susi,

die Serie an geschichten entsteht sehr langsam,ist aber in Arbeit.
Wir sollten unsere Diskussion evtl. privat forsetzen. Was meinst du?

Liebe Grüße
nati

 

Hallo nati,
mich hat deine Geschichte sehr berührt. Einmal finde ich sie stilistisch sehr gut, sehr schön erzählt und lässt sich schön lesen (ich habe überhaupt keine Verständisprobleme irgendwelcher Art gehabt, die Überarbeitungen müssen sich also wirklich gelohnt haben) -
andererseits finde ich den Inhalt sehr aufwühlend. Ich glaube, solche Verletzungen von Erwachsenen an schutzbefohlenen Kindern wurden noch viel zu wenig öffentlich gemacht. Ich denke allerdings, dass sich der Geist diesbezüglich geändert hat, und während "früher" soetwas kaum als Grausamkeit angesehen wurde, siehst du ja, wei entsetzt hier alle davon sind.
Leider muss ich sagen, dass Ähnliches (man nennt das übrigens sehr treffend "orale Vergewaltigung" - und Metas Erlebnis dürfte ein sehr extremes Beispiel sein) noch vor nicht sehr langer Zeit gang und gäbe war: Ich habe von Leuten, die so alt sind wie ich (24) glaubhaft versichert bekommen, noch sie noch im Hort (Betreuung nach der Schule) wären dazu gezwungen wurden, selbst nach Erbrechen noch weiterzuessen, u.U. auch das Erbrochene. Gottseidank habe ich derartig Grausames nie erlebt - aber ein Kampf ums Aufessen war es im Kindergarten und Hort doch jedesmal, auch wenn das Schlimmste, was passieren konnte, ein ärgerlicher Blick oder das Streichen des Nachtischs waren...
Mir fällt gerade ein, dass es da sogar ein Kapitel im Eulenspiegel gibt, in dem er als Kind mit anderen Kindern von einem Nachbarn gezwungen wurde, immer weiter und weiter zu essen, bis sich alle am Tisch erbrachen... - solche Grausamkeiten gibt es also wohl schon sehr lang. Zeit, sie endlich auszurotten, und ich glaube, die Sicht des Kindes darzulegen, ist ein guter Schritt dazu.

Auch das mit den seltenen Besuchen aufgrund mangelnder Mobilität ist noch nicht allzu lange Vergangenheit (allerdings IST es jetzt wohl wirklich Vergangenheit, Gottseidank!). Ich war auch im Alter von 4 oder 5 jahren im Krankenhaus. Zwar nur drei Wochen und im Gegensatz zur Geschichte waren Ärzte und Schwestern auch sehr lieb zu mir, aber es erschien mir - die ich vorher noch nie länger als eine Nacht von zuhause wegwar, trotzdem wie eine Ewigkeit. Die Zugverbindungen in die Stadt, in der ich lag, waren schlecht und Besuchszeit war genau EINMAL IN DER WOCHE FÜR EINE STUNDE(!) Meine Eltern haben sich genau einmal den Trabant meines Großvaters geliehen, um mich zu besuchen. Die Trennung war dann aber hinterher so schlimm für beide Seiten, dass meine Mutter, die damals schwanger war, tagelang geweint hat und mein Vater deswegen (zu Recht!) beschloss, es sei besser für alle, sich das nicht noch einmal anzutun. Naja, gehörte jetzt vielleicht nicht so unbedingt in die Diskussion.
Aber aufgrund dessen konnte ich Metas Situation wahrscheinlich einigermaßen gut nachvollziehen...

Nochwas anderes: ich weiß nicht, ob es dich interessiert, aber es gibt einen sehr guten DDR-Spielfilm, der in einer Lungenheilanstalt (allerdings für Erwachsene) in der Nachkriegszeit spielt. Verschiedene Dinge, die hier in der Diskussion genannt wurden, klingen auch da mit an (Nazi-Vergangenheitz einiger Ärzte), merkwürdige Heilmethoden (Hundefett). Ich kann natürlich verstehen, dass du vielleicht von soetwas nie wieder etwas sehen willst. Allerdings ist es ein optimistischer, zur Toleranz zwischen verschiedenen Weltanschauungen aufrufender und trotz ernstem Grundton sogar hin und wieder witziger Film. Der Titel ist "Einer trage des anderen Last".

 

Hallo Elektra,

ich danke dir für deinen Beitrag und die netten Worten über den Stil meiner Erzählung. Es war damals wirklich eine schlimme Zeit. Und ich finde es gut, wenn die Erzählung Mut macht, eigene Erinnerungen und Erfahrungen hier aufzuschreiben. So können wir aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen.

Lieben Guß
nati

 

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