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Grüne Bohnen
Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel und taucht den Park mit seinen alten Eichen in ein gleißendes Licht. Die Kinder in dem Heim mitten im Park schauen sehnsüchtig nach draußen. Wie gern würden sie die Sonnenstrahlen fangen und die Wärme der Sommers auf ihrer bleichen Haut spüren. Doch die Sonne ist für sie strengstens verboten. Die Kinder haben Tuberkulose. Elf Jahre nach dem 2. Weltkrieg gelten für sie noch uralte, strenge Regeln: keine Sonne, kein Sport, viel Ruhe und immer alles restlos aufessen.
Meta steht an ihrem gewohnten Platz am Fenster im Gemeinschaftsraum und blickt träumerisch in den Park. Ihre Augen suchen ihre Freunde, die Eichhörnchen, doch in dem dichten Blätterwerk kann sie die kleinen Kobolde nicht entdecken. Ihre Blicke durchstreifen den Park, bis sie an dem Beet hängen bleiben, in dem die Schwestern Gemüse ziehen. Jetzt sind drei von ihnen damit beschäftigt, zu ernten. „Oh nein“, denkt Meta schaudernd, „nicht schon wieder. Bitte, bitte lieber Gott, mach, dass es heute keine grünen Bohnen gibt.“
„Hast du das gesehen? Die Schwestern pflücken Bohnen.“ Peter ist neben Meta getreten und starrt auf das Gemüsefeld. „Kannst du nicht ganz schnell krank werden und Fieber bekommen? Dann stecken dich die Schwestern ins Bett und du brauchst kein Mittag zu essen.“
Peter ist Metas einziger Freund in der Lungenheilanstalt. Mit seinen fünf Jahren ist er nur wenig älter als sie und kaum größer.
„Wie mache ich Fieber?“, fragt Meta hoffnungsvoll. Ihr Magen verkrampft sich bei dem Gedanken an grüne Bohnen.
„Keine Ahnung, wäre aber gut.“ Peter weiß, was Meta nach dem Essen erwartet. Sie tut ihm Leid.
Meta spürt das Mitgefühl, Tränen laufen ihr über die Wangen. „Warum muss es Bohnen geben? Ich hasse sie!“ Sie schaudert. Der Schlauch... Nicht daran denken, nur nicht daran denken.
Die Angst vor dem Mittagessen hält Meta den ganzen Morgen gefangen. Sie mag nicht mit den anderen spielen, sitzt nur in einer Ecke und denkt an den Schlauch. Peter kommt ab und zu und versucht, sie zum Spielen zu überreden, aber Meta schüttelt nur still den Kopf.
Unaufhaltsam rücken die Zeiger der Uhr weiter. Meta weiß, wenn sie ganz oben aufeinander liegen, wird die Glocke zum Mittagessen rufen. Sie betet, dass die Uhr stehen bleibt, aber unbeeindruckt streichen die Zeiger im Rhythmus des steten Tick-Tack über das Zifferblatt.
Jetzt läutet die Glocke. Mit einem schrillen Singsang ruft sie die Kinder in den Speisesaal. Meta bleibt in ihrer Ecke sitzen und rührt sich nicht. „Nun komm schon“, fordert Peter sie auf, „du machst es nur schlimmer, wenn du nicht zum Essen kommst. Vielleicht gibt es ja auch keine Bohnen“, fügt er hoffnungsvoll hinzu.
Die Hoffnung wird betrogen. Auf den dampfenden Tellern häufen sich Kartoffelbrei, eine Frikadelle und eine große Portion grüne Bohnen. Meta setzt sich auf ihren Platz und starrt auf den grünen Berg. Sie weiß, dass es keinen Zweck hat, die Schwestern um ein anderes Gemüse zu bitten. „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt, und zwar alles. Du willst doch wieder gesund werden.“ Wie oft hat sie das schon gehört. Man sieht es den Kindern am Tisch an, dass alles aufgegessen werden muss. Sie sind viel zu dick für ihr Alter. Doch das ist gewollt. „Hochkalorische Diät“, hat Meta einmal aufgeschnappt. Sie weiß nicht, was das genau heißt, aber es hat wohl etwas mit dem vielen Essen zu tun.
