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Grau

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20.01.2015
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Grau

Er ist wieder gewachsen. Ich sehe ihn bereits von der Einfahrt aus, sein Auge beobachtet mich durch das Küchenfenster, starr und grau. Sein Blick folgt meinen Schritten bis zur Tür, dann wälzt er sich langsam in Richtung Flur. Ich höre das Schleifen seines massiven Körpers über den Holzboden selbst von hier draußen. Groß ist er. Und grau. Und immer da.

Auch früher war er das schon gewesen, seit frühester Kindheit ein treuer Begleiter. Nur kleiner war er damals. Regelrecht winzig. Ich nannte ihn, dank meiner schon immer sehr schwachen Fantasie, einfach nur den kleinen grauen Mann. Damals hatte ich mir noch nicht viele Gedanken über ihn gemacht, er war schon immer ein Teil meines Lebens gewesen. Wenn ich am Morgen erwachte dann stand er auf meiner Brust und starrte mich an. Wenn ich in den Kindergarten oder die Schule ging, fand ich ihn manchmal in meiner Hosentasche oder meinem Federmäppchen wieder. Dort kauerte er, still beobachtend und traurig. Am Abend, wenn ich im Bett lag, dann kroch der kleine graue Mann manchmal in mein Ohr, legte sich hinein als wäre es ein Schlafsack und weinte. Und wenn er weinte, dann weinte ich auch.
Seine Anwesenheit war für mich immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, wenn auch eine merkwürdige.

Er ist wütend. Ich habe die Tür noch nicht einmal geöffnet, aber ich höre ihn durch seine riesigen Nasenlöcher schnaufen. Ab und an entweicht ihm ein grollendes Knurren, das ihn klingen lässt wie einen gewaltigen Hund, der nur darauf wartet, mich endlich in Stücke reißen zu können. Er wird langsam unruhig. Und immer grauer. Und immer größer.

Meine Eltern erzählten damals oft, ich hätte einen imaginären Freund. Aber ich hatte mir den kleinen grauen Mann niemals nur eingebildet. Und ein Freund war er mir auch nicht. Er war ein ständiger, stiller Weggefährte, ein Schatten. Eine lange Zeit lang blieb er klein, während ich immer größer wurde. Ich begann, seine Anwesenheit zu verdrängen. Manchmal vergingen Tage oder Wochen, bis ich ihn wieder in irgendeiner Schublade oder Jackentasche fand und irgendwann hatte ich ihn ganz vergessen. Aber wirklich weg war er nie.
Und eines Tages, ich war mittlerweile erwachsen und bei meinen Eltern ausgezogen, stand er plötzlich wieder vor mir. Er sah immer noch so aus wie früher, aber er war größer geworden. So groß wie ich.

Ich öffne die Tür. Er liegt flach auf dem Bauch im Flur, den Kopf nach oben gestreckt und starrt mich aus seinen riesigen grauen Augen an. Es ist nicht mehr nur Traurigkeit darin. Der graue Mann hasst mich. Ich gehe zwei Schritte, schließe die Tür hinter mir und hänge meinen Mantel an die Garderobe. Er schnauft, knurrt, sein starrer, wütender Blick folgt mir, aber für einen kurzen Moment kann ich mich abwenden. Dann beginne ich meinen Weg zur Treppe. Ich muss an ihm vorbei, auch wenn es schwer fällt. Er ist mittlerweile so groß, dass er kaum noch in das Haus passt. Sein Kopf füllt fast den gesamten Flur aus und einen seiner gewaltigen Arme hat er verkrümmt auf der Treppe zum Schlafzimmer abgelegt. Ich bin so müde. Und er ist so groß. Und so grau.

Eine Zeit lang begleitete er mich wieder auf Schritt und Tritt. Als Kind hatte mich seine ständige Anwesenheit niemals sonderlich gestört, aber nun fing ich an, mich vor dem grauen Mann, der nicht mehr klein war, zu fürchten. Er begleitete mich zu meinen Freunden, die ihn nicht sehen konnten, zu meinen Eltern, denen ich seine Anwesenheit aus Scham verschwieg und zu den Ärzten, die ihn nicht sehen wollten und mir im Gegenzug Medikamente verschrieben, die ich nicht nahm. Niemand sah ihn, aber er war immer da. Er weinte und das machte mir Angst, und je mehr ich ihn fürchtete umso größer wurde er. Nach einer Zeit war er so groß und so schwer, dass er begann, sich mit seinen gewaltigen Händen auf meine Schultern zu stützen, während er seinen aufgedunsenen grauen Körper hinter sich her zerren musste. Und je mehr ich ihn stützte, desto kleiner wurde ich selbst.