Meta versucht, die Bohnen zu übersehen und macht sich über den Kartoffelbrei und die Frikadelle her. Es ist still im Speisesaal, man hört nur das Klappern des Bestecks und das Kauen der Kinder. Sprechen ist beim Essen verboten.
Eine halbe Stunde haben die Kinder Zeit, die riesige Portion zu vertilgen. Dann beginnt die Inspektion. Die Schwestern gehen von Tisch zu Tisch und schauen, ob noch Reste auf den Tellern sind. Bei Meta bleibt Schwester Gertrud stehen. „Du hast deine Bohnen nicht gegessen.“ Meta wird puterrot und beginnt vor Angst zu schwitzen. „Ich mag keine Bohnen.“
„Du weißt, dass mich das überhaupt nicht interessiert. Strafe muss ein. Komm mit.“
Schwester Gertrud packt Metas Hand und zieht das Mädchen vom Stuhl und hinter sich her durch den Speisesaal. Den anderen Kindern stockt der Atem. „Meta muss zum Schlauch schlucken“, hört man sie verschreckt wispern, „arme Meta.“
Meta weint und versucht mit aller Kraft, sich aus Schwester Gertruds Hand zu winden, doch die umklammert sie mit eisernem Griff. Gnadenlos zieht sie das Kind durch den Flur, bis sie vor einer weißen Tür stehen bleibt. Sie klopft an und nach einem kaum hörbaren „herein“ stehen sie vor Doktor Wegner. „Ja, wen haben wir denn heute? Das ist ja unsere Meta. Gab es wieder grüne Bohnen?“ Doktor Wegner ist klein und runzelig. Meta mag ihn nicht, keines der Kinder mag ihn. Peter hat ihn „Doktor Schrecklich“ genannt, doch das dürfen die Schwestern und der Arzt nicht hören.
„Du weißt doch, dass hier gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Freudig lächelnd wendet er sich an Schwester Gertrud. „Dann setzen Sie sich mal hin und nehmen die Kleine auf den Schoß. Sie kennen das ja.“
Schwester Gertrud setzt sich auf einen harten Stuhl mit gerader Lehne und zerrt die sich wild wehrende Meta auf ihren Schoß. Ein Arm legt sich wie einen Schraubstock über Metas Bauch und presst dabei die Arme des Kindes an den Körper, so dass es sich nicht mehr bewegen kann. Mit der zweiten Hand reißt sie Metas Mund auf. Doktor Wegner schiebt blitzschnell ein Distanzstück zwischen die Zähne. Meta kann ihren Mund nicht mehr schließen und weint bitterlich.
„Wenn du die Bohnen nicht schlucken willst, musst du eben den Schlauch schlucken. Selbst schuld.“ Doktor Wegner zieht aus einem weißen Kasten einen langen Schlauch, den er liebevoll betrachtet. „Dann wollen wir mal.“ Mit schlafwandlerischer Sicherheit stößt er Meta den Schlauch in den Mund. Als er ihre Kehle erreicht, muss sie würgen, ihr Magen rebelliert, Tränen rinnen die Wange runter. „Schlucken, meine Liebe, schlucken.“ Sie kann nicht anders. Sie schluckt, und Zentimeter für Zentimeter verschwindet der Schlauch in Metas Mund, rutscht die Speiseröhre hinunter, erreicht den Magen. Meta würgt, der Hals schmerzt, ihr ist übel. „Na, ist das schön? Dann lassen wir den Schlauch noch ein bisschen drin.“ Doktor Wegner zieht ein wenig am Schlauch, lässt ihn hoch und runter gleiten. Schweiß steht auf Metas Stirn, sie müsste sich übergeben, aber es geht nicht.
„Es reicht.“ Schwester Gertrud sieht Doktor Wegner beschwörend an. Er seufzt, spielt noch einmal mit dem Schlauch, zieht ihn dann langsam und genüsslich aus Metas Hals.
„Ich werde dafür sorgen, dass es bald wieder grüne Bohnen gibt. Entweder du isst endlich das Gemüse, oder wir sehen uns bald wieder. Hast du verstanden?“ Meta nickt, ihr Hals ist geschwollen, sie kann nicht sprechen. Aber so sehr sie sich bemüht, auch beim nächsten Mal bekommt sie die grünen Bohnen einfach nicht hinunter…