Der graue Mann öffnet den Mund, so als würde er mich einladen, in ihn hineinzusteigen. Seine Zähne sind wie farblose, stumpfe Steine und in ihm ist nichts als Finsternis und Leere. Er will mich verschlingen, will dass ich genau so finster und grau und leer werde wie er. Aber nicht heute. Ich klettere über seine Nase seinen Kopf hinauf, bahne mir den Weg über die rechte Schulter und erklimme seinen Arm. Immer nur hinauf, aufwärts, ins Schlafzimmer, auch wenn es meine letzten Kräfte kostet. Der graue Mann bleibt liegen. Wartend. Knurrend. Schnaufend. Ich fühle mich unendlich müde, verbraucht, erschlagen von seiner Präsenz. Er ist zu groß geworden. Er ist ein Riese. Und so grau.

Der graue Mann wuchs stetig, jeden Tag. Irgendwann wurde er so groß, dass sich sein monströser Körper in meinem Haus verkeilte und er mich nicht mehr jede Sekunde begleiten konnte. Ich schlief jede Nacht weniger, stürzte mich in die Arbeit, nutzte jeden wachen Moment um ihm zu entfliehen. Aber letzten Endes führte mein Weg immer wieder zu ihm zurück. Und wenn ich heimkehrte, dann wartete er schon auf mich.

Ich lege mich ins Bett, so wie ich bin. Ich bin klein und müde und schrumpfe mit jedem Tag etwas mehr in mir zusammen. Der graue Mann wächst immer weiter in meinem Haus und irgendwann wird er so groß sein, dass er mich einfach mit seinem kalten, tonnenschweren Leib erdrückt. Es dauert noch, bevor ich schlafen kann, so wie jeden Abend.
Er ist noch nicht soweit. Aber er kommt.
Ich höre ihn, wie er sich mühsam im Flur umdreht und sich dann die Treppe hinaufwälzt. Ich höre sein Knurren und sein Schnaufen und seinen zornigen Herzschlag, der den Boden meines Hauses erzittern lässt. Langsam presst er seine graue Form, die sich kaum noch erkennen lässt, durch die Tür des Schlafzimmers und legt seine Hände über das Fenster, damit kein einziger Lichtstrahl mehr hereinfallen kann. Hier in der Finsternis liege ich und warte, bis er seinen gewaltigen grauen Kopf neben mir auf dem Fußboden abgelegt hat. Der graue Mann weint nachts schon lange nicht mehr. Aber er spricht mit mir. Ich spüre sein kaltes Schnaufen ganz nah an meinem Ohr und dann sagt er mit seiner grollenden, riesenhaften Stimme die drei Worte, mit denen er mich jeden Abend aufs Neue der Leere der Nacht überlässt: „Du bist allein.“

Ich bin allein. Und so müde. Und so grau.

 

Hallo Knoboter,

Einsamkeit kann einen Menschen zermürben, vor allem, wenn die Einsamkeit nicht einer gewollten Lebensweise entspringt. Imaginäre Begleiter sind, besonders in Kindertagen, nichts Seltenes. Meine Tochter hatte ein Mädchen an ihrer Seite, die sogar einen Namen hatte, den ich aber inzwischen vergessen habe. Das Mädchen war verschwunden, als sie etwa sechs war. Später konnte sie sich selbst nicht mehr an sie erinnern. Manche sehen darin eine Erinnerung an frühere Leben. Vor allem, weil sie Geschichten erzählen konnte, die einer kindlichen Fantasie in diesem Alter nie entspringen können. So meinen wir Erwachsenen.

Mir gefällt eine Stelle deines Textes recht gut:

Er begleitete mich zu meinen Freunden, die ihn nicht sehen konnten, zu meinen Eltern, denen ich seine Anwesenheit aus Scham verschwieg und zu den Ärzten, die ihn nicht sehen wollten und mir im Gegenzug Medikamente verschrieben, die ich nicht nahm.

Hier steckt ja für mich ein versteckter Hilfeschrei drin. Leider ergebnislos.
Weiter unten dann glimmt ein Hoffnungsschimmer auf, sich der Einsamkeit zu entziehen:

Aber nicht heute. Ich klettere über seine Nase seinen Kopf hinauf, bahne mir den Weg über die rechte Schulter und erklimme seinen Arm. Immer nur hinauf, aufwärts, ins Schlafzimmer, auch wenn es meine letzten Kräfte kostet.

Aber auch hier verpufft die Hoffnung auf Änderung.

Was ich schade finde, ist die Ausweglosigkeit deines Textes. Dein Prot. ist in dieser Einsamkeit gefangen. Hat er den grauen Begleiter eigentlich schon als Kind so empfunden? Ich glaube nicht.
Dein Text lässt den Leser zumindest nachdenklich zurück. Den sollte niemand lesen, der Suizid gefährdet ist. Irgendwie hat er mich traurig gemacht.

Er ist wütend. Ich habe die Tür noch nicht einmal geöffnet, aber ich höre ihn durch seine riesigen Nasenlöcher schnaufen. Ab und an entweicht ihm ein grollendes Knurren, das ihn klingen lässt wie einen gewaltigen Hund, der nur darauf wartet, mich endlich in Stücke reißen zu können. Er wird langsam unruhig.

Das passt von der Logik nicht. Er ist wütend und schnauft und dann wird er langsam unruhig? Nee. Die Entwicklung müsste umgekehrt sein.

Obwohl ich den Text nicht sonderlich mochte, hab ich ihn doch gern gelesen.

Schönen Gruß
khnebel

 

Die Hauptfrage, die ich mir gerade stelle, ist folgende: Welche psychologische Störung verbirgt sich hinter diesem grauen Mann? Meine Antwort: Selbsthass, Depressionen, Einsamkeit.

Zumindest habe ich die Zeichen in diese Richtung gedeutet. Er lenkt sich selbst von der Existenz des grauen Mannes ab, in dem er sich in Arbeit stürzt, ist ständig Müde und fühlt sich allein. Dazu erfahren wir, dass der Kerl eine Weile lang weg war (Vielleicht ein Hoch im Leben des Protagonisten) und nun wieder da ist. Wir erfahren, dass er in einem Haus lebt, aber nicht, ob jemand bei ihm ist. Lässt für mich folgende Schluss zu: Er hat eine Familie gehabt, die ihn verlassen hat, was den grauen Riesen zur Rückkehr bewegte.

An einen imaginären Freund glaube ich nicht, denn den erschaffen sich Menschen, die sich alleine fühlen und soziale Interaktion wünschen. Da bastelt man sich keine Gruselfigur, vor der man sich fürchtet, sondern eine Person, die den Idealen des perfekten Freundes entspricht.

Wie khnebel fand ich diese Stelle klasse:

Er begleitete mich zu meinen Freunden, die ihn nicht sehen konnten, zu meinen Eltern, denen ich seine Anwesenheit aus Scham verschwieg und zu den Ärzten, die ihn nicht sehen wollten und mir im Gegenzug Medikamente verschrieben, die ich nicht nahm.

Beschreibt für mich die klassische Depression. Niemand kann hinter die Augen eines kranken Menschen blicken und vielen Leuten erzählt man nicht einmal davon. Wenn man Ärzten davon erzählt, haben die natürlich eine Erklärung dafür, weil - klar - sie Ärzte sind und wissen, was zu tun ist. Aber das wollen Menschen nicht hören. Die wollen, dass man ihnen sagt, dass sie etwas wirklich grässliches haben und hätten es am liebsten, wenn man ihnen auf den Rücken klopft, sie drückt und alle anderen nach Hause schickt, um sich nur um die Person mit ihrer exotischen Krankheit zu kümmern.

Vermutlich ist das aber eher der Zyniker, der es sich in meinem Kopf bequem gemacht hat und Pfeife raucht. *g*

Das passt von der Logik nicht. Er ist wütend und schnauft und dann wird er langsam unruhig? Nee. Die Entwicklung müsste umgekehrt sein.

Find ich nicht. Ich lese da schräge Gedanken wie Selbsthass, die dem Prota in dem Kopf steigen und die hast du auch einen Absatz vorher erwähnt. Ich glaube, das dem Kerl allmählich Gedanken kommen, die mit der Beschleunigung seines Körpers und den unmittelbaren Folgen eines Aufpralls auf Asphalt zu tun haben.

Ich fands düster und beklemmend - dennoch ziemlich gut.

 
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Hallo Knoboter,

Eine wirklich graue Geschichte, gut geschrieben, aber unendlich traurig.
Ob der Prot an einer klassischen Depression leidet, bezweifle ich. Dann wäre er ohne Medikamente (die er ja nicht nimmt) kaum in der Lage seine Freunde zu besuchen und sich in die Arbeit zu stürzen.

Er sagt: "Wenn ich heimkehre, dann wartet er schon auf mich."
In der Zwischenzeit war der Graue also nicht präsent. Vermutlich wurde der Prot durch die Arbeit und andere Menschen abgelenkt.

Wie khnebel erwähnt hat, spielt sicher Einsamkeit eine grosse Rolle.
"Du bist allein", sagt der graue Mann mit seiner riesenhaften Stimme und überlässt den Prot mit diesen Worten jeden Abend auf Neue der Leere der Nacht.

Vielleicht wurde er in seiner Kindheit und auch später zu wenig beachtet, geschätzt und geliebt.
In unserer Gesellschaft gibt es viele Menschen, die deshalb verkümmern und draufgehen.

Ich wünsche es dem Prot, dass er diese Erfahrung des Angenommenseins machen darf und ihm jemand über den Weg geschickt wird, der ihn aus seiner Isolation und aus seinem Gefängnis befreien kann.

Liebe Grüsse
Marai

 
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Hallo khnebel und danke für dein Feedback.

Obwohl ich den Text nicht sonderlich mochte, hab ich ihn doch gern gelesen.

Ich nehme das jetzt mal vorsichtig als Kompliment an. Ich weiß, dass der Text sehr sperrig ist, sehr pessimistisch und traurig. Ich wollte in diesem Fall tatsächlich bewusst kein "Happy End" einbauen, das gehört für mich zu dieser speziellen Geschichte nicht dazu. Ich kann aber verstehen, wenn das den Leser nicht unbedingt begeistert.
Über deine Anmerkung zu "Er wird langsam unruhig" habe ich einige Zeit nachgedacht, im Endeffekt steht dieser Teil des Absatzes einerseits aus stilistischen Gründen am Ende, andererseits war dieser spezielle Satz für mich eher auf das große Ganze bezogen. Dass der Graue in dieser speziellen Szene bereits mehr als unruhig ist, ist klar. Aber ich glaube NWZed hat meinen Grundgedanken ganz gut interpretiert.


Hallo NWZed und danke Marai,
schön von euch zu hören, danke für die Kommentare.

Ich bin mir selber nicht sicher, wer von euch nun recht hat, ob das wirklich eine klassische Depression ist, oder nicht. Auf jeden Fall ist es eine tiefe, furchteinflößende Einsamkeit und Traurigkeit, die im Haus des Erzählers wohnt.

Ich lese da schräge Gedanken wie Selbsthass, die dem Prota in dem Kopf steigen und die hast du auch einen Absatz vorher erwähnt. Ich glaube, das dem Kerl allmählich Gedanken kommen, die mit der Beschleunigung seines Körpers und den unmittelbaren Folgen eines Aufpralls auf Asphalt zu tun haben.

Das glaube ich auch.

Danke euch dreien.
Gruß,
Knoboter

 
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Hallo Knoboter,

für mich war das eigentlich keine Geschichte, sondern eher etwas in Richtung ... Ich weiß nicht: Sinnbild? Oder darf man da Parabel sagen?
Aber das meine ich keineswegs negativ.
Es ist gut und stimmig geschrieben und durch den scherfälligen Duktus mit den kurzen Sätzen, den Wortwiederholungen ("Und" so oft am Satzanfang, meist zweimal hintereinander) spürt man die Schwere, die der graue Mann auf den Ich-Erzähler ausstrahlt.
Auch dadurch, dass du die Gegenwart immer fettgedruckt geschrieben hast - als der graue Mann groß, fett und so bedrohlich ist - hat diesen Eindruck fabelhaft bestärkt. ;) :) Das fand ich eigentlich mit am gelungendsten (hab ich das richtig geschrieben?). Die Art, Texte zu "graphisieren" mag ich sehr.

Ich fand es lustig, dass khnebel geschrieben hat, er würde den Text niemandem empfehlen, der suizidgefährdet ist (sinngemäß). Wahrscheinlich ist das sogar die richtige Konsequenz, ich kenn mich da nicht aus ... Aber als jemand, der nicht suizidgefährdet ist, aber nur in einem mehr oder weniger "gesunden Maß" zeitweise traurig, muss ich sagen: Gerade, wenn's mir nicht gut geht, würde ich deinen Text gerne lesen. Es hat etwas von "sich verstanden fühlen". In solchen Momenten , wenn es einem schwer fällt (mir zumindest), zu beschreiben und mit Worten auszudrücken, wie es einem geht/was nicht stimmt, dann ist dein Text genau das, was man braucht.

So, das war mein Ketchup ... Äh Senf dazu. ;)

Viele Grüße
Tell

 

Hallo Tell, danke für deinen netten Kommentar.

Es hat etwas von "sich verstanden fühlen

Das ist schön zu hören, ich hatte gehofft, dass sich der ein oder andere hier mit dem Inhalt meiner "Parabel" identifizieren kann. Dein Kommentar hat für mich definitiv auch etwas von sich verstanden fühlen. Gerade auch, weil dir meine Absicht mit der visuellen Aufteilung des Textes aufgefallen ist. Freut mich.

Gruß, Knoboter

 

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